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Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Praxis und Analyse: Entspannend - spannungsgeladen

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Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft

Heft Nr. 14 (1 / 2011), 13. Jahrgang, Nr. 1

i s p a i s p a i s p a i s p a i s p a e.V e.V e.V e.V e.V...

Entspannend -

Spannungsgeladen

Eckert

Zur Soziologie mobiler Sanitäranlagen (MOTIN)

Nachtrag

ILLIS (Beiträge Nr. 11)

ISSN 1438 - 9525 Printausgabe

Beiträge zur Sozialwissenschaftlichen Praxis und Analyse

Dokumente

RESOLUTION DER KOMMUNARDEN (Bertold Brecht)

(2)

Inhalt

Vorwort / Redaktion

Zur Lage der Dinge 3

Martin Eckert

Zur Soziologie mobiler Sanitäranlagen im Stadtraum von Berlin.

Die „Mobile Toiletten-Installation“

(MOTIN) 6

Nachtrag

Beiträge 11, 1/2008

ILLIS: Individual-Luxus-Living-

Segmentierung 27

Dokumente Resolution der

Kommunarden 29

Die „Beiträge“ werden herausgegeben vom Institut für Sozialwissenschaftliche Praxis und Analyse e.V. (ispa e.V.).

Die „Beiträge“ sind ein Forum für die kritische sozialwissenschaftliche Debatte.

Sie erscheinen unregelmäßig fortlaufend.

ispa e.V. lädt zur Einsendung von Manuskripten ein (mit wissenschaftlicher Zitierweise, Bibliographie am Ende des Textes, ausge- druckter Text sowie zusätzlich für IBM- kompatible PC’s lesbar in Word/Winword und .txt).

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht immer die Meinung der Redaktion wieder.

Redaktion:

Richard Zweig (v.i.S.d.P.), Sabine Salter, Karin Nester, Manuel Alfons

Redaktions- und Postanschrift:

ispa e.V.

Postfach 540215 D-10042 Berlin +49-(0)30-93937724 [email protected] www.ispa-ev.de

Konto für Spenden und Erstattungen Kto-Nr. 1005415334

BLZ 12030000 (DKB AG)

© 2011, ispa e.V., Berlin Eigendruck

Alle Rechte vorbehalten ISSN 1438 - 9525 (Printausgabe)

Impressum

Alle Photos: Martin Eckert, außer Bildnachweis

Die Grafik auf der Titelseite zeigt eine Touristengruppe auf Erkundungen in Berlin, die MOTIN immer im Blick.

Im Internet sind unsere Publikationen als pdf-Dateien frei zugänglich - mit dem Extra:

die grafischen Elemente, die die „Beiträge“

jeweils begleiten, sind dort im „Original“

(web-Auflösung, in Farbe) zu sehen!

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Vorwort

Die Redaktion

In Zeiten massiver gewalttätiger Aus- schreitungen wie z.B. in GB scheint es obsolet, über solch eine triviale Beobach- tung wie die sich vehement ausbreitende Existenz von mobilen Toilettenhäuschen zu sinnieren. Und es wirkt stark konstru- iert, wenn mensch nun auch noch einen Zusammenhang herstellen will zwischen ausbrechender, besser: ausgebrochener (da mehr oder weniger vorhersagbar)

„Jugendgewalt“ und kleinteiliger Erobe- rung städtischen Raums durch gewöhn- liche Objekte. Wäre da nicht etwas We- sentliches, gar Prinzipielles: Wenn mensch Alltagserfahrungen macht, die- se aufgrund seiner eigenen Beobachtun- gen versucht, zu abstrahieren - oder anders gesagt: in der Lage ist, Gesamt- zusammenhänge zu erkennen und je ein- zelne soziale Tatbestände resp. Vor- kommnisse einzuordnen -, und dabei zu neuen Erkenntnissen kommt, dann soll- ten wir näher hinschauen und die Beweg- gründe versuchen, zu ergründen. In GB war es vor den Gewaltexzessen im Au- gust diesen Jahres zu perversen gesell- schaftlichen (Reichtums-)Um- verteilungen gekommen - Und dies war bekannt. Mensch musste lediglich die Augen aufmachen resp. Nachrichten zur Kenntnis nehmen (Verarmung, Um- verteilung, KPW und Neoliberalismus / Thatcherismus sind eher abstrakt, daher der Umweg über Daten, um die soziale Tatbestände verdeutlichen zu können), die aufgrund des Datenmaterials derart

objektiv resp. wahr waren, dass selbst die GB-Medien sie nicht umdrehen konn- ten. Also: Augen auf und Fakten in Kon- texte einordnen. Der Schritt zu den MOTIN ist nicht weit: Augen auf (diesmal konkret bezogen auf das visu- elle Wahrnehmen) im Stadtbild und wir erkennen Tendenzen gesellschaftlicher Entwicklungen wie im Fall MOTIN:

Zwang zur Mobilität resp. Flexibilität, Kostensenkungen, ... Zugegeben, ein wenig konstruiert, aber bei einer Reduk- tion auf das Wesentliche kommen wir beidesmal zum Schluss, dass alltägliche Wahrnehmungen und Erfahrungen, ob

„objektive“ Informationen oder der „ei- gene“ Blick, uns helfen, die gesellschaft- liche Entwicklung eigenständig und „bes- ser“ verstehen zu können. Und dann ist da immer noch dier Erkenntnis: Nichts ist politischer als der Alltag!

Der Blick in die „gleichgestellten“

Printmedien (Die „Frankfurter Rund- schau“ und die „Berliner Zeitung“ hei- ßen z.B. unterschiedlich, der Nach- richtenteil ist nahezu identisch - der je anders geartete Titel der Tageszeitungen täuscht uns vor, es mit zwei verschiede- nen Zeitungen zu tun zu haben.) offen- bart uns trotz aller verblödungs- tendenziellen Bestrebungen dererseits immer wieder elementare politische Zu- sammenhänge. In den Ausgaben des 17.

Oktober wird den LeserInnen ein Bun- despräsident präsentiert, der seinen Be- ruf resp. sein gewähltes Amt dazu be- nutzt / missbraucht, in einer martialischen Pose einen Kämpfer darzustellen. Die Militarisierung der Gesellschaft ist weit fortgeschritten, offen ausgetragene Ge- walt - nicht nur bezogen auf die o.g.

Exzesse in GB - genauso wie latent vor-

oder: Zur Lage der Dinge

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handene und versteckte (häusliche) Ge- walt wird selten umfangreich, wissen- schaftlich und / oder „ordentlich“ analy- siert und in den meisten Fällen als Individualverhalten resp. Schichten- spezifikum abgetan. Und die Militanz, in der der Bundespräsident sich ablichten lässt, spiegelt es wider. Der Mensch Wulff erscheint so dermaßen verblendet oder geistig / handlungstechnisch be- schränkt zu sein, dass er sich dazu her- gibt, ein wenig Krieg zu spielen / spielen zu wollen. Abscheulich, beschämend,

verwerflich und - dies ist u.E. das eigent- lich Dramatische - volksschädigend, wenn nicht volksverhetzend tritt der Bun- despräsident in der Öffentlichkeit auf.

Eingebettet von schwerbewaffneten Ge- stalten im Stile eines Kampfsport-ausü- benden und Tötungsmaschinen-gleichen Jean-Claude van Damme positioniert sich Wulff, einer Überperson gleich, in ihren Reihen (Im Oktober 2011 führte der Auf-

tritt von van Damme auf der Geburtstags- feier des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow, dem schwere Menschenrechtsverletzungen vorgewor- fen werden, zu Kritik unter anderem von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.1 An der Veranstaltung nah- men viele sog. Prominente teil.).

Jegliche Humanität und jegliches Ge- spür für ein (amts-)gerechtes Auftreten scheint Wulff verloren gegangen zu sein.

Eine Gesellschaft, die der vornehmlich repräsentativen Funktion des Bun- despräsidenten nicht Einhalt ge- bietet und sich klar dagegen aus- spricht, wenn dieser auszieht, um Werbung für Militanz, Kriegsspie- le und Gewaltbereitschaft zu ma- chen, wird es letzten Endes eines Tages Mensch für Mensch spü- ren, dass es wieder soweit ist:

Rohheit statt Besonnenheit, sinn- lose Gewalt statt Gerechtigkeit und Vernichtung statt Fortschritt stehen dann wieder auf der Ta- gesordnung.

Einen Tag vor Druck dieser Ausgabe unserer „Beiträge“ beginnt ein neues Ka- pitel „Wulff“. Wir können hier gerade noch die Überschriften zweier Kommen- tare liefern:

„Als moralische Instanz versagt Mit der Kreditaffäre hat Bundespräsi- dent Wulff jedes Recht verwirkt, als

(Photo: Frankfurter Rundschau, 17. 10. 2011)

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moralische Instanz zu gelten. Er verliert damit die stärkste Legitimationskraft in diesem Amt. Wer Wulff kennt, weiß, dass es so kommen musste. Ein Kommentar von Thorsten Denkler, Berlin“ [http://

www.sueddeutsche.de, vom 13. 12.

2011]

„Bundespräsident Wulff und der Kre- dit — Hannover-Bande

Man kennt sich, man hilft sich: In Hannover liegt der Sumpf aus Politik, Wirtschaft, Unternehmen und Prominenz, auf dem Karrieren blühen - unter ande- rem die von Bundespräsident Wulff und Altkanzler Schröder. [http://

www.sueddeutsche.de, vom 14. 12.

2011]

In den Dokumenten können wir den Text „Resolution der Kommunarden“ le- sen. Ein nahezu vergessener Text - sol- len die Zeiten ihn nicht allzu aktuell wer- den lassen. Unter anderem ein im Nach- trag beschriebener Aspekt in der Berli- ner Stadtentwicklung legt diese Entfal- tung recht nahe.

Martin Eckert hat eine Zeitlang sei- ne Augen ganz speziell geöffnet, wenn er - hauptsächlich in Berlin - die uns so bekannten DIXI-Toilettenkabinen sah.

Mit seinem Beitrag zur „Soziologie mo- biler Sanitäranlagen“ richtet er einen be- wusst pointierenden „soziologischen“

Blick auf einen speziellen Aspekt in der Stadtentwicklung. Die LeserInnen mö- gen diesen Artikel "... als eine Einladung zur Arbeit verstehen: gegen alle vor der soziologischen Erkenntnis aufgebauten Hindernisse und dafür, daß sich die Ge- sellschaft ihrer Kreativität, ihrer Zwän-

ge, die sie den meisten auferlegt, und ih- res Vermögens, sich zu verändern, bewußt werde."2

Die quasi zur Institution gewordenen

„Mobilen Toiletteninstallationen“

(MOTIN) erscheinen uns als Banalität, aufgrund einer vielschichtigen Vernetzung und einer weitreichenden Funktionsaus- übung dieser Institution erlauben sie uns aber auch, wesentliche soziale Dimensi- onen: zum Beispiel „Herrschaft“ im und über den öffentlichen Raum sowie geo- politische Dimensionen: Stadtumbau für eine materiell abgesicherte Klientel zu er- kennen. Ein Ausblick auf „weltweite“

Entwicklungen wird nicht fehlen.

Anmerkungen (Vorwort)

1

vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jean- Claude_Van_Damme, 18. 10. 2011 2

Touraine, A.: Was nützt die Soziologie, Frank- furt / M. 1976, S. 24

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Beiträge

Zur Soziologie mobiler Sanitäranlagen im Stadt- raum von Berlin.

Die „Mobile Toiletten- Installation“ (MOTIN)

Martin Eckert

Mobilität und Gesellschaft

Mobilität ist ein Grundbedürfnis. Al- lein ein ethnographischer resp. historisch- materialistischer Blick zeigt uns die Be- deutung und ständige Entwicklung der Strukturen von Mobilität. Noch heute fin- den wir mit den Nomaden-Ethnien insbesondere im nördlichen Afrika und in Asien Gesellschaften vor, die in nahezu

konstanter Art und Weise ihr Gesell- schafts- und Wirtschaftssystem seit Jahr- hunderten in nicht-sesshafter Form or- ganisieren. Und auch in einer Frühform der Teil-Sesshaftigkeit, bei den Jägern und Sammlern, ist der Aspekt der Mobilität wesentlich für das Leben und Überleben der Gesellschaft.

Heute ist Mobilität weiterhin eine we- sentliche Grundvoraussetzung, um in der (Arbeits-) Gesellschaft einen angemes- senen Platz zu finden. Auch wenn tech- nologischer Fortschritt, Mehrprodukt- Produktion und -Verteilung sowie Virtualisierung (virtuelle Mobilität) des größten Teils des Lebens (Smartphone, Internet, Echtzeit-Finanzgeschäfte ...) theoretisch ein nahezu statisches Leben eines einzelnen Menschen zulassen, kommt der räumlichen Mobilität prak- tisch immer noch eine zentrale Bedeu- tung zu. Wir werden im Folgenden von Mobilität sprechen, wenn wir die Beweg-

lichkeit von Personen - und in dem Kon- text dieses Beitrages vor allem auch: von Gegenständen im Raum untersuchen.

Auf der Erscheinungsebene werden wir im Alltag mit einer Vielzahl von For- men der Mobilität konfrontiert. Unsere Wahrnehmung wird elementar, ständig und sehr stark von den Strukturen der

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Verkehrswege geprägt. Nahezu kein Moment des aktiven Lebens, in dem nicht ein Weg, eine Straße oder ein Pfad in unserem Blick liegt, und auch im trauten Heim sind es letztendlich „Pfade“, „ein- gelaufene“ Streckenführungen, die unsere Bewegungen dominieren.

Im städtischen Leben, und hier insbesondere in Städten und verdichte- ten Gebieten mit hoher Bautätigkeit, hat sich seit gut 30 Jahren ein Gegenstand mehr und mehr in unserer Wahrnehmung verfestigt, der in höchster Weise „Mobi- lität“ kennzeichnet. Er unterstützt und fördert die Mobilität (und Flexibilität) des

Menschen und ist selber hoch mobil: das Toilettenhäuschen. „DIXI“ steht inzwischen als Synonym für diese Art der Sanitärmobilität. „Das Original – seit über 30 Jahren. Mit der ersten mobilen DIXI- Toilette haben wir vor über 30 Jahren eine neue Toilettenkultur begründet. Heute ist die DIXI echter Kult. Und das hat nichts

mit Nostalgie zu tun, sondern mit hand- festen Vorteilen, die wir Ihnen hier vor- stellen.“ (in: http://www.toitoidixi.de/ttd/

produkte/toilettenkabinen.php, 28. 07.

2011) So entnehmen wir es der Werbung für diese mobile Toilettenkabine, und wer will bezweifeln, dass wir es tatsächlich mit einer „neuen“ Toilettenkultur zu tun haben?

Wir werden im Folgenden aufzeigen, wie sich diese „Mobilen Toiletten-Instal- lationen“ (MOTIN) im Raum präsentie- ren. Aufgrund der Vielzahl sowohl der

„Modelle“ als auch der Strukturen und Bedeutungen ihrer Standorte im sozial

determinierten, festgelegten und konstru- ierten Raum - und hier vornehmlich in Berlin - werden wir dabei auch untersu- chen, wie sich die MOTIN im Kontext gesellschaftlicher Bedingungen „verhal- ten“. Individuelles menschliches Handeln steht auch hier im konkreten Zusammen- hang mit der Existenz, mit der räumli-

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Beiträge chen Erscheinung der MOTIN. Es sind

also gesellschaftliche Bedingungen, die jeweils das Handeln prägen. Somit ha- ben wir ein soziologisches Untersu- chungs- und Forschungsthema - und der Titel lautet folgerichtig: „Zur Soziologie mobiler Sanitäranlagen im Stadtraum von Berlin. Die Mobile Toiletten-Installationen (MOTIN)“.

Soziale Beziehung und Geschichtlichkeit

MOTINs, die mobilen Toiletten- installationen versinnbildlichen eines der rationalsten Bedürfnisse der Menschen.

Dieses ist zudem durch eine hohe Per- manenz gekennzeichnet. So nimmt es kein Wunder, dass in der heutigen mo- dernen technologischen Gesellschaft die- se Installationen Eingang in das alltägli- che Bild der Welt - und hier vor allem in den urbanen Regionen mit hoher Bautä- tigkeit - gefunden haben. Der Mensch verfügt jedoch auch über ein Potential von inneren Antrieben, die sich eher als irra- tionale Impulse artikulieren. Und sie äu- ßern sich teilweise als offene Opposition gegen die Rationalität dieser Welt, teilweise auch als resp. in Rückzugsge- bieten, die inmitten der rationalen Gesell- schaft existieren. So ist es nicht verwun- derlich, wenn innerhalb der durch- rationalisierten Welt sich die inneren An- triebe, sich die spontanen Artikulationen des Menschen ebenfalls in kanalisierter, in strukturierter und geordneter, geplan- ter Form „domestiziert“ haben.

Die Stadt ist die Institution, in der eine Vielzahl von - wenn nicht die allermeis- ten - Neuerungen ihren Weg an die Öf- fentlichkeit finden. Die Konzentration von

Heterogenität, von Menschen und Ideen, von Macht und Ressourcen hat diesem Raum-Ort eine besondere Bedeutung ver- liehen. Althergebrachtes und Traditionel- les büßen hier ihre gesellschaftliche Kraft ein und neue Formen kultureller, sozia- ler, ökonomischer und politischer Prä- gung entstehen. In der Stadt passiert immer „etwas“, dies ist eine der wesent- lichen historisch-gesellschaftlichen Kon- stanten. Mit den MOTIN hat eine neue Form die Bühne betreten, die für Mobili- tät und Flexibilität steht.

Die MOTIN selber sind eine Instituti- on im soziologischen Sinne. Sie bilden ein Regulativmuster, denn sie stellen in normativer Art eine Struktur für das Ver- halten von Individuen dar. MOTIN er- lauben sinnvolle Beziehungen innerhalb der und zur Umwelt. Häufig werden sie an Plätzen und Veranstaltungsorten instal- liert resp. aufgestellt, an denen es an ei- ner ausreichenden Toiletten-Infrastruk- tur mangelt.1 Dies war vor allem zuerst gegeben in dem begrenzten Areal um Baustellen auf öffentlichem Gelände he- rum sowie bei temporär eingeschränk- ten Veranstaltungen wie Pop-Konzerten (MOTIN wurden sogar beim legendären Woodstock-Festival eingesetzt.) oder auch Wahlkampfauftritten, jedoch ebenfalls lokalisierbar auf nahezu aus- schließlich öffentlichem Raum resp. - im Falle der Pop-Konzerte auf „Bauernland“

- zeitlich beschränkt zu öffentlicher Flä- che gewandelt. Mit anderen Worten:

MOTIN tragen zur Objektivierung der Wirklichkeit bei. Und damit erfüllen die mobilen Toiletteninstallationen ein zentra- les, wesentliches Merkmal von Instituti- onen, sie werden als eine dem Menschen

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äußere Wirklichkeit erfahren. MOTIN sind objektiv „da“, und zwar in ihrer Viel- falt jeweils in einer bestimmten Art und Weise. MOTIN präsentieren sich uns zum Beispiel einmal in „trauter Nachbar- schaft“,

ein anderes Mal als Liebeserklärung an den angehimmelten Fußballverein (Nicht ohne Liebe - Eisern Union):

___Klassisch soziologisch artiku- liert, mit Blick auf unsere MOTIN, be- deutet dies: Es ist alleine weder das objektive „Dasein“ noch eine beliebige subjektive Wesensart, sondern eine so- ziale Beziehung im Raum, die durch die MOTIN zu gesellschaftlicher Praxis wird.

Ihr Dasein führt uns zu einer weite- ren Charakteristik von Institutionen, die auch die MOTIN besitzen. Ihnen ist ein gewisser Zwangscharakter inne. Gerade weil sie vorhanden sind und eine norma- tive Funktion erfüllen, üben sie eine sanfte

„Macht“ aus. Widersetzt sich der einzel- ne Mensch dieser latenten Gewalt, so hat er mit negativer Sanktion zu rechnen (Der Bauarbeiter, der sein „Geschäft“ im noch fertigzustellenden Rohbau verrichtet, wird im Falle seiner Ertappung durch den Bauherren oder den Architekten an jenem Bauwerk wohl schwerlich weiterarbei- ten dürfen resp. mit einer anderen „Be- strafung“ zu rechnen haben.). Den MOTIN ist somit eine moralische Auto- rität zuzusprechen. Der Grad der (nega- tiven) Sanktionen ist dabei von vielerlei Faktoren abhängig, hier ist vor allem die objektive räumliche „Stellung“ der mo- bilen Toiletteninstallationen von Bedeu- tung. Und diese räumliche Verortung hat sich im Laufe der Zeit verändert. MOTIN weisen das Merkmal der Geschichtlichkeit auf, sie sind historische Gegebenheiten.

___Klassisch soziologisch artiku- liert, mit Blick auf unsere MOTIN, be- deutet dies: Die Geschichtlichkeit der Gesellschaft äußert sich unter anderem in ihrem Vermögen, bestimmte soziale und kulturelle Orientierungen hervorzu-

(10)

Beiträge

bringen. In der Formung resp. Ausprä- gung dieser Orientierungen wird der täglichen Praxis ein Sinn gegeben.

Zur Organisation von

Gesellschaft, oder: in Reih’ und Glied / Symmetriebedürfnis / erste Interaktion

Es besteht ein Zusammenhang zwi- schen sozialer, sozio-kultureller Organi- sation (MOTIN) und räumlicher Orga- nisation (Stadt-Bild).

Die menschliche Gesellschaft produ- ziert sich, passt sich an, funktioniert und organisiert ihr Dasein unter anderem in einer Hierarchie von Systemen. Das Entsorgungssysten i.w.S. bildet dabei eine wesentliche Struktur, denken wir nur an die unterirdischen Abwasserkanäle ei- ner Großstadt, die - kartographisch er- fasst - ein anarchisches System von Roh- ren und gemauerten Schächten resp.

Kanälen zu bilden scheinen. Es ist jedoch eine „gelungene“, eine geplante und beherrschbare Struktur. Im übertragenen Sinne können wir dieses sich unter der Erde befindende Wirrwarr als „in Reih’

und Glied“ konstruierte Organisation der (Abwasser-)Entsorgung bezeichnen. Ein inneres genauso wie ein externes Gleich- gewicht wird aufrechterhalten, jeweils in Abhängigkeit von den vorgegebenen Zie- len und Normen der gesellschaftlichen Institutionen. Und unsere MOTIN „be- nehmen“ sich nicht anders als diese oder jedwede andere systemische Institution.

Fassen wir sie als Ausstattungselemente des Raumes auf, so erkennen wir sogleich auch die verschiedenen Dimensionen der sozialen und räumlichen Organisation der Gesellschaft. Die beiden Dimensionen

Individuum / Bevölkerung und Praxis / Aktivitäten korrespondieren mit den zwei weiteren Dimensionen Raum und Aus- stattung.

Im Allgemeinen verstehen wir unter

„Organisation“ die Ordnung von Elemen- ten eines Systems zu einer Struktur. Die- ses System kann ein materielles oder ein ideelles System sein, es kann sich um natürliche oder gesellschaftliche Syste- me handeln. So ist es nicht verwunder- lich, wenn wir die MOTIN eben auch zum Beispiel „in Reih’ und Glied“ aufge- stellt antreffen.

(Copley Square, Boston, Massachusetts, USA2)

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Ohne einen gewissen Grad an Orga- nisation kann keine Gesellschaft auskom- men. In eindrucksvoller Weise präsen- tiert sich uns das MOTIN-Modell

„Symmetriebedürfnis“. Wir erkennen hier in ihrer elementarsten Form die Interak- tion der Institution MOTIN mit einer ihr äußerlichen, weiteren Institution: mit den Verkehrswegen resp. - ein wenig abstra- hiert - mit der Infrastruktur einer Stadt.

Ob „Reih’ und Glied“ oder

„Symmetriebedürfnis“: In beiden Fällen liegt eine Organisation, eine Organisiertheit vor, da die betreffenden Elemente nicht einfach eine statistisch willkürliche Anhäufung sind, sondern durch eine bestimmte Art und Weise der Beziehungen miteinander verbunden sind.

In seiner wesentlichsten Form ist die Gruppierung von allein zwei Elementen ein (Ordnungs-)System. Auch diese Elementarzelle eines Systems resp. der Gesellschaft begegnet uns im Falle der MOTIN. In bester Eintracht stehen die beiden Modelle hier zusammen - auch wenn ihnen alleine die Eigenschaft als so- ziale Organisation fehlt, so artikulieren, besser noch: versinnbildlichen sie doch regelhafte soziale Beziehungen in Raum

und Zeit, und sie weisen eine Struktur durch ihre regelhafte Verteilung innerhalb eines räumlichen Gefüges auf:

Klassengesellschaft /

Luxusmodelle vs. „Standard“

Eine der bedeutendsten Grund- erfahrungen des Menschen ist die Er- kenntnis, wie verschieden, wie unter- schiedlich die Individuen sind. Jungen und Mädchen, Blonde und Brünette, Briefträgerin und Bauarbeiter, Spanisch- Sprechende und „die-eigene-Sprache- Sprechende“: Sowohl individuelle Unter- schiede wie auch gesellschaftliche Dif- ferenzierungen tragen zu einer Typisie- rung bei. Die Organisation der Gesell- schaft resp. die die Gesellschaft bilden- den Menschen selber haben dieser Dif- ferenzierung Rechnung getragen - und haben unter anderem als eine der wesent- lichen Klassifizierungen ein geschichte- tes Gemeinwesen hervorgebracht.

In aller Offenheit und Entschiedenheit trifft diese Charakteristik auch auf die MOTIN und ihre Stellung in der Gesell-

(12)

Beiträge

schaft zu. Wir finden eine Vielzahl von Ausdifferenzierungen, und Luxusmodelle werden passenderweise von Organisationen und gesellschaftlichen Gruppeneingesetzt, die eine Klassifizierung nach höheren und niederen Positionen zulassen.

Der Zusammenhang von einer Tendenz in der gesellschaftlichen Entwicklung weg von Standardisierung und „Normalbiographie“ hin zu Ausdifferenzierungen und Vielgestaltigkeit resp. Verschiedenartigkeit mit einer (mindestens) Statuszuweisung innerhalb eines „geschichteten“ Systems ist historische Realität (und Notwendig- keit). Wir werden daher hier auch visuelle Belege für unsere MOTIN anführen.

Die Ausdifferenzierungen beginnen schon innerhalb einer einzigen Produktions- firma, die sieben verschiedene Modelle - Flush, Fresh, Water (alle drei in der gleichen Optik) , Classic, DIXI-B, Cap und DIXI-Plus - bereithält:

Betrachten wir die Entwicklung hin zu den Luxusmodellen, so scheint unse- re MOTIN sich sogar an einige wesent- liche Gedanken von Werner Sombart zu halten, der in seinen Ausführungen zu

„Liebe, Luxus und Kapitalismus“3 das Luxusgewerbe als prädestiniert für eine kapitalistische Organisation hält.

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In exklusiver, gar luxuriöser Art und Weise präsentiert sich dieses Modell der BVG - Berlin. In einer zugegebenermaßen recht gewagten These können wir hier vermuten, dass das Konstrukt (oder:

Klientelpolitik) „Öffentlicher Dienst - Senatsverwaltung - Steuergelder“ zu ei- ner gewissen Üppigkeit, wenn nicht Schwelgerei und Verschwendung führt.

Und als ob diese These / Vermutung ei- nes weiteren Indizes bedarf: Das Unter- nehmen, das in der BRD schlechthin für undurchsichtige Machenschaften und zwanghaftem Hunger nach privat- wirtschaftlicher Kapitalisierung steht, die Deutsche Bahn / DB, lässt es sich nicht nehmen, und hält mit ihrem Luxusmodell einer MOTIN nicht in dem Berg.

Mit den luxuriösen Toilettenkabinen (sog. City-Toiletten innerhalb der Produktpalette „Stadtmobiliar) der Firma Wall AG hat letztendlich ein hoch-durch- kapitalisiertes Unternehmen erfolgreich

den Markt erobert - das Ursprungsmodell

„DIXI“ entspricht der Luxusausführung lediglich noch der rudimentären Funkti- on nach (und auch die ist nur gegen Be- zahlung bei der Wall AG zu erreichen).

(Abb.: Modell „Avenue“ der Wall AG)

Norm - offen für alle

Der Zusammenhang von Individuen, Institutionen sowie Gesellschaft und sei- ne analytische Betrachtung ist elementa- rer Bestandteil der soziologischen Theoriebildung. Der Zusammenschluss von Individuen erfordert zwangsläufig weitgehend verbindliche Regeln des Zu- sammenlebens, des Zusammenwirkens und der Interaktion. Es sind Normen, die den Bestand der Gesellschaft gewährleis- ten, indem sie wesentliche und häufig wiederkehrende Bereiche von Aktivitäten sinnhaft regeln.

___Klassisch soziologisch artiku- liert, mit Blick auf unsere MOTIN, bedeutet dies: Die MOTIN drücken eine Verhaltenserwartung aus, die mit positiven oder negativen Sanktionen verbunden ist.___

In Bezug auf die MOTIN ist empi- risch eine Regelmäßigkeit des sozialen

(14)

Beiträge Verhaltens des menschlichen Zusammen-

lebens feststellbar. Wenn wir am Anfang betonten, dass unsere Untersuchungen sich hauptsächlich auf den Berliner Stadt- raum erstrecken, so müssen wir hier anfügen, dass stichprobenartige Er- forschungen anderer Regionen in Deutschland zugleich gelagerten Ergeb- nissen kommen. Wir treffen auf MOTIN ebenso im Stadtgebiet in Hamburg (hier

„passend“ im Einsatz bei der Sanierung eines Luxus-Wohngebäudes),

in Rheinsberg (hier in der Begleitung bei Bauarbeiten im Denkmalschutz),

wie in Liebenwalde (hier als Unter- stützung eines Wachpostens im Kontext einer Werksstilllegung)

oder in idyllischer Kleingartenkolonie

und in - für viele Menschen fernen - Wald- und Naherholungsgebieten (s.u.).

Betroffen ist in allen Fällen der Ein- zelne - von einer mehr oder weniger fes- ten und genauen Forderung der sozialen Norm nach einem bestimmten Verhalten.

Im Falle unserer MOTIN wirkt die Norm in einer hervorstechenden Art und Wei- se, denn sie umfasst letztendlich alle (ide- altypisch-analytischen) Unterscheidungen

(15)

und stellt damit einen gewissen „Urtyp“

der sozialen Norm dar, der sich in einer sozio-kulturellen und historischen Be- trachtung ausdifferenziert. Das Verhalten des Einzelnen ist normativ sowohl a) la- tent bestimmt: Die Norm wirkt, ist aber noch nicht klar artikuliert - das Beispiel

„in der Naherholung“ mag dies verdeut- lichen, b) manifest bestimmt: Die Norm wirkt aufgrund einer allgemein verabre- deten und erklärten Vorschrift - das Bei- spiel „Modell Hamburg“ in der Luxus- sanierung soll dafür stehen, c) traditio- nell bestimmt: Die Norm wirkt aufgrund einer schon immer geltenden Regel und stellt eine „überlieferte“ Gesetzmäßigkeit dar - das Beispiel „Denkmalschutz“ in Rheinsberg zeigt uns den gefühlten und erfahrenen „Ursprung“ der MOTIN, den Einsatz in der Baubranche, d) rational bestimmt: Die Norm wirkt aufgrund ei- ner verankerten rechtlichen Bestimmung, eines Gesetzes, einer verpflichtenden

„Verordnung“ - das Beispiel „Wachpos- ten“ in Liebenwalde untermauert dies gleich mehrfach. Zum einen besteht die Vorschrift, abhängig Beschäftigten im Außendienst die Möglichkeit zu geben, Sanitäranlagen aufsuchen zu können, zum anderen ist es eine Ordnungswid- rigkeit, sein „Geschäft“ in der Öffentlich- keit zu verrichten (Exhibitionismus etc.).

Das tatsächliche Verhalten und die gesetzte Norm sind nicht immer in Über- einstimmung. Ausschlaggebend für eine Deckung der beiden latent vorzunehmen- den Handlungen ist zum einen die Inter- nalisierung, der Grad der Verinnerlichung der Norm. Hier gilt für unsere MOTIN das Gleiche wie für eine Vielzahl anderer

institutionellen Gegebenheiten: Das Nicht- Einhalten der Norm wird „in Kauf ge- nommen“, wenn der Einzelne für sich persönlich keinen Nachteil zu erwarten hat und die Einhaltung der Norm als un- zweckmäßig, unpassend oder umständ- licher aufgefasst wird. Auch die Funktionalität resp. Wirksamkeit der Norm für gewünschte Handlungsziele kann zur Verweigerung der Normer- füllung führen, denken wir nur an die Vorkommnisse während der Festivitäten auf der kilometerlangen Partymeile „Stra- ße des 17. Juni“ in Berlin. Das Aufsu- chen einer MOTIN ist teilweise wegen

„Überfüllung“ nicht möglich und der Ausweg „Tiergarten“ bietet eine passen- de und nahegelegene Ersatzaktivität. In diesem Zusammenhang erwähnen wir noch die Bedeutung der Sanktionen bei einem normwidrigen Verhalten. Im Bei- spiel „Tiergarten“ sehen wir, dass es eine wirksame, gar strenge Sanktion nicht gibt, um reales Verhalten und Norm-Er- füllung in Übereinstimmung zu bringen.

Den Idealfall einer mobilen, normati- ven Toiletteninstallation können wir da- gegen hier in den drei Beispielen (erreich- bar auch für immobile Verkehrs- teilnehmerInnen, offen für alle, öffent- lich, ) erkennen:

(16)

Beiträge Die MOTIN präsentiert sich in aller

Öffentlichkeit, es ist ein freier Zugang zur Einrichtung gewährleistet und: die Ein- richtung steht offen, geradezu als Einla- dung, ja Aufforderung, der Norm nach- zukommen. ...

Das Gegenteil zu dieser offenen Prä- sentation ist weiter verbreitet, im norma- len Fall stehen die MOTIN abgesperrt, abgeschlossen und verschlossen. Sie sind nur für eine bestimmte Personengruppe zugänglich, gebunden an ihren primären lokalen Bestimmungszweck. Ein Schlüs- sel ist zur Benutzung notwendig:

Im letzten Fall kollidiert der selektive Zugang offensichtlich mit den Bedürfnis- sen der direkt Anwesenden, ein Wider- spruch tut sich auf. Obwohl die MOTIN in aller Öffentlichkeit und frei zugäng- lich aufgestellt ist, ist der konkrete Zu- gang verschlossen. Öffentlich zugängli- che Bedürfnisanstalten (hier: Pissoir am Gendarmenmarkt), in Berlin vor allem um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhun- dert entstandene und bis Mitte des 20.

Jahrhunderts bestehende Einrichtungen.

„Eine Bedürfnisanstalt, auch Öffentliches WC oder WC-Anlage genannt, ist eine allgemein zugängliche größere Toiletten- anlage im öffentlichen Raum zum Ver- richten der Notdurft und/oder Urinierens.

Meist befindet sie sich an größeren zen- tralen Plätzen, in Parkanlagen oder auf Bahnhöfen. Einfache Einrichtungen die- nen nur dem Urinieren von Männern. In der Regel sind sie aber getrennt nach Geschlechtern eingerichtet.“ (wikipedia, in: https://de.wikipedia.org/wiki/Bedürf- nisanstalt, 20. 10. 2011)

(Foto oben: Troismarteaux,

Creative Commons Attribution Version 2.0 (cc- by-2.0))

(17)

Diese allgemein als „Café Achteck“

titulierten WC-Anlagen kontrastieren zu den heute dominant vorhandenen, privat- wirtschaftlich betriebenen und Einzel- interessen-gebundenen Toilettenkabine (hier: Toilettenkabine auf der Baustelle).

In der geschichtlichen Entwicklung erkennen wir einen nicht vollkommen unbedeutenden gesellschaftlichen

„Nebenwiderspruch“, daher ein ...:

... Exkurs realer (oder

dialektischer) Widerspruch - die Kategorie zur Darstellung gesellschaftlicher Entwicklungen

Öffentliche Bedürfnisanstalten sind mindestens seit der hellenistischen Zeit nachweisbar, es finden sich Anhalts- punkte sowohl in Gymnasien wie auch in (Privat-)Häusern. Die Bedürfnisanstal- ten erreichten bei den Römern teilweise einen gewissen Luxus, viele waren den Badehäusern angeschlossen. Meist wa-

ren sie auch in das Wassernetz integriert.

Seit dem 4. Jahrhundert. n. Chr. gingen viele zivilisatorische Errungenschaften der Antike verloren - es traf auch die Be- dürfnisanstalten resp. die komplette Sanitärkultur. Erst mit dem Aufbau von Abwassersystemen in der Neuzeit erleb- ten die Bedürfnisanstalten eine Renais- sance - und mit den „Berliner Pissoirs“, dem sog. Café Achteck, auch eine archi- tektonische Besonderheit.

Ende des 20. Jahrhunderts waren die öffentlichen, frei zugänglichen Bedürfnis- anstalten wieder größtenteils verschwun- den resp. „unbrauchbar“. Das „gesell- schaftliche Bedürfnis“ als Nachfrage nach Anlagen dieser Art bestand jedoch weiter und wurde darauffolgend durch Firmen wie die Wall AG - nicht zufällig im zeitlichen Kontext des Booms des um- herirrenden Neoliberalismus - privatisiert.

Somit stehen sich heute zwei gesell- schaftliche Entwicklungen widersprüch- lich gegenüber: Auf der einen Seite das privat betriebene Angebot einer Befriedi- gung sanitärer Bedürfnisse, auf der an- deren Seite das weiterhin elementare in- dividuelle Bedürfnis, öffentliche Sanitär- anlagen auch aufgrund einer wachsen- den „Verpflichtung“ zu mobilen und fle- xiblen Arbeitstätigkeiten relativ zügig und flächendeckend aufsuchen zu können.

Als realer Widerspruch artikuliert sich somit die soziale Notwendigkeit nach ei- ner Bedürfniseinrichtung resp. -anstalt oder Toiletteninstallation, deren öffentli- che, freie Zugänglichkeit aufgrund erhöh- ter Mobilität und Flexibilität zunehmen müsste - und die Verkehrung, dass diese

„Nachfrage“ in immer stärkerem Maße lediglich privatwirtschaftlich befriedigt wird.

(18)

Beiträge Die folgende Abbildung des Aus-

schnittes eines Wall-AG-Modells verhilft

uns, eventuell schon an eine kleine Vor- wegnahme der Auflösung des Wider- spruchs zu glauben, gar zu hoffen? Der Titel auf dem die Toilettenkabine beglei- tenden Photo lautet „Für Städte. Für Menschen“. Sehen wir einmal davon ab, dass es insbesondere in Berlin angemes- sener wäre, derartige Bedürfnisanstalten statt „Für Menschen“ für Hunde resp.

für deren BesitzerInnen incl. deren Hun- de (oder umgekehrt?) zu installieren, so führt uns die Betonung auf „Für Städte“

zu der nun auch zumindest anfänglich empirisch bewiesenen Erkenntnis, dass die heutige Bereitstellung von mobilen Toiletteninstallationen lediglich als eine - primär und wesentlich - Funktion zur Profiterzielung dient. Die Stadt als räum- liche Konzentration der effektivsten Bal- lung von Konsumenten und Geldbesitzern ist prädestiniert für die Geschäftstätig- keit mit MOTIN.

Die Auflösung des Widerspruchs kön- nen wir unschwer erleben, wenn wir uns bequemen, ein paar Schritte außerhalb der

aufgrund hoher Bevölkerungsdichte und Bedürfnishäufungen bestens mit guten Profiterzielungen versorgten Stadt in die nähere Umgebung zu tätigen. Hier ste- hen sie, unsere MOTIN, in Naherho- lungsgebieten, in der unmittelbaren Nähe eines frei zugänglichen und ohne Eintritts- gelder zu erschwimmenden Badesees, in lauschiger Atmosphäre, umrankt und idyllisch drapiert von realem, Sauerstoff- produzierendem und Kohlendioxid-verar- beitendem Grün.

(19)

Verhalten / Abweichendes Verhalten - ordentlich / schief:

Wir wollen uns jetzt wieder konkret mit unseren MOTIN beschäftigen. Bis jetzt haben wir festgestellt, dass sie als Institution ein „normales“ Dasein - auch im soziologischen Sinne - fristen. Aber abweichendes Verhalten ist bei ihnen ein ebenso zu beobachtendes Phänomen.

Auf die Verschiedenartigkeit resp. die Ausdifferenzierungen hatten wir schon hingewiesen, im oben zu bestaunenden Beispiel haben wir es allerdings mit einer Abweichung von der Norm zu tun. Die Schieflage ermöglicht nur unter Anstren- gungen ein normales Verhalten - Unserer Vorstellung von einer verlässlichen Toi- letten-Installation entspricht diese Situa- tion nicht, sie beunruhigt eher.

Abweichung ist letztendlich immer eine gesellschaftliche Definition. Und somit haben wir es auch erheblich leich- ter, uns bekannte, vertraute „Unterschie-

de“ in den Ausprägungen der MOTIN im Alltag zu sehen. Die Kreativität in der Farbgestaltung mag ein Beispiel dafür sein, dass hier die „Abweichung“ vom Standard, von der Norm (das klassische DIXI-Blau) schon längst „Normalität“ ge- worden ist. Farbkombinationen sind dabei genauso anzutreffen wie modische Neu-

schöpfungen und knallbunte Varianten - statt Abweichung stehen diese Modelle für „Wandel“ und „Pluralismus“, beides im Übrigen auch in den Sozialwissen- schaften gerne verwendete Begriffe. Et- was mutig können wir somit interpretie- ren, dass die generelle Tendenz einer Schnelllebigkeit von gesellschaftlichen Werten und Normen auch im Falle der MOTIN dazu geführt hat, die Farb-“Ab- weichungen“ als ein stabiles Phänomen aufzunehmen und wahrzunehmen. Die Variationen sind eben nicht als „absicht- lich“ (als absichtliche Negierung der Wirklichkeit) oder gar als gefährlich ein- zuordnen resp. werden so von uns ein- geordnet, sondern in Zeiten eher fließen-

(20)

Beiträge der Grenzen und eines raschen (sozia-

len) Wandels entspricht die Vielfalt eher einer unserer „Erwartungshaltungen“.

Einen besonderen Augenmerk wollen wir hier noch auf das gesellschaftliche Bedürfnis nach Harmonie, nach Gleich- klang und Übereinstimmung legen. So grau, unwirtlich und trist das Leben oder einfach auch nur die visuelle Erscheinung des Stadtlebens ist, unsere MOTIN hel- fen über eine farbharmonische Integrati- on in das städtische Bild, eine gewisse

„Fröhlichkeit“ und „Leichtigkeit“ herzu- stellen.

Wir wollen uns aber nicht alleine auf diesen behavioristischen Ansatz bei der Analyse der MOTIN beschränken. Ver- halten ist mehr als die einfache Reaktion auf einen Reiz oder auf die Permanenz empfangener Reize. Auch die Verarbei- tung früherer oder bestehender Erfahrun- gen nach einem möglichen Modell des

Abwägens zwischen Belohnung und Auf- wand erklärt nicht (alleine) das mensch- liche Verhalten. Es ist dagegen aufzufas- sen als der Ausdruck eines Verhältnisses zwischen Subjekt - dem Menschen - und Objekt - im weitesten Sinn der sozialen Wirklichkeit als Ganzem.

Können wir für diese - zugegebener- maßen streng theoretische und sozio- logisierende - Betrachtung auch im All- tag bei und mit unseren MOTIN Verhaltensstrukturen erkennen, die ver- gleichbare, anfänglich unmittelbare Interaktionsbeziehungen aufweisen? Wir denken ja. Schauen wir uns vier Beispie- le an.

(1) Da steht zuallererst und gut posi- tioniert eines der Leitbilder der Kapitalis- tischen Produktionsweise im Weg:

„kost‘ nicht viel“ lesen wir auf dem Auf- kleber an dieser MOTIN.

Der Mensch befindet sich damit mit- ten in der prägenden, alltäglich-er-

(21)

fahrbaren und verhaltensbestimmenden Wirklichkeit. Sie steht nicht alleine für sich, sondern sie repräsentiert einen Aus- schnitt der sozialen Realität, der Mensch ist weiterhin (zumindest theoretisch) in der Lage, sich zu der erfahrenen Inter- aktion mit „kost‘ nicht viel“ kritisch, ab- weisend oder gar kreativ zu verhalten.

(2) Nahezu eine Herausforderung für kreatives Verhalten resp. sich daraus ent- wickelndes soziales Handeln stellt die

Konfrontation unserer MOTIN mit die- sem Großplakat dar.

„Aus Klein wird Groß“, ist mensch versucht zu sagen, oder: „Klein hat alles angefangen“.

Bei der Betrachtung dieses Photos im Kontext ergibt sich somit, dass das Ver- halten nicht eine unabhängige, selbstän- dige Kategorie darstellt, sondern den Rah- men der unmittelbaren Interaktion sprengt, besser: sprengen muss. Unmit- telbare wie mittelbare Bestimmungs-

gründe tragen zu einer Verhaltens- entwicklung bei, Verhalten ist weder sta- tisch noch gesetzmäßig determiniert. Das Verhalten selbst können wir hier als äu- ßerst selbstbewusst bezeichnen.

(3) Ein weiteres Beispiel für starkes und selbstbewusstes Auftreten unserer MOTIN entnehmen wir diesem Photo:

Hier stehen sie nun, eng vereint, an einem der markantesten Orte der Stadt, dem Alexanderplatz: die drei wesentlichen Symbole Berlins. Nahezu selbstverständ- lich hat sich hier ein DIXI-Modell zu dem Symbol der Stadt schlechthin, dem Fernsehturm am Alexanderplatz4, gesellt.

Und als ob - nach dem dramatischen Rückgang der industriellen Produktion in Berlin und des damit verbundenen mas- siven Anstiegs der Arbeitslosigkeit - der inzwischen dominante Wirtschafts- bereich, der Tourismus, ein wenig nei- disch ist, drängt sich der Hotel-Komplex des Park Inn in die Mitte dieser Dreier-

(22)

Beiträge Konstellation. Somit sind hier auf einen

Schlag

- das anerkanntermaßen bedeutends- te identitätsstiftende Symbol Berlins,

- der wichtigste ökonomische Faktor sowie

- die aktuell das Stadtbild prägende und versinnbildlichende geo-politische Er- scheinung: unsere MOTIN anzutreffen.

In der Interaktion dieser drei „Objek- te“ liegt dann auch einer der entschei- denden Bestimmungsgründe für Gesell- schaft, für gesellschaftliche Entwicklung überhaupt. Gesellschaftliche Verhältnis- se sind in ihrer versachlichten und in ih- rer entfremdeten Form sowohl Grundla- ge wie auch Produkt des menschlichen Verhaltens. In einem weiteren, mutigen Schritt können wir somit bestimmen, dass sich auf dem besagten Photo die wesentlichen Kategorien der Kapitalisti- schen Produktionsweise „enthüllt“ haben - als gesellschaftliche Verhältnisse. Und damit kommen wir zum vierten Beispiel.

(4) Gesellschaftliche Verhältnisse sind also nichts anderes als die Verselb-

ständigung des Verhaltens von Menschen.

Einsichtig ist damit zugleich der ge- schichtliche, der historische Charakter der kapitalistischen Gesellschaft - und von Produktionsweisen und Gesellschafts- formationen generell.

Und eben dies scheint uns die MOTIN sagen zu wollen, wenn sie sich derart exponiert an den Ort der Republik wagt, der für Geschichte, Bewusstsein und Veränderung steht: MOTIN am Reichs- tag.

In seiner Allgemeinheit steht der Reichstag für die „Versammlung von Fürsten, Gesandten oder gewählten Ab- geordneten auf Reichsebene, zum Bei- spiel im Deutschen Kaiserreich oder in der Weimarer Republik sowie in verschie- denen Königreichen“5. Geschichte und Gegenwart: so nah‘ beieinander.

Von den gesellschaftlichen Verhältnissen zur Ideologie der

„Globalisierung“

Wir haben mit den letzten Betrachtun- gen den Sprung von den Interaktionen zu den gesellschaftlichen Verhältnissen durchgeführt. Der Schritt zum - inzwischen vollständig ideologisch deter- minierten - Begriff „Globalisierung“ ist nicht weit. Heute wird darunter die ohne Alternative bestehende und unumkehr- bare Marktfreiheit der kapitalbesitzenden Unternehmer verstanden, es gab Zeiten, da nannte mensch diese Klasse einfach Kapitalisten, heute sind alle ganz, ganz vorsichtig geworden und huldigen die- sen gesellschaftlichen Verhältnissen, in- dem sie den Namen „Investoren“ verlie- hen bekommen haben - gleichsam eine Adelung in himmelische Sphären . Ange-

(23)

strebt wird eine vollständige „Entgren- zung“ der vorhandenen und aller zukünf- tigen Wirtschaftsprozesse (zu denen die Dienstleistungen gehören). Erinnern wir uns: Ehemals war der Begriff „Global“

resp. „Globalisierung“ im Zusammen- hang mit einem bestimmten Report, Glo- bal 2000, angetreten, um weltweite Um- weltgefahren zu thematisieren und eine globale Umweltverantwortung zu den- ken! Wenige Jahre später setzte der Be- deutungswandel ein, rein ökonomische Aspekte (Aufhebung des Protektionis- mus, Marktöffnung der sog. Entwick- lungsländer, Primat der Wettbewerbs- fähigkeit etc.) prägen seitdem seine in- haltliche Bestimmung. Vollkommen per- vertiert wurde der Ursprungsgedanke.

Globalisierung wurde zu einem Synonym für den zu perfektionierenden Neo- liberalismus, der für seine komplette Ent- faltung gleiche Bedingungen für alle MarktteilnehmerInnen erforderte, auch für die ökonomisch Ungleichen, sprich:

die verarmten, verschuldeten Staaten.

Eine evidente Logik blieb dabei auf der Strecke, und dieser Tatbestand wurde noch nicht einmal von sog. „Linken“ ver- standen. Die neoliberalen Schulen hatten eine klassische linke Utopie besetzt, in- dem sie von einer Idee der globalen Gleichheit faseln konnten, teilweise sogar versetzt mit dem Zukunftsmodell einer Auflösung von Nationalstaaten und einer möglichen Weltregierung. Aber: Die ele- mentare Logik, dass unter gleichen (wirt- schaftlichen) Bedingungen - auch für Ungleiche - die ungleichen Verhältnisse und Ungerechtigkeiten zwangsläufig zu einer Verstärkung der Ungleichheit füh- ren, schob - wir können sagen: die gan- ze Welt - beiseite.

Globalisierung tritt nun auf als um- fassendes gesellschaftliches Verhältnis: als Neoliberalismus zu gleichen Bedingungen für Alle. Jegliche öffentlichen, sozialen und moralischen Ziele und Werte haben sich untergeordnet, wenn sie denn überhaupt noch artikuliert werden. Ganz konkret für den Wirtschaftssektor heißt dies unter anderem: Betriebs- wirtschaftliche Lösungen sollen bei der Bewältigung volkswirtschaftlicher Pro- bleme und Krisen helfen, transnationale (die den Nationalstaat angeblich auflösen- den) Unternehmen sind hochgradig privatwirtschaftlich organisiert. Der Ge- danke einer Internationalen Solidarität ist in sein Gegenteil umgeschlagen, nicht von allen Menschen, aber im mainstream:

Spaltung der Gesellschaft, Polarisierung, Segregation und Partikularisierungen in der Stadtentwicklung, verschärfte Arm- Reich-Gegensätze, monostrukturelle Agrarkonglomerate.

Nicht kulturelle und identitätsbildende Vielfalt ist Resultat der betriebenen

„Globalisierung“, sondern Vereinheitli- chung der Masse. Somit stehen sich zwei Begriffe gegenüber: Globalisierung und Internationalismus. Und wir wollen einmal sehen, wie sich unsere MOTIN dazu verhalten.

Globalisierung: ein Karriere- Sprung der MOTIN?

Sehr schwer einzuschätzen ist dabei die allerneueste Entwicklung. DIXI-Toi- letten werden während der Europameis- terschaft der Männer im Fußball im Jahr 2012 einen unverzichtbaren Bestandteil der Infrastruktur in der Ukraine darstel- len - Nicht, wie mensch jetzt vielleicht

(24)

Beiträge denken könnte, aufgrund der vorhande-

nen Baustellen und der nicht zeitig beendeten Bauvorhaben im Kontext mit diesem Turnier - Nein! Sie werden als Teil einer vollwertigen Stadt- resp.

Zeltplatzmöblierung installiert, weil es für die Anhänger, Besucher etc. von Spielen einfach garnicht genügend Unterkünfte geben wird. Also werden die Fans und Schlachtenbummler auf Zeltplätze außer- halb einer Stadt, in diesem Fall Charkiw, verwiesen werden. Ganz passend tituliert die Berliner Zeitung: "Sommer der Dixi- Klos"6.

Wenn in der Stadt am 13. Juni 2012 das Duell Holland - BRD stattfindet, kön- nen sich zumindest großstädtische Fans aus diesen beiden Ländern fast wie hei- misch fühlen ob der Anwesenheit von MOTINs. "Nun soll die Anhängerschaft doch bitte schön auf die Zeltplätze außer- halb der Stadt ausweichen. Die Konzep- te wirken waghalsig wie lieblos: Mit Dixi- Klos, Plastik-Duschen, Mini-Zelt, samt einer vom Veranstalter gestellten Matrat- ze sollen ausländische Zuschauer irgendwie klarkommen"7. Das Potential unserer MOTIN scheint nahezu grenzen- los - ob in diesem Fall allerdings von ei- nem Karrieresprung zu reden ist, wird wohl eher nur die Zukunft sagen kön- nen. Trotz alledem ist festzuhalten, dass den MOTIN ein Entwicklungspotential in- newohnt, das sie zu einer ernstzu- nehmenden Kategorie im Prozess der Globalisierung macht. Sie folgen mit ih- rem Auftreten in der Ukraine einem „Ge- setz“ der Globalisierung, das nationale Sonderwege schlichtweg negiert.

„Grenzenlose“ Individualität

Wir wollen diese kleine Erkundung der soziologischen Betrachtungen über un- sere MOTIN nicht beenden, ohne einen abschließenden Blick auf ganz individu- elle Erscheinungsformen dergleichen zu werfen. Streng genommen fängt erst hiermit der eigentliche Teil der Reise an, denn nur mit diesem Eindruck der "Indi- vidualität" gelingt es unseres Erachtens, einen erheiternden Moment zu erheischen, wenn es darum gehen soll, die Soziolo- gie zu bemühen, um gesellschaftliche Tatbestände zu erforschen und zu erklä- ren. Und etwas Heiterkeit tut keiner Wis- senschaft weh!

Somit kann am Anfang dieses Ab- schnitts eigentlich nur ein Soziologe ste- hen, sehen wir vom Philosophen und Polit-Ökonom Karl Marx einmal ab: Max Weber. „Macht“ fällt uns spontan ein,

und ein Beispiel für unsere MOTIN ist sofort zur Hand‘. Nach der Definition

(25)

von Max Weber ist Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.“8 Wer die Machtprobe, LKW - MOTIN gewinnen könnte, scheint offensichtlich. Allerdings ist auch eine engere soziale Beziehung vorstellbar, soll- te der LKW-Fahrer die MOTIN in ihrer Ursprungsfunktion „benötigen“.

Ein weiteres Grundbedürfnis des Menschen ist Geborgenheit, „Wohnung“

resp. „Home“ ist das sinnverwandte neu- zeitliche Wort. Wir finden es umgehend.

Wie einsam es mitunter auch für die MOTIN sein kann, zeigt sich im folgen- den Beispiel. Nicht nur die Monotonie der

Umgebung trägt dazu bei, sondern auch eine gewisse Unwirtlichkeit.

Ein probates Mittel, um gegen Miss- stände vorzugehen resp. sie zuerst einmal anzuprangern, sind Proteste, Demonst- rationen, wie auch immer artikuliert. Zur

„Verar....“ einer ganzen Republik durch sich selber und / oder durch ihren ge- wählten Repräsentanten musste sich auch unsere MOTIN verhalten. Ihre Be- teiligung am Protest ist geradezu demon- strativ.

(auf dem Plakat zu lesen:

BANANA REPUBLIC - BUNGA BUNGA SHOW - PORNO SATIRA POLITICA ITALIANA)

(26)

Beiträge

Ausblick

Die MOTIN sind nicht vom Himmel gefallen. Ihr Auftauchen war und ist eine Reaktion auf sozialen, und damit verbun- den: räumlichen Wandel. Verstärkte Bau- tätigkeiten im urbanen, verdichteten Raum und ökonomischer Zwang zur ra- tionaleren Zeitplanung sowie zu effizien- teren Ressourceneinsätzen machten ihre

„Erfindung“ geradezu notwendig. Fort- schreitende Flexibilisierung und Profit- maximierung, also generell die der Kapi- talistischen Produktionsweise innewoh- nende Eigenschaft der „Beschleunigung“, bedeuten letztendlich den Einsatz der MOTIN „ubiquitär“. Sie werden sich also auf die Reise machen, denn die Sehnsucht ist groß.

Nichts kann dies mehr verdeutlichen, als ein sehnsüchtiger Blick über das Was- ser in die Ferne.

MOTIN machen sich also auf den Weg.

Anmerkungen 1

„Einer Legende zufolge erfand 1973 Fred Edwards, amerikanischer Soldat, in Deutschland stationiert, die mobile Toilette. Er hatte keine Lust mehr, seine Notdurft bei Manövern in Gesellschaft seiner Kameraden verrichten zu müssen.

Er bemängelte die fehlende Privatsphäre und fand es unzumutbar, mit den Gerü- chen und Geräuschen der anderen konfrontiert zu werden. In seiner Garage schraubte er die mobile Version eines stillen Örtchens zusammen: ein Pissoir und eine Fallgrube mit Loch, die durch Bretter den Blicken der Öffentlichkeit entzogen wurde. Seine mobile Toilette war so erfolgreich, dass er das Militär verließ und sich in Deutschland ganz und gar der Produktion von Toiletteneinheiten widmete.“ (wikipedia, in: https://

de.wikipedia.org/wiki/

Mobile_Toilettenkabine, 20. 10. 2011) 2

CC, Cryptic C62; Copley Square, Boston, Massachusetts, USA 3

Original: Sombart, W.: Luxus und Kapitalismus, München/Leipzig 1922 4

vgl. hierzu auch den ausführlichen Artikel „Berliner Identität - der Fernseh- turm am Alexanderplatz“ von Martin Eckert, in: Materialien zur Stadt- entwicklung, 1/2007, Heft Nr. 9, S. 11ff 5

https://de.wiktionary.org/wiki/

Reichstag 6

Berliner Zeitung, 15. 12. 2011 7

ebd.

8

Max Weber, M.: Wirtschaft und Gesell- schaft. Grundriß der verstehenden Soziolo- gie, 1. Halbband, Tübingen 1956/1980, S. 28

(27)

Nachtrag „Beiträge 11“, 1/2008

ILLIS - Individual-Luxus-Living- Segmentierung

In unseren "Beiträgen" (Beiträge 11, 1-2008) beleuchteten wir einen speziel- len Aspekt der Berliner Stadtentwicklung resp. Stadtentwicklungspolitik: "Neo- liberale Stadtpolitik und die Perversion des sozialen Wohnungsbaus - auf Gentrifizierung und Segregation folgt eine Segmentierung durch "Individual-Luxus- Wohnformen" wie Townhouses und Carlofts (ILLIS - Individual-Luxus- Living-Segmentierung)".

Die Zeit steht nicht still und eben die- se wesentliche Stadtentwicklung in Berlin schreitet unaufhörlich voran, sie treibt mit den neuesten Luxus-Wohnbauten die Spaltung der Gesellschaft auf die Spitze.

"Der Luxus hat seinen Preis. Ein Pent- house mit Blick auf den Bertolt-Brecht- Platz hat ein Käufer bereits für 12 500 Euro pro Quadratmeter erworben - derzeit ein Spitzenwert in Berlin. ... Pool und Fitnessstudio gehören zum Stan- dard." (Berliner Zeitung, 25. 11. 2011, S.

19) Segregation und Gentrifizierung sind dagegen Begriffe für eine nahezu mode- rate und gemütliche, schrittweise Ent- wicklung, die noch in die Epoche einer sozial-ausgleichenden Politik zu weisen scheint.

Heute besetzen sog. Investoren, Raubrittern und Kolonisten gleich, die Filetstücke der Stadt, gefördert von ei- nem sich sozial, sozialdemokratisch und / oder demokratisch nennenden Senat mit seinen willfährigen Majonetten und einer die Einzelinteressen-fördernden und Pri- vatwirtschaft-hörigen Verwaltung.

Die ILLIS ist inzwischen somit zu erweitern: In Berlin ist eine Stadt- entwicklung und eine Stadt- entwicklungspolitik zu beobachten, die bewusst, aktiv und planend den Umbau der Gesellschaft betreibt. Am Ende der Entwicklung steht ein Stadtgefüge mit einer Bevölkerung, die ihrer eigenen Stadt beraubt wurde. " ... die Hälfte der Käu- fer kommt aus dem Ausland: drei aus New York, drei aus Hongkong, aus Eng- land, Italien und der Schweiz." (ebd.) Diese Tendenz der Entfremdung ganzer Kieze von der originären Funktion einer

"Bewohnerschaft" durch Ansässige ha- ben wir schon 2008 in den o.g. "Beiträ- gen" beschrieben (Wir zitieren an dieser Stelle etwas ausführlicher, da die Ab- und Auflösung einer segregierenden resp.

gentrifizierenden Stadtentwicklung mit der Implantierung der ILLIS ihren we- sentlichen Ausgangspunkt hatte). "Aus- differenzierte Kieze innerhalb eines Ge- samt-Stadtgefüges, jedoch ohne die Pro- blematik einer massiven sozialen Entmi- schung bis hin zur Segregation, werden ersetzt durch kleinräumliche, individua- lisierte und individualisierende Wohn- areale, die - Einsprengseln gleich - Fremdkörper resp. „Solitäre“ darstellen.

... Die politische und ideologische Dimen- sion der Subventionierung von Luxus- wohnformen ist augenfällig, sollen sie somit als „sozial“ (statt a-sozial) präsen- tiert werden. ... Sie (Die Luxusprojekte, d. Verf.) sind nicht nur räumlich sepa- riert, wenn nicht sogar ver- und abge- schlossen, sondern auch sozial isoliert.

Sie sind nicht historisch gewachsen, son- dern von außen geplant und implantiert.

Es sind in der Vielzahl nicht einmal

(28)

Beiträge

„communities“, sondern praktizierte „In- dividual-Luxus-Wohnformen“. Der Ver- kauf findet überwiegend an externe „Bür- ger“ statt, so zum Beispiel im Falle des (vorerst gescheiterten) Luxusprojektes

„Fehrbelliner Höfe“ an Briten und Ame- rikaner. ... Das neue Phänomen der „In- dividual-Luxus-Living-Segmentierung“

überspringt einerseits, auf der Zeitschiene betrachtet, den (längeren) Stadt- entwicklungs-Prozess der Gentrifizierung, sie stellt keinen Verlauf mehr dar, sondern eine Implantation.

Andererseits wird, unter räumlicher Be- trachtung, in sehr kleinteiligem Ausmaß ein Fremdkörper - quasi als Injektion - dem bestehenden Gebilde hinzugefügt."

(Eckert, M.: Neoliberale Stadtpolitik und die Perversion des sozialen Wohnungs- baus, in: Beiträge zur Sozial- wissenschaftlichen Praxis und Analyse, Nr. 11, 1-2008, Berlin 2008, S. 5ff)

Wir stellen uns einmal vor, Bertolt- Brecht würde einen Spaziergang an "sei- nem Platz" machen, darauf ein Theater- stück im Berliner Ensemble genießen und die heutige Stadtentwicklung kommen- tieren, wenn er die Vorstellung verlässt.

Ob er dabei nicht seine "Resolution der Kommunarden" im Sinne hätte?

"In Erwägung, daß da Häuser stehen Während ihr uns ohne Bleibe laßt Haben wir beschlossen, jetzt dort einzu- ziehen

Weil es uns in unsern Löchern nicht mehr paßt.

In Erwägung, daß ihr uns dann eben Mit Gewehren und Kanonen droht Haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben

Mehr zu fürchten als den Tod."

(Brecht, B.: Resolution der Kommunarden, vollständig siehe: Dokumente, S. 29f)

(Bertolt-Brecht-Platz, Berlin: Brecht-Plastik und Baugelände Luxus-Wohnungen)

(29)

Dokumente

RESOLUTION DER KOMMUNARDEN - Bertold Brecht -

1

In Erwägung unsrer Schwäche machtet Ihr Gesetze, die uns knechten soll'n.

Die Gesetze seien künftig nicht beachtet

In Erwägung, daß wir nicht mehr Knecht sein woll'n.

In Erwägung, daß ihr uns dann eben Mit Gewehren und Kanonen droht

Haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben Mehr zu fürchten als den Tod.

2

In Erwägung, daß wir hungrig bleiben Wenn wir dulden, daß ihr uns bestehlt

Wollen wir mal feststelln, daß nur Fensterscheiben Uns vom guten Brote trennen, das uns fehlt.

In Erwägung, daß ihr uns dann eben Mit Gewehren und Kanonen droht

Haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben Mehr zu fürchten als den Tod.

3

In Erwägung, daß da Häuser stehen Während ihr uns ohne Bleibe laßt

Haben wir beschlossen, jetzt dort einzuziehen Weil es uns in unsern Löchern nicht mehr paßt.

In Erwägung, daß ihr uns dann eben Mit Gewehren und Kanonen droht

Haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben Mehr zu fürchten als den Tod.

(30)

Beiträge 4

In Erwägung: es gibt zuviel Kohlen Während es uns ohne Kohlen friert

Haben wir beschlossen, sie uns jetzt zu holen In Erwägung, daß es uns dann warm sein wird.

In Erwägung, daß ihr uns dann eben Mit Gewehren und Kanonen droht

Haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben Mehr zu fürchten als den Tod.

5

In Erwägung: es will euch nicht glücken Uns zu schaffen einen guten Lohn Übernehmen wir jetzt selber die Fabriken In Erwägung: ohne euch reicht's für uns schon.

In Erwägung, daß ihr uns dann eben Mit Gewehren und Kanonen droht

Haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben Mehr zu fürchten als den Tod.

6

In Erwägung, daß wir der Regierung Was sie immer auch verspricht, nicht traun Haben wir beschlossen, unter eigner Führung Uns nunmehr ein gutes Leben aufzubaun.

In Erwägung: ihr hört auf Kanonen - Andre Sprache könnt ihr nicht verstehn - Müssen wir dann eben, ja, das wird sich lohnen Die Kanonen auf euch drehn!

(Die "Resolution der Kommunarden" wurde von Hanns Eisler vertont. Bertolt Brecht schrieb den Text im Jahre 1934. Im Jahre 1949 verwendete Brecht die "Resolution" für sein Stück über die Pariser Commune.)

(31)

„Die Sozialwissenschaft arbeitet mit den Akteuren zusam- men, damit sie gemeinsam erkennen lernen, was überhaupt gespielt wird.“ (frei nach Alain Touraine)

Das „Institut für Sozialwissenschaftliche Praxis und Analyse e.V. (ispa e.V.)“ versteht sich in erster Linie als Ort und Möglichkeit, an dem sich unterschiedliche Denk-

richtungen begegnen, sich Perspektiven und Wissenskulturen durchdringen und sich wissenschaftliche Ergebnisse mit konkreten Erfordernissen von gesellschaftlichen Gruppen austauschen.

Insofern geht der Anspruch des Instituts

ispa e.V. über eine rein theoretisch-wissen- schaftliche Ausrichtung hinaus.

ispa e.V.will einen Beitrag zur Veränderung politischer und kultureller Hegemonien leisten.

ispa e.V. strebt die Initiierung eines Projektes an, in dem Menschen für Menschen ein zukunftsfähiges gesellschaftliches Gegen- bild zum Neoliberalismus entwerfen.

ispa e.V. soll dabei gängige Theorien und Strategien mit neuen Entwicklungen und Erkenntnissen befruchten und so der Diskussion ideelle Anstöße geben.

Es geht ispa e.V.nicht darum, Rezepte für Handeln aus dem Hut zu zaubern. Es geht darum, den Möglichkeitssinn zu schärfen und eine offene Diskussion über Verände- rungen anzuregen - insbesondere auch zwischen Wissenschaft und den

vielfältigsten gesellschaftlichen Gruppierun- gen.

ispa e.V. will diese Zusammenarbeit von Gesellschaft und Wissenschaft fördern.

Dabei ist das Institut eine in allen Bereichen unabhängige Einrichtung.

ispa e.V.

ist ein als gemeinnützig anerkannter eingetragener Verein.

Die Arbeit des Instituts wird bis jetzt ausschließlich ehrenamtlich geleistet.

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ist daher auch auf Ihre finanzielle Unterstützung angewiesen.

Ihr Beitrag in Form einer Spende oder als förderndes Mitglied ist steuerlich absetzbar! Schreiben Sie uns - gerne schicken wir Ihnen einen Satzungsauszug sowie ein Formular für die Fördermitgliedschaft!

(32)

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Postfach 540215 D-10042 Berlin

Beiträge zur Sozialwissenschaftlichen Praxis und Analyse

So grau, unwirtlich und trist das Leben oder ein- fach auch nur die visuelle Erscheinung des Stadt- lebens ist, unsere MOTIN helfen über eine farb- harmonische Integration in das städtische Bild, eine gewisse „Fröhlichkeit“

und „Leichtigkeit“ herzu-

stellen.

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