EUROPÄISCHE KULTURHAUPTSTADT MARSEILLE
Eine Stadt sucht ihr wahres Gesicht
Vielen gilt die Hafenmetropole als eine Art südfranzösisches Chicago –
kriminell und dreckig. Inzwischen wurden 670 Millionen Euro investiert, um das zu ändern.
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in bleierner Himmel hängt über der Hafenstadt im Golf de Lion. Nieselregen setzt ein und schafft ein Verkehrschaos auf der Canebière, einer lärmenden Ver- kehrsader im Herzen Marseilles.Gegen Mittag klart es auf. Eine sanf- te Brise weht vom Meer herüber.
Die Stadt verwandelt sich von einem Augenblick zum anderen. Die Stra- ßencafés füllen sich mit Menschen, Teller klappern, Gläser klirren. Ein verführerisches Aroma von gegrill- tem Fisch, exotischen Gewürzen und Knoblauch liegt in der Luft.
Mittlerin zwischen Kulturen
Die Segeljachten im Vieux Port lichten ihre Anker und nehmen Kurs auf das offene Meer. Ihre Stadt zeigt jetzt ihr wahres Gesicht, sagen die Marseillais. Der Regen von vorhin war nur ein „meteorolo- gischer Betriebsunfall“.Mit der alten Fähre, die schon der provenzalische Dichter Marcel Pagnol benutzte, schippern wir ge- mütlich durch den Mastenwald des Alten Hafens. Eine Jolle schneidet die Fähre. Der Mann an Bord weist mit dem Finger auf den Hügel am südlichen Ufer. Auf seinem Gipfel erhebt sich die Kathedrale Notre- Dame-de-la-Garde, das Wahrzei- chen Marseilles. Die vergoldete Mutter Gottes mit dem Jesuskind auf dem Arm misst fast 13 Meter.
Nachts in gleißendes Licht ge- taucht, ist diesem in neobyzantini- schem Zuckerbäckerstil erbauten Monument ein gewisser Charme nicht abzusprechen. Stadtführer Jean-Louis, gebürtiger Marseillais,
sieht seine Aufgabe darin, Fremden seine Heimat als ebenso liebens- werte wie avantgardistische Stadt nahezubringen. „Nicht wenige sind der Meinung, Marseille sei eine Art französisches Chicago. Kriminell und dreckig“, sagt er. Inzwischen wurde die enorme Summe von 670 Millionen Euro investiert, um Mar- seilles Image zu verbessern und die südfranzösische Metropole als Mittlerin zwischen den Kulturen Europas und Nordafrikas zu präsen- tieren. Ein 15 000 Quadratmeter großer Glasquader, der das brand- neue Museum für Europa und die Kulturen des Mittelmeerraumes be- herbergt, wurde vom französischen Architekten Rudy Ricciotti, einer Art Enfant terrible seiner Zunft, entworfen. Und auch das Museum für provenzalische Kunst ist eine Sensation. Die Hälfte dieses futu- ristischen Bauwerks liegt unter Wasser. Marseille erwartet im Kul- turjahr „Marseille Provence 2013“
an die drei Millionen Besucher und lädt zu 900 Veranstaltungen ein.
Wer sich auf Erkundungstour be- gibt, wird neben bekannten Bau-
werken wie dem Hôtel Dieu, einem prächtigen, 1593 erbauten Hospital, und der Vieille Major, der romani- schen Bischofskirche aus dem 12.
Jahrhundert, viel Reizvolles entde- cken. Insgesamt 16 Arrondisse- ments (Stadtteile) zählt Marseille.
Einige davon sind intakte Fischer- dörfer mit schmucken Häusern und farbenfroh lackierten Booten, die direkt vor der Haustür im Wasser dümpeln. Ein Erlebnis ist der Fisch- markt im Vieux Port am frühen Morgen. Hier preisen Fischer ihren frischen Fang lauthals an: See- barsch, Petersfisch, Seeteufel und anderes Seegetier. Hausfrauen prü- fen die Qualität, feilschen und las- sen sich am Quai des Belges zu ei- nem „petit café“ nieder.
Sonnenbad inklusive
Währenddessen legt die Fähre ab, die ihre Passagiere zum Château d’If bringt. Hinter den dicken Mau- ern dieser Zitadelle ließ Alexandre Dumas seinen literarischen Märty- rer, den Grafen von Monte Christo, schmachten. Die Realität war nicht minder düster. Hier wurden nach dem Widerruf des Toleranzedikts von Nantes durch Ludwig XIV. Pro- testanten und andere der Krone un- liebsame Untertanen eingekerkert.
Heute hat die Festung ihren Schre- cken verloren. Man durchquert ho- he Gewölbe und erreicht über stei- nerne Treppen eine breite Aus- sichtsplattform, die sich vorzüglich für ein Sonnenbad eignet.
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Uta Buhr
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Information: www.franceguide.comFoto: dpa
Foto: wikipedia
Frisch vom Kutter:
Am frühen Morgen bieten die Fischer im Vieux Port ihren Fang zum Verkauf an.