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ie Frage, die im ober- bayerischen Bad Aib- ling die Gemüter von mehr als 500 Kurkundigen er- hitzte, enthielt Sprengstoff:„Hat die Kur noch eine Zu- kunft?“
Der Initiator der Veran- staltung, der Orthopäde und Rheumatologe Dr. Rainer Neumann, Ärztlicher Direk- tor der Aiblinger Harthau- sen-Kliniken, durfte schon zufrieden sein, ein Fazit ohne allzu viele Kritikpunkte und Reizflächen
anbieten zu können: Al- le Kliniken und Kurorte müßten sich
hohen Qualitätsansprüchen stellen; ohne Opfer aller Be- teiligten – auch der Patienten – sei die Kur „zum Sterben verurteilt“.
Verständliche und nach- vollziehbare Kasuistik ließ einige Knackpunkte des The- mas in den Hintergrund tre- ten. Beispielsweise daß das Kurwesen sein durch allerlei Versäumnisse ramponiertes Ansehen wieder aufpolieren muß, daß zwischen Kur und Rehabilitation endlich rein- lich zu trennen ist und daß bei aller volkswirtschaftli- chen Bedeutung des Kurwe- sens der ärztlich-medizini- sche Sektor eines klar defi- nierten, von sachfremden ökonomischen Erwägungen und Einflüssen freien Ent- scheidungsspielraums be- darf.
Mit Zahlen, die das der- zeitige Kurdilemma illustrie- ren, wurde auch in Bad Aib- ling nicht gespart. Einige drückten Zuversicht, andere Besorgnis aus. Zur ersteren Gruppe gehörte die Berech- nung, daß eine einzige für Kurzwecke aufgewendete Mark die Gesundheitskosten um drei Mark und die der Al- tenpflege sogar um neunzehn Mark entlastet. Zur letzteren zählte die Prognose des Bayerischen Heilbäderver- bandes, daß die dritte Stufe des Gesundheitsstrukturge- setzes (GSG) allein im Frei- staat Bayern das Kur- und Badewesen mit dem Verlust
von 40 000 Arbeitsplätzen und 38 000 Betten bedroht.
Außerhalb von Zahlen- spielen blieben die statistisch gesicherten Globalwerte, zum Beispiel ein in der Tat erstaunlicher Jahresumsatz des gesamten Kurwesens in Höhe von 21,3 Milliarden Mark oder die Steigerung der Rehabilitationsausgaben allein bei der Bundesversi- cherungsanstalt für Ange- stellte (BfA) von sechs auf neun Milliarden Mark in- nerhalb von nur vier Jah- ren. Ver- ständlicher- weise wur- de gar nicht erst versucht, die Frage des Bundesgesundheitsministers zu beanworten, warum allein in der Krankenversicherung die Ausgaben für Kuren zwi- schen 1991 und 1995 von drei Milliarden auf 4,5 Milliarden Mark geklettert seien. Auch sein Kommentar, daß das
„nicht medizinisch begrün- det“ sein könne, und sein Verdacht, daß da „einiges Geld zum Fenster hinausge- worfen“ werde, wurde nicht erörtert. Woraufhin auch über Seehofers Ansatz, die Kosten des Kurwesens we- nigstens auf das Niveau von 1993 herunterzufahren, gar nicht erst ernsthaft nachge- dacht werden mußte.
Wenn sich auf der Aiblin- ger Tagung trotzdem Neues andeutete, das sogar die Be- fürchtung vom „Sterben der Kur“ abschwächen könnte, so ist das eher peripher einzu- stufen.
In Gesprächen mit Kur- fachleuten wurde nämlich die Bereitschaft erkennbar, der Therapie im Kurverfahren wieder den Vorrang einzuräu- men und das vielfach bean- standete Marketingdenken zugunsten der medizinischen Qualität zurückzudrängen.
Für viele Kurorte – nicht nur in Bayern – könnte dies ei- ne verstärkte Hinwendung zur klinischen Kur und die kriti- sche Überprüfung nicht mehr zeitgemäßer Erscheinungen der sogenannten „offenen Kur“ einleiten. Kurt Gelsner
A-2643 Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 41, 11. Oktober 1996 (71)
V A R I A HEILBÄDER UND KURORTE