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Mein Leben in den Zeiten von Corona

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Academic year: 2022

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Mein Leben in den Zeiten von Corona

vorgelegt von:

Jan-Philipp Rohloff

Paul-Julius-Reuter Berufskolleg Aachen Klasse HBF 182

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I Corona und wie alles begann

In unserer Klasse hatte es seit Februar 2020 heftige Spekulationen über Corona gegeben.

COVID-19, das war für uns eine Grippe, die in China in Wuhan ausgebrochen war, über 300 Millionen Menschen waren in Quarantäne geschickt worden; Die Grippe hatte Tausende an Menschenleben gefordert.

Zu den Toten zählten ältere Menschen, aber auch junge Ärzte.

Wir hatten viel über die YouTube-Videos gechattet, in denen über die Maßnahmen in China und Südkorea berichtet worden war.

Die vielen Handyvideos, in denen chinesische Polizisten von beiden Seiten einen Autofahrer gewaltsam aus seinem Wagen zerrten, um bei ihm Fieber messen zu können. Die Brutalität erschreckte mich.

Dazu kamen Szenen aus China und Südkorea, wie Arbeiter im Schutzanzug und Maske mit einem Desinfiziergerät durch die Stadt liefen und Plätze und Bänke damit säuberten. Wie in einem Sciencefiction-Film. Als ob man in eine andere Welt sehen würde.

Es war gespenstisch und wir hatten dergleichen noch nie zuvor gesehen.

All diese Szenen hatten etwas sehr Beunruhigendes.

Wie weit war Asien weg? Was für eine Bedeutung hatten Tausende von Kilometer, wenn unzählige Flugzeuge aus China täglich in Düsseldorf landeten, Deutschlands größten Charterflughafen? Was für eine Rolle spielte die Globalisierung bei der Verbreitung des Virus?

Um diese Fragen kreisten meine Gedanken.

Es war Sonntag, der 7. März 2020, als das Virus für nichts Abstraktes mehr war.

Spätnachmittags war ich im Wagen gesessen und auf dem Weg ins Theater gewesen, als ich mich auf der Seite der Städteregion Aachen über den aktuellen Stand in Sachen Corona informieren wollte.

„Das Paul-Julius-Reuter Berufskolleg ist für die nächsten zwei Wochen geschlossen.

Die Städteregion Aachen hat sich dazu entschlossen, da eine Schülerin aus dem Kreis Heinsberg sich nachweislich mit dem Virus infiziert hat und sich in häuslicher Quarantäne befindet“.

Diese zwei Sätze hatten etwas Gewaltiges. Eine Schulschließung in Aachen, einer Großstadt in NRW wegen eines chinesischen Virus?

Ich saß wenig später im Theatersaal und konnte mich nicht auf das Stück konzentrieren. Das Musical „Lazarus“ über den Komponisten und Musiker David Bowie, Musik, Tanz und alles andere rauschten an mir nur so vorbei. Wenn Zuschauer husteten, wurde ich nervös.

Für mich schwirrten nun überall chinesische Viren durch den Raum. Kleine unsichtbare Monster im Sturzflug, sozusagen. Ich wollte am Liebsten nachhause. Viel zu gefährlich!

Was bei meiner Mutter und meinen beiden Schwestern, zwölf und fünfzehn Jahre alt, für großes Unverständnis sorgte.

„Du bist heute eine Spaßbremse, lass das endlich“, tönte es von links und rechts, während ich fieberhaft überlegte, wer das Mädchen aus dem Kreis Heinsberg nun sein könnte und in Gedanken meine Kontakte durchging.

Zuhause dann einhellige Meinung im Klassenchat:

„Cool, keine Schule zu haben, Mathearbeit fällt nun aus, aber wie geht es weiter? Sind wir auch infiziert? Dürfen wir überhaupt rausgehen? Müssen wir nun alle sterben?“

Schlafen konnte ich nur wenig, lange lag ich wach.

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Mir war klar, dass sich nun alles ändern würde. Das war beunruhigend und ich hatte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Vor dem Einschlafen musste ich immer wieder an den US-amerikanischen Film „Impact“ denken. Ein Virus bricht aus, ist nicht mehr beherrschbar und bedroht die USA.

Asien war auf einmal sehr nahe und auch die YouTube-Videos erschienen mir nicht mehr irreal, sondern als ob ich das alles selbst erleben sollte.

Am 8. März 2020 schlief ich länger als sonst. Ich hatte den Wecker erst auf 7 Uhr gestellt, weil ich ja nicht zum Bus und in die Schule fahren musste.

Ich war übermüdet und fühlte mich wie gerädert, als ich zum gedeckten Frühstücks- tisch kam. Bevor ich einen Blick in die Tageszeitung werfen wollte, holte ich mir noch Milch und Cornflakes. Dann sah ich das gelbe Post- it auf meinem Teller. Meine Mutter hatte mir Aufgaben aufgeschrieben: Bügeln, Spülmaschine ausräumen, mein Zimmer aufräumen, ein paar Lebensmittel einkaufen. Der Blick in die Zeitung: Der Hauptteil war über Corona mit einem detaillierten Bericht über den Kreis Heinsberg.

Ich beschloss, erst einmal in Ruhe zu frühstücken.

Nach dem Duschen und Zähneputzen arbeitete ich die Liste ab. Während der Mathestunde war ich im Supermarkt, ich bügelte während der Deutschstunde und die Spülmaschine räumte ich während Sport leer.

Es war seltsam und befremdend.

Ganz merkwürdig war es dann gegen 14 Uhr, als meine Schwestern nachhause kamen. Sie hatten noch nichts gegessen und ich hatte wohl den wichtigsten Punkt auf der Liste übersehen: Kochen für uns Drei, und zwar Spaghetti mit Tomatensauce.

Wir standen dann zusammen in der Küche und aßen eine halbe Stunde später.

Beide Mädchen erzählten von ihren Erlebnissen, die Ältere hatte ihre Englisch-Arbeit zurück, bei der Jüngeren war es ein Physik-Test, den sie wiederbekommen hatte.

Ich hörte ihnen zu und dachte nur, seltsam, das geht jetzt mindestens zwei Wochen lang. Meine Schwestern sind voll im Leben und ich bin in so einer Art Co-Quarantäne.

Da fiel mir ein, dass ich vor zwei Wochen einen Infekt gehabt hatte. Sollte ich mich vielleicht testen lassen, rein prophylaktisch? Könnte das auch Corona gewesen sein?

Ich versuchte es bei der Hotline des Gesundheitsamtes Aachen. Nachdem 20 Minuten lang alle Leitungen belegt waren, rief ich einfach bei der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit an. Ob ich Symptome habe oder mich im Kreis Heinsberg aufgehalten hätte, fragte eine freundliche weibliche Stimme. Nein! Ja, dann würde ich sowieso nicht getestet.

Aber man rufe mich zurück, ob ich zu den Kontaktpersonen der betroffenen Schülerin gehöre.

Eine Stunde später war geklärt, dass ich vollkommen unverdächtig bin und einfach bis auf Weiteres zuhause bleiben muss, sozusagen „vom Schul-Dienst suspendiert bin“.

Mein Leben veränderte sich nun sehr schnell.

Die zwei Judo-Gruppen, die ich seit zwei Jahren als Jugendtrainer betreut hatte, wurden abgesagt, jeden Dienstag von 16 bis 19 Uhr hatte ich nun auch zur freien Verfügung.

Der letzte Kontrapunkt wurde gesetzt, als das Fitness-Studio schließen musste und mein Gitarrenunterricht gecancelt wurde auf unbestimmte Zeit.

Meine Struktur war komplett zusammengebrochen.

Ein chinesisches Virus hatte einfach so mein ganzes Leben als Oberstufenschüler in NRW lahmgelegt.

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In diesem Moment war mir klar, dass nichts mehr so bleiben würde, wie es war. Wie ich es gewohnt war. Wie ich es kannte.

Mein Rahmen, der aus Schule, Freizeit und Sport bestand, war komplett weggefallen.

Ich war nun vollkommen auf mich gestellt.

Mir war bewusst, dass es nun allein an mir lag, was ich daraus machen würde.

Aber wie und was sollte ich tun?

Ich war verunsichert.

Wenn ich im Fernsehen die Nachrichten, eine Sondersendung darüber gesehen oder aber die Zeitung gelesen hatte - COVID 19 war überall.

Drei Virologen, fünf Meinungen, und dann tauchte regelmäßig ein weiterer Experte auf, der eine ganz andere Meinung präsentierte. Ich war verwirrt.

Wenn man sich von Mensch zu Mensch anstecken konnte, warum sollte man dann keine Schutzmaske tragen? Das verstand ich nicht. In Südkorea tragen sie alle Masken und es hatte die Infektionen nachweislich reduziert.

Die Infektionszahlen stiegen in Deutschland kontinuierlich an so wie die Todesfälle.

„Exponentielles Wachstum“ nannte sich das. Für mich war das ein Beleg dafür, dass ich das, was ich in Mathe gelernt hatte, auch im wirklichen Leben anwenden konnte.

Der Kreis Heinsberg erlangte traurige Berühmtheit über NRW hinaus als „Corona- Hotspot“.

Meine Tage waren nun alle gleich. Ich ließ mich später wecken, machte meine Aufgaben im Haushalt und mittags kochten wir drei Geschwister dann zusammen.

Ansonsten lief ich draußen abends meine Joggingrunden und vermied es tunlichst, jemanden zu nahe zu kommen.

Mein bester Freund ging mir aus dem Weg, weil seine Schwester Asthmatikerin ist und deswegen mit 19 Jahren als besonders gefährdet gilt.

Als er mir auf der Joggingrunde begegnete, lief er einen großen Bogen um mich herum und rief laut so etwas, wie „hi, halte mal schön Abstand, nachher können wir ja mal schreiben“.

Das war hart. Kontakt gab es nur noch über Soziale Medien.

Nach wenigen Tagen änderte sich auch diese Situation. Wir erhielten Aufgaben per Mail und beschäftigten uns mit Arbeitsblättern.

Mit den Mails kamen viele Arbeitsaufträge herein, Referate schreiben, Aufgabenblätter ausfüllen.

Neben dem Haushalt und dem Kochen hatte ich nun gut zu tun.

Aber es gab auch Vorteile. Ich war zuhause alleine, konnte mir alles frei einteilen, auch mal laut Musik hören. Eigentlich hatte ich mich trotz Corona gut eingerichtet.

Der 16. März 2020 änderte dann wieder alles. Mit großem Interesse verfolgte ich die Ansprache unserer Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel und die Rede unseres Ministerpräsidenten Armin Laschet.

Nun waren alle Schulen in NRW und der gesamten BRD geschlossen.

Auch die meisten Geschäfte waren zu.

Das bedeutete für mich: Meine Schwestern waren nun also auch zuhause. Obendrein war meine Mutter ins Homeoffice geschickt worden.

Sie hatte ihren Dienstlaptop nun auf ihrem Schreibtisch stehen und uns schon am Wochenende gesagt: „Das läuft nur, wenn ihr alle mitmacht und euch gegenseitig unterstützt. Ihr habt auch eure Aufgaben zuhause zu erledigen, ich schaffe das nicht ohne euch. Bitte“.

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Mein Tagesablauf änderte sich ein zweites Mal. Ich stand immer noch um 7 Uhr auf, war dann aber der letzte am Frühstückstisch. Die ganze Familie war zuhause. Die Arbeiten im Haushalt teilte meine Mutter nun neu auf.

Ich war weiterhin für das Einkaufen zuständig. Wobei: Einkaufen während der Corona- Pandemie - darauf konnte ich mich nicht wirklich vorbereiten und was ich dann erleben sollte, hätte ich nie für möglich gehalten.

Tumultartige Szenen spielten sich bei einem Discounter ab acht Uhr morgens ab, als Desinfektionsmittel angeboten wurden. Ich hatte vorher noch nie gesehen, dass Kassierer bedroht werden, weil sie sich an die Vorgaben halten. „Nur drei Stück“ pro Person stand auf der Eingangstür. Das wollten mehrere Kunden nicht akzeptieren und verlangten lautstark, mehr kaufen zu dürfen. Der Filialleiter musste eingreifen und seine Mitarbeiter vor Handgreiflichkeiten schützen.

Viele Kunden packten die Einkaufswagen so voll, als ob eine Hungersnot drohen würde.

Hefe und Toilettenpapier hatte sich zur Mangelware entwickelt. Allein die Nachfrage bei Verkäufern, wann denn mit einer Lieferung zu rechnen sei, hatte eine schroffe Abfuhr zur Folge – man wisse es nicht.

Ich wollte auch Mund- und Nasenschutzmasken kaufen – aussichtslos. Kein Drogeriemarkt hatte die Masken vorrätig, was auch für Einmal-Handschuhe, Essig- und Sanitärreiniger galt. Oft musste ich draußen vor dem Markt warten, Security war abgeordnet, damit nicht zu viele Kunden gleichzeitig im Markt waren. Hände und Einkaufswagen wurden desinfiziert. Das hieß dann, an kalten Märztagen draußen stehen und warten, bis ein Kunde den Markt verlässt.

Als ob ich selbst in einem Katastrophenfilm mitspielen würde und mich nur kneifen müsste. Das konnte nur ein Alptraum sein.

Meine Schwestern zumindest waren der Meinung, ich würde bestimmt übertreiben.

Mein Angebot, dass sie ja dann ja die Einkäufe übernehmen könnten, lehnten sie dankend ab.

Unermüdlich versuchten die Lehrer jeden Tag aufs Neue, den Unterricht aufrecht zu erhalten. Die Corona-Pandemie bedeutete ja nicht, dass keine Schulpflicht mehr bestand.

Viele Lehrer starteten den Versuch, den Unterrichtsausfall über die Lernplattform

„Moodle“ und per Mail aufzufangen. Es stellte sich schnell heraus, dass die Lernplattform mit dem Ansturm unzähliger Schüler nicht klarkam und kapitulierte. Es funktionierte gar nichts. Immer wieder stürzte alles ab. Warum das in Australien wohl klappt und alle Schüler im Outback online unterrichtet werden können und bei uns nicht?

Frustrationstoleranz war angesagt und eine gehörige Portion Hartnäckigkeit.

Schließlich wollte ich den Anschluss nicht verlieren.

Mein E-Mail-Postfach wurde täglich voller und ich hatte den Eindruck, dass meine Lehrer unter Druck standen, uns mit genügend Aufgaben zu versorgen. Als ob das ein schulinterner Wettbewerb sei, wer am meisten Seiten online verschickt. Auf dem Spitzenplatz stand erstaunlicherweise meine Mathe-Lehrerin, dicht gefolgt von Wirtschaftsinformatik und Deutsch.

Nach einigen Tagen stellte ich fest:

Homeschooling ist für einige Fächer definitiv keine Alternative zum Frontalunterricht.

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In Mathe bekamen wir mehrere Aufgabenblätter zu dem „Gauß-Verfahren“. Das hatten wir nur kurz angerissen in der letzten Unterrichtsstunde.

Wie die Aufgaben nun zu lösen waren? Das wusste keiner. YouTube-Videos gab es zu diesem Thema auch nicht und leider hatte keiner der Mitschüler – mich eingeschlossen – einen Verwandten oder Bekannten, der sich damit auskennt.

Es folgten endlose Stunden, in denen wir uns zu dritt via Skype damit beschäftigten, eine Lösung zu finden, als es dunkel wurde, bekam ich Kopfschmerzen. Es war zum Verrückt werden. Online – Abgabefrist war 24 Uhr. Ich ging am frühen Morgen ins Bett.

Das Feedback war dann einen Tag später da: 90 Prozent waren richtig. Das hatte sich also gelohnt. Ich war stolz, dass ich das durchgezogen und nicht aufgegeben hatte.

Nach ein paar Tagen war meine Mutter abends nervlich sehr mitgenommen gewesen.

Sie redete mit uns beim Abendessen, das könne so nicht weiter gehen. Sie müsse Vollzeit arbeiten, da brauche sie Ruhe. Sie könne nicht nebenbei Englisch- Grammatikfragen und in Biologie die Photosynthese ihren Töchtern erklären.

Beide hatten nämlich überhaupt noch keine Erfahrung damit wie es ist, Aufgaben zuhause lösen zu müssen, ohne dass man beim Lehrer nachfragen kann.

Also kamen für mich weitere Aufgaben dazu, nämlich die des „Hauslehrers“ meiner Schwestern.

Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Ich hatte selbst genug zu tun. Wenigstens verteilte sich nun die Hausarbeit auf uns drei, staubsaugen übernahm Nr. 2 und Töpfe abwaschen war nun die Sache unseres Nesthäkchens.

Ich organisierte meinen Tag also wieder neu. Mathe zehnte Klasse konnte ich noch.

Auch Englisch Mittelstufe. Ab neun Uhr morgens waren wir alle am Schreibtisch und ab elf Uhr war fand dann unser Meeting statt. Wir trafen uns am Esstisch bei einem zweiten Frühstück, besprachen die Fragen. Für alle weiteren Probleme lag das Tablet auf dem Tisch und wir schauten nach, ob es ein YouTube – Video dazu gab. Für Englisch- und Französisch-Vokabeln nutzten wir das Smartphone.

Unsere Mutter setzte sich auch immer zu uns und schaute sich unsere Aufgabenblätter an, wenn auch meist nicht lange.

Sie fand das toll, wie wir das hinbekommen haben. Reibereien lächelte sie noch weg, wir sollten uns doch bitte zusammenreißen, wir seien ja schon groß und vernünftig.

Als wir erste Anzeichen eines „Lagerkollers“ bekamen meinte sie nur: „Meuterei ist keine Lösung. Uns geht es gut, wir sind gesund! Auch diese Zeit geht vorbei. Die Schulen machen bald wieder auf, ganz bestimmt“.

Nach dem Mittagessen lernten wir jeder für uns alleine oder machten Sport.

Abends saßen wir nun auch oft zusammen und verbrachten Zeit zusammen mit Gesellschaftsspielen wie „Mensch ärgere dich nicht“, Kartenspiele, das Detektivspiel

„Cluedo“.

Oder aber wir sahen zusammen fern.

Die Fernseh-Nachrichten waren jeden Tag aufs Neue erschreckend.

Der Bericht aus Italien.

Wir sahen einen Militärkonvoi, der auf einer langen, geraden Straße die Corona-Toten zum Friedhof fuhr, die dunkelgraue Fahrzeugkolonne schien kein Ende zu nehmen.

Es waren so viele Menschen gestorben, dass die Bestattungsunternehmen nicht mehr nachkamen und das Militär aushelfen musste.

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Wir sahen Krankenschwester, die von unvorstellbaren Zuständen berichteten. Überall fehlten Masken und Schutzanzüge.

Über 130 italienische Ärzte starben an Corona.

Ich hörte zum ersten Mal von „Triage“ und fragte mich, wie ich als Mediziner damit umgehen würde, wenn ich über Leben und Tod eines COVID – 19 – Patienten zu entscheiden hätte. Wie kann man mit so einer Verantwortung umgehen, wenn man von zwei Patienten nur einen beatmen kann?

Der Tod war uns auf einmal sehr nahe.

Wir saßen zusammen und es war sehr still. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.

Meine Schwestern meinten beide, sie hätten Angst. Angst um sich selbst natürlich, aber Angst um alle älteren Verwandten und Bekannten. Was wäre, wenn auch bei uns so viele Senioren sterben müssten?

Dass ich auch so dachte, behielt ich für mich. Nicht, dass sie noch mehr Angst bekämen, ich wollte sie beschützen.

Jugendliche waren auch nicht davon ausgenommen. In Belgien war eine 16jährige, in Frankreich ein fünf- jähriger gestorben, es konnte also jeden treffen. Auch Teenager wie uns.

Der Tod war nun überall, er lauerte auf Türklinken, in Aerosolen und auf Tisch- oberflächen. Er war unsichtbar und erbarmungslos. Und: Das Virus diskutiert nicht, es schlägt zu.

Am nächsten Morgen saßen meine beiden Schwestern übermüdet am Frühstücks- tisch, sie hatten dunkle Ränder unter den Augen und gähnten.

„Was ist denn mit Euch los?“, fragte ich sie.

Sie sahen mich an und es kam unisono aus ihrem Mund „Ich habe Angst“.

Ich nahm beide nacheinander in den Arm. „Ich bin ja da“, meinte ich und drückte sie fest. „Uns passiert schon nichts, und Oma und Opa auch nicht“.

Ich konnte nur hoffen, dass die Kontaktsperren auch funktionierten und das Virus bei uns nicht zuschlug.

Als ich danach mit dem Rad einkaufen war, sprach mich eine ältere Nachbarin darauf an, ob ich nicht ein Paket für sie zur Post bringen könnte, sie habe Angst vor einer Ansteckung mit Covid-19. Sie wohnt ein paar Häuser weiter. Ich kannte noch nicht einmal ihren Namen. Eine Kleinigkeit, die ich gerne erledigt habe. Auf dem Rückweg sah ich, wie sie mir aus ihrem Küchenfenster zuwinkte.

Das Pfadfindermotto, jeden Tag eine gute Tat, hatte ich schon fast vergessen.

Und ich war mir bewusst, dass sich mein ganzes Leben durch Corona verändert hatte.

III Meine Osterferien

Ich denke, dass ich noch nie Ferien gehabt hatte, in die ich einfach so reingerutscht bin. Der letzte Schultag vor den Ferien mit einem gemeinsamen Frühstück im Klassenzimmer fiel ja aus. Es war so wie die Wochen zuvor auch.

Kein Unterricht, alle drei Kinder zuhause, die Mutter im Homeoffice.

Ehrlich gesagt gab es auch noch ein paar Arbeitsblätter, die ich in der Schulzeit nicht geschafft hatte.

Meinen Schwestern ging das auch so. Wir hatten also noch zu tun.

Wir waren schon in einer Art Alltagstrott gefallen. Jeder hatte seine Aufgaben. Wir teilten uns den Haushalt, kochten zusammen. Ich schaute die Aufgabenblätter meiner

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jüngsten Schwester nach. Vokabeln fragten wir uns gegenseitig ab. Unsere Freunde sprachen wir über Skype, für die Schule gab es die Chatgruppen in den Sozialen Medien.

Wie feiert man Ostern, wenn man die Gottesdienste ausfallen und man die Großeltern nicht besuchen darf?

Wir versteckten selbst bemalte Ostereier und Schoko-Hasen im Garten und hatten rechtzeitig daran gedacht, ein Päckchen mit Pralinen und einem selbst gebackenen Osterlamm zu verschicken. So war unsere Familientradition bewahrt, auch wenn die Glückwünsche über Skype nicht vergleichbar sind wie wenn man sich umarmen kann.

Unseren Großeltern ging es gut, sie waren eher um uns besorgt, wie wir das dauerhaft ohne Schule, Sport und soziale Kontakte schaffen würden.

Am 12. April 2020 kam dann die Nachricht der Schulministerin in NRW über den Schulbeginn: Für Abiturienten sollte es am 23. April, für uns ab dem 4. Mai 2020 losgehen. Mit kleinen Klassen von 15 Schülern, zwei Meter Abstand und Einhaltung aller geltenden Hygieneregeln.

Wie das funktionieren sollte, war uns überhaupt nicht klar.

Für meine Klasse bedeutete das drei Gruppen.

Wie das mit den vielen Klassen zu realisieren sein sollte? Wir hatten sowieso schon zu wenige Klassenzimmer.

Wie so schnell hygienische Sanitäranlagen geschaffen werden sollten war mir ein Rätsel, sie waren veraltet, verdreckt und unappetitlich. Wir gingen alle lieber im benachbarten Shoppingzentrum auf die Toilette. Und was soll das alles bringen, wenn der Bus überfüllt ist? Sollten wir also wie die Ölsardinen in die Schule fahren und dann mit zwei Meter Abstand in der Klasse sitzen? Da war mit weiteren Infektionsherden zu rechnen. Das war auch keine Lösung.

Vielleicht ging es gut. Vielleicht kam aber auch eine neue Infektionswelle auf uns zu mit einem zweiten Lockdown.

Wir diskutierten viel darüber und waren uns einig, dass man erst später wissen werde, was richtig und falsch war. Klar war: Wir mussten da jetzt durch.

Neuerdings hieß es, dass Masken doch sinnvoll seien und eine Ansteckung verhindern würden. Leider waren sie nicht in den Apotheken und Drogeriemärkten zu bekommen, ich war schon zehn Mal da gewesen und habe nachgefragt.

Seit dem 27. April 2020 besteht nun Maskenpflicht in NRW beim Einkaufen und im Öffentlichen Nahverkehr. Zum Glück haben wir von einer Bekannten selbstgenähte Masken bekommen haben, zwei Stück für jeden von uns.

Schnell habe ich gemerkt, dass die gegenseitige Rücksichtnahme ihren Preis hat: Mir wird mit Maske nach 15 Minuten schlecht und ich bekomme keine Luft mehr. Meine Schwester meinten, dass ihre Brille schnell beschlägt. Damit das alles klappt heißt es früh einkaufen, wenn wenig los ist, anders geht das nicht.

Unsere Schulen benachrichtigten uns per Mail, wir hätten am 4. Mai 2020 wieder Unterricht. Wir bekämen noch einmal Bescheid, wann wir wiederkommen sollten.

In der Zeitung stand, dass die Schulleitervereinigung selbst der Meinung sei, dass die Hygienevorschriften an den meisten Schulen schon unter „normalen Alltagsbe- dingungen“ nicht eingehalten werden könnten. Wir wussten ja, dass das den Tatsachen entspricht.

Aber würde das nun vielleicht bedeuten, dass wir nun gar keinen Unterricht mehr haben werden vor den Sommerferien? Oder nur jeder von uns ein paar Stunden?

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Während in der Politik darüber debattiert wurde, wann Bundesligaspiele wieder stattfinden dürfen, interessierte es wohl wenig, was für Kinder und Jugendliche getan werden muss.

Wir haben nach der UN-Kinderrechtscharta ein Recht auf Bildung und Freizeitgestaltung. Trotzdem blieben Spielplätze, Sportplätze, Freizeitparks weiterhin geschlossen.

Wir waren alle beunruhigt.

Klar, dass wir uns arrangiert hatten, aber wir hatten alle drei eine Sehnsucht nach Normalität, dem gewohnten Alltag. All das schien so fern zu sein. Sechs Uhr aufstehen, frühstücken, zum Bus laufen, in die Schule fahren, Hausaufgaben, Klausuren schreiben. Freunde treffen. Sport machen. Es war so weit weg. Die Corona-Pandemie hatte unser Leben verändert und ich überlegte, ob das alles war.

Hatte sie auch uns verändert? Was macht die Corona – Pandemie mit ihren Kontaktsperren und Einschränkungen mit den Menschen? Was hat sie mit mir gemacht?

IV Ausblick

Heute ist der 10. Mai 2020. Ich bin nun seit über zwei Monaten ausschließlich zuhause.

Homeschooling, Haushalt, Familie. Abstand halten, mit Mundschutz einkaufen.

Freunde sehen nur über Skype.

Das ist seit fast zwei Monaten meine Lebenswirklichkeit. Zumindest gibt es einige Lockerungen für Fitness-Studios, Restaurants und Museen.

Es hat sich deutlich gezeigt, wie viel Nachholbedarf in Sachen Digitalisierung der Schulen besteht. An Privatschulen scheint das gut zu funktionieren, an unserer staatlichen Schule ging gar nichts. Wie sollen wir den Rückstand wieder aufholen? Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass die Schulen hier schnellstmöglich besser ausgestattet werden müssen.

In Dänemark und Norwegen sind die Kitas und Schulen seit einem Monat wieder geöffnet, keiner muss Mundschutz tragen. Die Niederlande starten ebenfalls wieder am 15. Mai 2020.

Der Schulbeginn für uns wurde auf Anfang Juni 2020 verschoben.

Ich kann das nicht verstehen. Das Virus ist doch überall das Gleiche?

Andererseits sind die Verantwortlichen nicht zu beneiden: Was ist, wenn man vorschnell öffnet und die Todeszahlen explodieren?

Wie schön wäre es, den Sommerurlaub wieder einmal in Griechenland zu verbringen.

Wir würden rauskommen und Tapetenwechsel uns auf jeden Fall gut tun. Ob dies wohl möglich sein wird dieses Jahr? Aber was ist, wenn im Hotel COVID-19 ausbrechen sollte und wir vielleicht erst einmal nicht mehr nachhause kommen sollten?

Wir diskutieren viel darüber zuhause und mit meinem Freund rede ich auch darüber.

Wer hätte gedacht, was für einen Stellenwert die Gesundheit mal haben würde?

Wir wünschen uns immer „bleibe gesund“, wenn wir uns verabschieden.

Für mich haben sich auch die Prioritäten geändert.

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Mittlerweile weiß ich, dass es nicht selbstverständlich ist, gesund zu ein. Die Schwester meines Freundes, die zur Risikogruppe gehört, hatte einen Infekt und ist negativ auf Corona getestet worden. Ich freue mich sehr darüber.

Ich weiß es sehr zu schätzen, nicht zu den Risikogruppen zu gehören, die Angst vor einer Infektion mit COVID – 19 haben.

Ich weiß nun, wie kostbar das Leben ist.

Ich sehe auch mit anderen Augen wie schön es ist, eine Familie zu haben. So war ich nie isoliert wie andere Menschen, sondern immer in einer Gemeinschaft.

Viele neue Erfahrungen habe ich gemacht und ich bin in der Corona-Pandemie-Zeit auch über mich hinausgewachsen.

Ich musste meinen Tag mehrmals neu organisieren und habe Verantwortung übernommen, die ich vorher nicht hatte.

Mir hat es so viel Spaß gemacht, mit meinen Schwestern zuhause zu lernen und ihnen Zusammenhänge zu erklären, dass ich meinen Berufswunsch überdacht habe.

Bis zu der Corona-Pandemie fand ich den Lehrerberuf eher abschreckend, nun weiß ich wie viel man Jüngeren mitgeben kann und über sich selbst erfährt, wenn man pädagogisch mit Schülern arbeitet. Vielleicht werde ich mich nach dem Abitur für zwei meiner Lieblingsfächer Deutsch, Geschichte, Politik und Sport an der Universität einschreiben und auf Lehramt studieren.

Dann noch das soziale Miteinander. Was hat sich die ältere Dame in der Nachbarschaft darüber gefreut, dass ich für sie eingekauft und in der Apotheke Medikamente besorgt habe. Ihre sichtbare Freude kam direkt zurück zu mir.

Für mich bedeutet das, dass ich durch die Corona-Pandemie nicht nur viel Neues gelernt und erfahren, sondern mich auch persönlich weiterentwickelt habe.

Allerdings geben alle Erfahrungen mit der Corona-Pandemie aus meiner Sicht Anlass, über die Globalisierung nachzudenken: Ist es sinnvoll, Schutzmasken, - anzüge und Antibiotika nur noch in Asien herzustellen zu lassen und sich in eine Abhängigkeit zu begeben, die sich im Falle einer Pandemie als fatal herausstellt? Darüber sollten die verantwortlichen Politiker sich einmal Gedanken machen.

Was wäre eine Pandemie mit allen Einschränkungen und Kontaktsperren ohne Hoffnung?

Ich sehe gelegentlich abends, wie die Menschen sich nicht entmutigen lassen wollen und auf bessere Zeiten hoffen.

Abends fährt regelmäßig die Freiwillige Feuerwehr durch die Straße und spielt: “Und immer wieder geht die Sonne auf“ von Udo Jürgens. Ein Polizeihauptkommissar, ausgebildeter Bariton, hatte das Lied zusammen mit Kollegen aufgenommen, um die Menschen auf andere Gedanken zu bringen. Es ist schön zu sehen, wie das Lied die Menschen aufmuntert und ihnen guttut. Fast alle, Jung und Alt, bleiben stehen, wippen mit und winken.

Wer die Corona-Pandemie mit ihren Einschränkungen als Chance nutzt, seine Werte zu hinterfragen und etwas für das soziale Miteinander zu tun, wird bereichert aus der Zeit herauskommen und persönlich davon profitieren.

Meine Hoffnung ist, dass wir diese Werte und Erfahrungen mit in eine Zeit nehmen, in der wieder Normalität herrscht.

Dann würden wir für die Gesellschaft und unsere Zukunft das Gute an der erlebten Pandemie bewahren.

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