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Die geisteswissenschaftliche Betrachtung der Erzieher-Zögling-Beziehung in der stationären Kinder- und Jugendhilfe

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Hochschule Neubrandenburg

Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung

Studiengang Soziale Arbeit SS 2018

Die geisteswissenschaftliche Betrachtung der

Erzieher-Zögling-Beziehung in der stationären

Kinder- und Jugendhilfe

Bachelorarbeit

urn:nbn:de:gbv:519-thesis 2018-0337-0

Verfasser: Franziska Hänßgen

Erstprüfer: Prof. Dr. Werner Freigang

Zweitprüfer: Prof. Dr. phil. habil. Barbara Bräutigam

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung...1 1. Beziehungen...2 1.1 Psychologische Beziehung...2 1.1.1 stabile Interaktionsmuster...2 1.1.2 Beziehungsschemata...2 1.2 Pädagogische Beziehung...3

1.2.1 Rollenbeziehung nach Asendorpf/ Banse...3

1.2.2 Persönliche Beziehung nach Asendorpf/ Banse...3

1.2.3 spezifische Sozialbeziehung nach Oevermann...4

1.2.4 diffuse Sozialbeziehung nach Oevermann...4

1.3 Identität...4

1.4 Handlungsfreiheit und Willensfreiheit ...5

1.5 Einfluss von Freiwilligkeit und Zwang auf den Beziehungsaufbau...8

1.6 Macht ...9

1.7 Scham...11

1.8 Nähe und Distanz...12

1.9 Vertrauen...12

1.10 Entscheidende Persönlichkeitsmerkmale für Beziehungsaufbau/-bestand...13

1.10.1 Empathie...13

1.10.2 Wertschätzung...13

1.10.3 Echtheit/ Kongruenz...13

1.11 Übertragung und Gegenübertragung...13

1.2 Objektbeziehungstheorie...14

2. Bindung...15

2.1 Bindungsmuster...16

2.2 Bindungsstörungen...17

2.2.1 Reaktive Bindungsstörung (F94.1)...19

2.2.2 Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (F94.2)...19

2.2.3 Ursache von Bindungsstörungen...19

2.3 Sichere Basis...21

3. Heimerziehung...21

3.1 Anlässe für eine Fremdunterbringung ...22

3.2 Betreuungsformen der Heimerziehung...24

3.3 Heimgruppe...24

3.3.1 Schichtdienst...25

3.3.2 Fluktuation des Personals...26

3.3.4 Wechsel von Kindern und Jugendlichen...26

3.3.4 Zentralheim aus Sicht der Eltern...27

3.3.5 Beziehungen der Kinder und Jugendlichen zu den Erziehern im Heim...27

3.4 Herman Nohl und der pädagogische Bezug...28

3.4.1.Relative Autonomie der Pädagogik ...29

3.4.2 Erziehung als pädagogische Gemeinschaft...29

3.4.3 Erziehung als pädagogisches Verhältnis...30

3.4.4 Pädagogische Gemeinschaft wird von zwei Mächten getragen...30

3.4.5 Erziehung als antinomisches Verhältnis...30

3.4.6 Lob und Kritik am pädagogischen Bezug...31

4. Zusammenfassung...31

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Einleitung

Menschen sind aufeinander angewiesen um überleben zu können. Die zwischen-menschliche Beziehung spielt dabei eine entscheidende Rolle. Innerhalb einer Be-ziehung wirken Menschen aufeinander ein, kommunizieren und arbeiten zusam-men. Erziehungs- und Lernprozesse sind untrennbar mit der Erfahrung und Ge-staltung von zwischenmenschlichen Beziehungen verbunden.

Es ist vermutlich nichts neues, wenn man hört: „Beziehung ist die Grundlage für eine gelingende Sozialarbeiter-Klienten-Arbeit.“. Dem kann man leicht zustimmen. Doch was ist eine Beziehung?

Eine Beziehung lässt sich schwer in einem Satz erklären, weil zu viele Komponen-ten existieren die ebenfalls betrachtet werden müssen. Die humanwissenschaftli-chen Disziplinen Psychologie, Psychoanalyse, Pädagogik, Soziologie und Philo-sophie setzten sich mit der Thematik Beziehung und Beziehungsarbeit auseinan-der. Die vorliegende Arbeit ist lediglich ein analytischer Streifzug durch die ver-schiedenen Theorien. Zunächst geht es um den Begriff der „Beziehung“ und wei-tere Faktoren die in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle spielen. Anschließend geht es um „Bindung“. Dieser Begriff tauchte bei der Auseinander-setzung mit Beziehung immer wieder auf. Deshalb hier die Frage: Ist Bindung das selbe wie Beziehung? Neben der Klärung was Bindung ist, wird noch auf die The -matik der Bindungsmuster und Bindungsstörungen eingegangen.

Im letzten Teil dieser Arbeit wird ein Bezug zur Praxis gestellt. Dafür wird das Ar-beits- und Lebensfeld „Heim“ genauer betrachtet.

In der vorliegenden Arbeit wurde die männliche Schreibweise gewählt, um den Le-sefluss zu verbessern. Es sei darauf hingewiesen, dass bei allen Textpassagen die weibliche Form ebenso miteingeschlossen ist, auch wenn dies nicht explizit aufgeführt wird.

(4)

1. Beziehungen

Verschieden Humanwissenschaften beschäftigten und beschäftigen sich noch im-mer mit der Beziehungsthematik. Folglich gibt es verschiedene Definitionen von Beziehung. Es werden nun die Definitionen aus der Psychologie und Pädagogik vorgestellt.

1.1 Psychologische Beziehung

Psychologische Beziehungen basieren auf Interaktionen von Personen, die nicht als Einzelpersonen gesehen werden, sondern als Dyaden. Die sozialen Interaktio-nen bestehen aus Interaktionsmustern oder auch Verhaltenskette sowie Bezie-hungsschemata (vgl. Schäfter 2010, S.23).

1.1.1 stabile Interaktionsmuster

Die Interaktionsmuster lassen sich als stabil beschreiben, wenn sich durch ein wiederholendes Auftreten der Interaktionen, ein thematischer Bezug herausbildet und eine gewisse Vorhersagbarkeit des Verhaltens der Dyaden vorliegt. Beziehun-gen folBeziehun-gen nicht nur einem Interaktionsmuster, sondern mehreren Mustern die sich von Situation zu Situation ändern und angleichen (vgl. Asendorpf/Banse 2000, S. 1ff).

1.1.2

Beziehungsschemata

Diese behavioristische Sicht des Interaktionsmusters wird durch ein kognitives Modell von Baldwin (1992) vervollständigt, demnach jede Person als Teil einer Be-ziehung ein BeBe-ziehungsschema entwickelt, welches aus dem Bild der eigenen Person (Selbstbild), dem Bild der Bezugsperson und einem Interaktionsskript be-steht. Interaktionsskripte sind Erwartungen eines Interaktionsablaufs, die ebenso wie die kognitive Repräsentation der eigenen und der anderen Person unter-schiedlich oder sogar gegensätzlich sein können. Das Beziehungsschema im Sin-ne von Interaktionsmustern ist situationsspezifisch und beinhaltet Zukunftsper-spektiven, also Vorstellungen von der Dauer und der emotionalen Intensität (vgl.

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Asendorpf/ Banse 2000, S. 4ff.).

Durch eine Mischung von Interaktionsmustern und Beziehungsschemata, die sich wechselseitig entwickeln, entsteht eine Beziehung.

1.2 Pädagogische Beziehung

Zunächst wird hier eine Übersicht über die Differenzierung der Beziehungsformen nach den Psychologen Jens Asendorpf und Rainer Banse gegeben und an-schließend die von dem Soziologen Ulrich Oevermann. Die Darlegung der unter-schiedlichen Bezeichnung der Beziehungsformen sind für das Verständnis späte-rer Nutzung im weiteren Textverlauf nötig.

1.2.1 Rollenbeziehung nach Asendorpf/ Banse

In der „Rollenbeziehung“ agieren die Interaktionspartner als „Rollenträger“. Sie verhalten sich gänzlich unpersönlich und handeln nur so wie es von ihrer „Rolle“ kulturell erwartet wird (vgl. Asendorpf/ Banse 2000, S.7).

1.2.2 Persönliche Beziehung nach Asendorpf/ Banse

Wird die soziale Interaktion nicht mehr ausschließlich durch Rollenerwartung be-stimmt und die Verhaltensanforderungen sind gelockert, so kann eine persönliche Beziehung beginnen (vgl. Asendorpf/ Banse 2000, S.9).

Bei einer länger andauernden sozialen Beziehung ist es äußerst schwer eine reine Rollenbeziehung aufrecht zu erhalten und sie nicht zu einer persönlichen hung „wachsen“ zu lassen. Empirisch zeigt sich, dass Personen sich in Bezie-hungssituationen zwischen den beiden Beziehungsformen unter Einfluss des per-sönlichen Empfindens, der institutionellen Rahmung sowie den gesellschaftlichen Erwartungen bewegen (vgl. Asendorpf/ Banse 2000, S.9).

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1.2.3 spezifische Sozialbeziehung nach Oevermann

Die vorher genannte Rollenbeziehung bezeichnet Oevermann in seiner Darlegung als eine „spezifische Sozialbeziehung“, die sich primär an ihrem Auftrag bzw. ihrer Funktion orientiert (Wigger 2017, S. 142, nach Oevermann).

1.2.4 diffuse Sozialbeziehung nach Oevermann

In „diffusen Sozialbeziehungen“ haben beide Interaktionspartner die Erwartung, dass auch persönliches zum Thema gemacht werden kann (Wigger 2017, S. 142,

nach Oevermann).

Die Professionelle Arbeitsbeziehungen nach Oevermann enthält sowohl spezifi-sche als auch diffuse Elemente. Für den Auftrag der Autonomieentwicklung ist es wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen sich als ganze Person in die Arbeitsbe-ziehung einbringen können. Die Fachperson sollen sich nur soweit als ganze Per-son einbringen, wie es für die Erfüllung dieses Auftrages nötig ist.

1.3 Identität

Soziale Beziehungen sind eine wichtige Grundlage für die Identitätsausbildung je-des Einzelnen. Nach Vorstellung je-des Philosophen und Sozialpsychologen George Herbert Mead entsteht unser Bewusstsein durch die permanente Interaktion mit-einander.

Wir nehmen Gesten, Symbolen sowie die Sprache wahr, deuten und verarbeiten diese. Wir versetzen uns in den anderen hinein und stellen uns vor wie er auf uns reagieren wird, wir betrachten uns auch selbst, wie wir reagieren. Wir sehen uns mit den Augen des Anderen, und erst aus diesem Umweg über den anderen wer-den wir uns unserer selbst bewusst. Das hier beschriebene ist Meads Vorstellung vom „Sozialen Selbst“. Diese Identitätsentwicklung findet vorwiegend im Jugendal-ter statt. (Liegle 2017, S.95f.).

Die Identitätsentwicklung findet während der Primärsozialisation statt und ist eine Grundvoraussetzung für die Herstellung von Beziehungen ist.

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1.4 Handlungsfreiheit und Willensfreiheit

Die Aufgabe der Sozialen Arbeit ist es, ihre Adressaten zur Autonomie zu führen und ihre sozialen Bedingungen der Bildung und Ausübung dieser Autonomie mit-zugestalten. Zur Erfüllung diese Aufgabe müssen in unterschiedlichem Maße in die Lebenswelt der Adressaten eingegriffen und Zwangselemente genutzt werden. Dadurch wird die Handlungsfreiheit der Kinder und Jugendlichen beschränkt. Gleichzeitig sind die Kinder und Jugendlichen jedoch durch ihre Entwicklung und/ oder ihrer sozialen Problembelastung in ihrer personalen Handlungsfreiheit einge-schränkt. Die Möglichkeiten der Ausgestaltung des pädagogischen Arbeitsbünd-nisses, mit dem Ziel der Autonomie der Adressaten, sind somit von personale Handlungsfähigkeit und der sozialen Handlungsfreiheit abhängig (vgl. Böhle u.a. 2012, S.195).

Harry Frankfurt formulierte den Begriffe personale Handlungsfähigkeit in „Willens-freiheit“ um. Demnach man wollen kann was man will. Dem Begriff der Hand-lungsfreiheit sprach er zu, dass man tun kann was man will, also etwas „ohne äu-ßeren Zwang“. Autonomie ist nun aber nicht der Handlungsfreiheit gleichzusetzen. Der traditionellen Bedeutung nach kann einer Person auch unter Zwangsbedin-gungen Autonomie zugesprochen werden, also wenn sie nicht tun kann, was sie will, solange sie wollen kann was sie will (Frankfurt, zit. nach Böhle u.a. 2012, S. 196). Es geht hier viel mehr um die personale Autonomie, die Willensfreiheit einer Person, die selbstgesetzten (ethischen) Gesetzen folgt. Autonomes Handeln setzt nicht nur eine personale Autonomie (Willensfreiheit) voraus, sondern auch eine Handlungsfreiheit. Die verschieden Formen des Handlungsvermögens lassen sich danach unterscheiden, in welchem Maße Handlungsfreiheit und Willensfreiheit vorliegen.

Mit Hilfe dieser Tabelle, sowie entsprechenden Beispielen werden die unterschied-lichen Beziehungskonstellationen dargestellt:

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Tab. 1: Beziehungskonstellationen unter Berücksichtigung der Handlungs- und Willensfreiheit

Handlung

Frei (ohne äußerem Zwang) Unfrei (mit äußerem Zwang) Wille Frei a) Autonom handeln

(etwas aus freiem Willen tun/ unterlassen können; freiwillig, selbstbestimmt handeln)

b.1) Autonom handeln

(etwas aus freiem Willen tun wol-len, was man ohnehin tun muss)

b.2) Gezwungen werden

(etwas gegen den freien Willen tun müssen; unfreiwillig, fremd-bestimmt handeln)

Unfrei c) sich verhalten

(etwas ohne freien Willen tun/ unterlassen können)

d) Bewegt werden

(etwas ohne freien Willen tun müssen)

Quelle: Böhle u.a. 2012, S.196

a) Hier handelt die Person autonom, wenn sie mit ihrem freien Willen und ohne äußeren Druck sich z.B. dafür entscheidet ins Jugendzentrum zu gehen. Wenn sie dieses Angebot aus guten Grund ablehnt, ohne sie nicht zur Annahme der Hilfe gezwungen wird, handelt sie autonom. In beiden Fällen kann ihr handeln sie frei-willig und selbstbestimmt.

b) Häufig wird in der Arbeit mit Menschen dessen Wille eingeschränkt. Dabei macht es einen Unterschied, ob der Zwang gegen des Willen des Adressaten ist oder nicht.

b.1) Gibt der äußere Druck etwas vor, was der Adressaten ohnehin tun wollte, so kann man die Handlung als autonom bezeichnen. Gibt der Stundenplan z.B. einer Klasse den Sportunterricht jeden Freitag vor so sind die Kinder gezwungen die-sen zu besuchen. Gibt es aber ein Kind in der Klasse, das gerne Fußball spielt, wäre sein Wille, Fußball zu spielen, analytisch betrachtet nicht der Autonomie

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be-raubt. Er handelt aus freiem Willen unter der Bedingungen des äußeren Zwangs autonom.

b.2) Hier bei der zweiten Variante muss die Person gegen ihren Willen und mit äu -ßeren Zwang handeln. Dadurch, dass sie zu ihrem handeln gezwungen wird, kann man nicht von einem autonomen Handeln sprechen.

Analytisch betrachtet müssen zusätzlich noch zwei weitere Konstellationen be-trachtet werden. Bei diesen Konstellationen ist die Willensfreiheit eingeschränkt. c) Handelt die Person ohne äußeren Zwang der das Handeln bestimmt und ohne freien Willen , folgt also einem Willen, den sie zufällig hat, so wird dies als „sich verhalten“ bezeichnet.

d) Muss eine Person unter äußern Zwang und gegen ihren Willen handeln, so wird sie lediglich zu etwas „bewegt“.

In beiden Fällen handelt die Person nicht autonom (vgl. Böhle u.a. 2012, S.196f.).

Wie bereits gesagt, sollen Menschen zu autonomen handlungsfähigen Individuen erzogen werden. Die dazu passende Konstellation a) entspricht dem klassischen Bildungsideal, demnach Menschen über sozialen Bedingungen verfügen, um tun zu können was sie mit guten Gründen tun wollen. Sie sollen fähig sein, sich Hand-lungsziele zu setzen und diese aus freiem Wille (Willensfreiheit) und ohne äuße-ren Zwang (Handlungsfreiheit) ausüben zu können. In Betrachtung der Entwick-lung des Menschen mangelt es ihm jedoch an beidem. Weil der Mensch zunächst willensfrei ist, ist er zur Freiheit durch Zwang zu kultivieren (Kant). Erziehung und Bildung ist hier eine Praxis des sich selbst negierenden Gewaltverhältnisses (vgl. Böhle u.a. 2012, S.197).

In der Realität gibt es natürlich kein schwarz oder weiß. Menschen handeln nicht zu jedem Zeitpunkt autonom, „verhalten“ sich bloß oder werden zu einem Handeln „bewegt“. „Menschen können sehr reflektiert sein und die Gründe ihres Handelns stimmig zu dem erwägen, wie sie sich selbst verstehen wollen“ (Böhle u.a. 2012, S.198). Wiederum können sie auch unentschlossen sein oder widersprüchlich in ihren Wünschen. In diesem Fall lassen sie sich vielleicht treiben. Aufgabe der

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So-zialen Arbeit ist es sich vornehmlich an die Konstellationen zu richten, die (noch) nicht autonom sind. Bei der Konstellation c) „sich verhalten“ sollte den betreffen-den Personen ein Bildungsangebot gemacht werbetreffen-den. Während bei der Konstellati-on d) „bewegt werden“ vielleicht sogar Bildungsmaßnahmen aufgezwungen werden. Natürlich ist es nicht in Ordnung, wenn man den Menschen nicht als Individu -um behandelt sondern wie ein bewegbares Objekt. In diesem Fall wäre es eine Dressur und keine Erziehung (vgl. Böhle u.a. 2012, S.198). Daher ist es wichtig, dass das sozialpädagogischen Handeln sachlich vernünftig und ethische akzepta-bel und auf die Autonomisierung des Kindes/ Jugendlichen ausgerichtet ist. Letzt-endlich lässt sich sagen, dass die Kinder und JugLetzt-endlichen mittels Zwang (-smaß-nahmen) zur Autonomie geführt werden. Im Rückschluss bedeutet das, dass die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe nur selten freiwillig angenommen werden. Dies geschieht nur wenn z.B. ein Jugendlicher den reflektierten Wunsch hat, eine bestimmt Hilfe zur Lösung/ Verbesserung seines Problems in Anspruch zu nehmen. In der sozialpädagogischen Familienhilfe kann es der Fall sein, dass der Klient die erzieherische Hilfe in freiem Willen und ohne Zwang in Anspruch nimmt (Konstellation a)). Oftmals ist es aber so, dass das Jugendamt der Familie gegen ihren Willen Maßnahmen vorgibt (aufzwingt). Diese Situation entspricht der Konstellation b.2), da der Hilfebedarf nicht eigenverantwortlich/ autonom bestimmt wird, sondern durch Dritte. In der stationären Erziehungshilfe kann die Inobhutnahme in seltenen Fall auf Wunsch des Kindes oder mit Zustimmung aller Beteiligten erfolgen. Jedoch ist es vornehmlich so, dass die familiären Verhältnisse i.d.R. so schlecht sind, dass die Herausnahme des Kindes die einzige Option bleibt und demzufolge erzwungen wird. Selbst wenn die Rückführung in die Familie als Ziel formuliert wird, ist die Unterbringung in einer stationären Einrichtung mit einer gewissen Alternativlosigkeit gekennzeichnet und die Abhängigkeit der Kinder und Jugendlichen von ihrer „neuen Lebenswelt Heim“ existenziell (vgl. Böhle u.a. 2012, S.198f.).

1.5 Einfluss von Freiwilligkeit und Zwang auf den

Beziehungsaufbau

Der Beziehungsaufbau und die Form der Beziehung ist von den Voraussetzungen bzw. den Bedingungen unter denen die Beziehung aufgebaut wird oder auch

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auf-gebaut werden muss abhängig.

In Fällen, in denen eine Intervention unvermeidbar ist oder eine Zurückweisung des Hilfsangebotes Konsequenzen im Sinne stärkerer Einschränkungen in die Handlungsfreiheit hat, könnte die Beziehung vielleicht nur oberflächlich toleriert werden. Sie würden dann rollenförmig bleiben und wäre keine Hilfe, die auf einer pädagogischen Beziehung gründet. Diese „Hilfe“ wäre nur ein vorgeschriebene Eingriff in die selbstbestimmte Lebensführung des Adressaten.

In den verschiedenen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit wird, je nach Aufgabe und Mandat, in die Lebenswelt des Adressaten eingegriffen um ihm zu einem „gelin-genden“ Leben zu verhelfen. Gesellschaftliche Einflüsse und Institutionen spielen eine große Rolle bei der Verortung von Hilfsangeboten. Hier wäre die Sphäre des Rechts zu nennen, die eine ganz eigene Vorstellung von Erziehung und

Normali-sierung hat. Sie bringt standardisierte Prozedere ins Spiel, die für die Soziale

Ar-beit einen verbindlichen Rahmen darstellen. Es werden Eingriffe gefördert, die in die selbstbestimmte Lebensführung eingreifen mit der Aufgabe, Schaden für die Betroffenen und Andere abzuwenden oder zu sanktionieren. Deutlich wird, dass der Grad der Freiwilligkeit abnimmt während die zugeschriebene Normalisierungsbedürftigkeit steigt. Die Normalisierung der Lebensführung soll den Adressaten in ihrer täglichen Lebenspraxis mehr Handlungsoptionen und ein weniger problembehafteten Miteinander ermöglichen. Die Basis für eine gute Zusammenarbeit bietet eine tragfähige Beziehung zwischen Adressaten und Professionellen. Nehmen die Adressaten die Einmischung als ein authentisches Interesse an ihrer Persönlichkeit wahr, erfahren Wertschätzung und Anerkennung, so kann die Einmischung positiv gedeutet werden und zu einer Stärkung der persönlichen Beziehung führen (vgl. Böhle u.a. 2012, S.199f.).

1.6 Macht

Eine wichtiges Merkmal in der Beziehung zwischen Professionellen und Adressa-ten ist die Entstehung bzw. das Vorhandensein von Macht. Dies kommt durch eine Asymmetrie zwischen Fachkräften und Adressaten zustande. Fachkräfte verfügen über Fachwissen, besitzen Informationen, Befugnisse, beherrschen Regeln und treten mit einer gewissen Rollensicherheit (Professionalität) auf. Die Adressaten

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befinden sich dagegen in einer psycho- soziale Belastungssituation. Ihre Situation ist der Inhalt der entstehenden Interaktion. Fachkräfte agieren als Rollenträger, ihre Probleme, Unzulässigkeit und Persönlichkeit spielen in dem Prozess i.d.R. keine Rolle.

Asymmetrie ist in erster Linie Folge des professionellen Zusammenhangs, in dem eine Person für ihre Leistung bezahlt wird und es Unterschiede bezüglich Fach-wissen, Problemsicht und Betroffenheit gibt. Der Adressat muss sich seiner Hilfe-bedürftigkeit bewusst sein und sich sein Problem eingestehen. Für die Bildung ei-ner pädagogischen Beziehungen ist nun das Fachwissen des Professionellen wichtig (vgl. Schäfter 2010, S.54). Die entstanden Machtasymmetrie zwischen Fachkraft und Adressaten ist durch Ungleichheit der Machtpotenziale gekenn-zeichnet.

Ein praktisches Beispiel aus der sozialpädagogischen Familienhilfe wäre eine alleinstehende Mutter die Hilfe sucht, weil sie mit der Erziehung ihrer Kinder überfor -dert ist. In diesem Fall hat sich die Mutter das Problem eingestanden und ist mit der Unterstützung durch eine Fachkraft einverstanden. Die Fachkraft ist der Mut-ter überlegen, weil sie ihr Problem nicht hat, aber über Fachwissen und Strategien verfügt, die zur Lösung/ Verbesserung ihrer Situation führen können. Die Hilfesu-chende ist auf den Helfenden bezüglich Zusage/-sprechung von Hilfemaßnahmen angewiesen.

In ihrem Berufsalltag stellen Fachkräfte oftmals die einzige verlässliche Bezugs-person für den Adressaten dar. Die Zuwendung und Aufmerksamkeit der Fachkräf-te bei der Auseinandersetzung mit der belasFachkräf-tenden Lebenslage ist hier für Adres-saten wichtiger als für die Fachkräfte. Durch diesen Zustand kann eine machtvolle emotionale Abhängigkeit entstehen. Wird die Anerkennung bzw. der Adressat nicht genügend wertgeschätzt, kann es zu Scham/ Beschämung beim Adressaten kom-men. Da der Hilfeprozess zeitlich begrenzt ist, ist es wichtig den Aspekt der emo-tionalen Abhängigkeit immer wieder zu reflektieren. Dies ist vor allem wichtig, wenn die Hilfemaßnahme beendet wird.

Zwischen Professionellen und Adressaten besteht immer eine Machtasymmetrie und Machtgefälle, durch die eine potenzielle Lust auf Macht bei den Fachkräften entstehen kann. Diese Macht kann im sozialpädagogischen Alltag missbraucht werden. Damit es nicht dazu kommt, ist es wichtig, dass sich die Helfende mit dem

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Machtaspekt auseinandersetzen (vgl. Rosenbauer/ Stremmer 2017, S.151f.).

1.7 Scham

Bei Schamgefühle steht der Aspekt der zwischenmenschlichen Anerkennung im Vordergrund. Wer Scham empfindet hat die Sorge, dass durch sein Versagen be-stimmte Fähigkeiten oder Leistungen nicht mehr geschätzt werden und somit die eigene Wertschätzung in den Augen anderer nicht mehr zählt (vgl. Majer 2013, S.6).

Scham und Beschämung entstehen in sozialen Interaktionen und sind unmittelbar miteinander verbunden. In einer pädagogischen Beziehung zwischen Professio-nellen und Adressaten kann es zu Scham beim Adressaten kommen, wenn er vom Professionellen z.B. zurückgewiesen wird. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der Professionelle durch seine Zurückweisung die Möglichkeit bzw. die Macht hat den Adressaten mit diesem Verhalten zu beschämen. Dadurch steigert sich die Macht des Professionellen.

Schamgefühle können mit Absicht herbeigeführt werden, aber auch unbeabsichtigt in der Interaktion mit Kindern und Jugendlichen entstehen. Sowohl direkte Äuße-rungen als auch indirekte Verhaltensweisen wie Missachtung von Gefühlen und Nicht-Anerkennung von Bedürfnissen können beschämen und unentdeckt die Be-ziehungsgestaltung begleiten (vgl. Rosenbauer/ Stremmer 2017, S.153). Zum Beispiel kommt es in der Praxis zu einer Situation in der der Adressat besonders stolz auf seine Tat ist. Diese kann jedoch für den Professionellen nicht als solche erkennbar sein, sodass er das Wahrgenommen nicht richtig entschlüsselt und sich nicht wie gewünscht oder erwartete verhält. Die erhoffte Belohnung oder Wert-schätzung bleibt aus.

Scham auslösende Situationen entstehen ebenfalls wenn Kinder, Jugendliche und Eltern über ihre schwierige Lebenssituation reden müssen und sich ihre Probleme eingestehen müssen. Im Rahmen von unfreiwilliger Hilfe wie z.B. beim Verdacht von Kindeswohlgefährdung ist die Situation besonders scham-sensibel, weil hier oftmals Stigmatisierungen statt finden und Unzulänglichkeiten und Defizite betont werden (müssen), um die Hilfegewährung zugunsten des Kindeswohls zu gestatt-en (vgl. Rosgestatt-enbauer/ Stremmer 2017, S.153).

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1.8 Nähe und Distanz

Nähe lässt sich als ein Streben nach Bindung, ein Bedürfnis nach Zwischen-menschlichkeit, sozialen Interessen, Geborgenheit, Zärtlichkeit, ebenso nach Be-stätigung und Harmonie, Mitgefühl und Mitleid definieren. Distanz dagegen ist die Abgrenzung von anderen Menschen. Es ist viel mehr die Einmaligkeit, Freiheit und Unabhängigkeit, Unverbundenheit und Autonomie gewünscht. (vgl. Thomann/ Schulz von Thun 2006, S. 149).

Durch die Asymmetrie der professionellen Beziehung ist eine besondere Aufmerk-samkeit und Sensibilität geboten, um die richtige Position zwischen ‚Nähe’ und ‚Di-stanz’ zu finden.

Im beruflichen Kontext muss eine „gewisse“ gefühlsmäßige Beziehung aufgebaut werden um einen Zugang zu den Schwierigkeiten des Adressaten zu bekommen um diese nachempfinden zu können. Eine wertschätzende, akzeptierende Haltung des Professionellen hilft dem Adressaten sich zu öffnen, sodass Nähe entstehen kann.

Emotionale Nähe ist einerseits Voraussetzung für eine pädagogische Beziehung, aber gleichzeitig auch gefährlich. Zu viel Nähe kann vom Adressaten falsch wahrgenommen werden z.B. wenn eine Klient die Aufmerksamkeit und Wertschätzung der Professionellen als Freundschaftsangebot missversteht und in ihre Privatsphäre vorzudringen versucht. Im Laufe der Beziehung muss immer wieder reflektiert werden, in wessen Interesse im Augenblick Nähe und Distanz der Beziehung besteht um die Balance zwischen den beiden halten zu können. Es ist wichtig Distanz für Autorität und Fachkompetenz aufrecht zu erhalten (Schäfter 2010, S.61f.).

1.9 Vertrauen

Erikson definiert Vertrauen als ein Gefühl, dass man sich auf den anderen verlas-sen darf. Es entwickelt sich aus grundlegenden, kaum bewussten Erfahrungen. Wie groß dieses Vertrauen werden kann, hängt von der Qualität der Mutter-Kind-Beziehung ab. Es wird von positiven Erfahrungen gehalten. Durch negative Ver-haltensweisen wie Drohungen oder Strafen dem Kind gegenüber verringert oder verhindert sich das Vertrauen. Nach dem tiefenpsychologischen

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Entwicklungsmo-dell Eriksons kann sich eine stabile Persönlichkeit (Ich-Identität) ohne Vertrauen nicht entwickeln. Das „Urvertrauen“ bildet den Eckstein einer gesunden Persön-lichkeit (vgl. Petermann 2013, S.12).

1.10 Entscheidende Persönlichkeitsmerkmale für Beziehungsaufbau/-bestand

1.10.1 Empathie

Unter Empathie versteht man das hineinversetzen in eine andere Person um ihre Empfindungen, Gedanken und Motive erkennen und verstehen zu können (vgl. Weinberger 2006, S.38).

1.10.2 Wertschätzung

Wertschätzung bedeutet, dass der Professionelle den Adressaten akzeptiert und annimmt, unabhängig von dessen Äußerungen und Verhaltens (vgl. Weinberger 2006, S.55).

1.10.3 Echtheit/ Kongruenz

Nimmt der Professionelle sein inneres Erleben, seine Gefühle und Empfindungen während seiner Arbeit wahr und kann diese wiedergeben, so ist er selbstkongru-ent. Sein Inneres soll mit dem übereinstimmen, was er äußerlich sagt, tut oder ausdrückt (vgl. Weinberger 2006, S.62).

1.11 Übertragung und Gegenübertragung

Eine Arbeitsbeziehung besteht aus spezifischen und diffusen Beziehungsanteilen. Die Professionellen stehen dadurch vor der großen Anforderung, die Arbeitsbezie-hung so zu gestalten, dass die Kinder und Jugendlichen sich ihnen anvertrauen und Autonomie entwickeln können. Gleichzeitig dürfen sie die Kinder nicht verein-nahmen da es zu einer Übertragung kommen kann. Das Übertragungsphänomen wird in der Tiefenpsychologie beschrieben. Demnach kann in einer nahen Bezie-hung die Dynamik einer Übertragung und Gegenübertragung entstehen. Oft wird dies nicht bemerkt und reflektiert. Übertragungen und Gegenübertragungen

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beein-flussen die Wahrnehmung des Anderen, die emotionale Einstellung sowie das Ver-halten ihm gegenüber. Professionelle müssen sich in ihrer Tätigkeit des Phäno-mens bewusst sein, um die Beziehung gestalten und regulieren zu können.

Es kommt zu Übertragung oder auch Projektion, wenn die aktuell stattfinden bzw. erlebte Beziehungserfahrung an eine in der Vergangenheit stattgefundene erin-nern. Dadurch wirken unbewältigte Konflikt, unerfüllte Wünsche oder Ängste auch in der Gegenwart. Die aktuelle Beziehung wird nach alten Mustern erlebt. Bei der Übertragung besteht die Beziehung aus drei statt zwei Personen. Ein Interaktions-partner begegnet einer zweiten Person, die ihn an einen Menschen aus der Bio-grafie erinnert. Die Persönlichkeitsmerkmale der Person aus der Vergangenheit werden auf den aktuellen Partner projiziert. Ein besonderes Phänomen ist die „Idealisierung“. Hierbei überträgt der Interaktionspartner z.B. das Kind den guter Vater, die gute Mutter oder eine andere Autoritätsperson auf den Professionellen. Die Fachkraft kann ihrerseits unmittelbar mit eigenen unbewussten Anteilen darauf reagieren und ihre eigene Bedürftigkeit an den Kindern und Jugendlichen ausle-ben. Damit es nicht dazu kommt, gilt für die Fachkräfte sich an die durch die Rolle definierten Gesetze zu halten (vgl. Schäfter 2010, S.64/ vgl. Wigger 2017, S.145).

1.2 Objektbeziehungstheorie

Hier nun einen kurzen Einblick in die Objektbeziehungstheorie. Sie ist für die spä-tere Beziehungsgestaltung und für die Persönlichkeitsentwicklung von Bedeutung. Die Objektbeziehungstheorie ist eine Weiterentwicklung der psychoanalytischen Theorie. In der Psychoanalyse geht Freud davon aus, dass der Mensch durch In-stinkte und Bedürfnisse angetrieben wird. Die britische Theoretiker Klein, Fair-bairn, Balint und Winnicott vertraten dagegen die Ansicht, dass Menschen primär eine Beziehung zu ihren „Objekten“ suchen. „Objekte“ stehen in dieser Theorie für reagierende Personen, die auf Äußerungen des Subjektes eingehen. Dem Ob-jekt wird dadurch eine starke emotionale Bedeutung zugeschrieben und nur se-kundär als Ziel der Triebregung verstanden (Holmes 2006, S. 259).

Nach Fairbairn ist ein Kleinkind von Geburt an auf andere Menschen, primäre Be-zugspersonen, fixiert. Durch die Erfahrungen die das Kind mit den äußeren Bezie-hungen macht, gestaltet es seine innere Welt. Es sucht nach Objekten um enge

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Beziehungen aufbauen zu können (Mertens 2014, S.643).

Ein weiteres gemeinsames Merkmal ist die Hervorhebung von Übertragung und Gegenübertragung

Im folgenden Teil dieser Arbeit geht es um Bindung, Bindungsmuster und welche gesundheitliche Folgen es hat wenn eine Bindungsbeziehungen beeinträchtigt, un-terbrochen oder beendet werden.

2. Bindung

Zunächst einmal muss der Begriff der Bindung erläutert werden. Was ist Bindung, wozu wird Bindung benötigt, und zu wem wird sie aufgebaut?

Alles fängt mit der Geburt eines Kindes an. Es kommt völlig hilflos und schutzlos zur Welt. Es benötigt die Hilfe von Erwachsenen, oder wie John Bowlby sie nennt, von Stärkeren und Weiseren. Das Kind sendet Signale zu Personen aus, die am häufigsten oder die meiste Zeit bei ihm in der Nähe sind. Das können akustische Signale sein wie z.B. weinen und schreien, aber auch optische wie bestimmte Bli-cke und AusdrüBli-cke von Gemütszuständen oder das Aussehen des Kindes allge-mein. Sie alle haben das gemeinsame Ziel, der “stärkeren und weiseren“ Person das Bedürfnis der Hilfesuche zu signalisieren. Diese Person kann ein naher Ver-wandter sein, wie z.B. die Mutter oder der Vater, aber auch entfernte Verwandte, Bekannte oder sogar eine dem Kind fremde Person. Wichtig dabei ist die Dauer und Intensität des Zusammenseins, damit aus Beziehung eine Bindung wird. So-mit wird eine Person, die diese Erwartungen des Kindes in ausreichendem Maße erfüllt, zu einer Bindungsperson. Ein Kind muss sich binden um psychisch gesund zu sein. Unzureichende Bindungen führen laut H. Nohl zu Verwahrlosung und somit zu psychischen Schäden, die oftmals ein Leben lang nicht mehr repariert werden können.

Der Begriff der Verwahrlosung wird heutzutage eher mit einem optischen Erschei-nungsbild verknüpft und erinnert eher an ein schmutziges und ungepflegtes Kind und weniger an ein psychisch krankes. Das eine schließt zwar nicht das andere aus, bei Nohl aber geht es um den psychischen und sozialen Aspekt. Vernachläs-sigung wäre in neuerem Vokabular sicherlich ein zutreffenderer Begriff. Eine

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direk-te Folge von Verwahrlosung oder Vernachlässigung sind Bindungsstörungen.

2.1 Bindungsmuster

Die Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth erforschte im Rahmen der

Erfor-schung der Bindungstheorie die Bindungssicherheit von Kindern. Dafür

entwickel-te sie ein Laborbeobachtungsmethode, die sogenannentwickel-te „Fremde Situation“, bei dem das Verhalten von Kindern im Alter von elf bis zwanzig Monaten erfasst wur-de. Untersucht wird dabei welche Beziehung zwischen dem Verhaltenssystem Bin-dung und dem Verhaltenssystem Exploration besteht.

Zu Beginn einer 20-minütigen Sitzung werden Mutter und Kind von einem Ver-suchsleiter in ein Spielzimmer geführt. Anschließend verlässt die Mutter den Raum für 3 Minuten in denen das Kind mit dem Versuchsleiter alleine gelassen wird. Nach ihrer Rückkehr und Wiedervereinigung mit ihrem Kind gehen Mutter und Versuchsleiter für 3 Minuten aus dem Zimmer und lassen das Kind alleine. An-schließend werden Mutter und Kind nochmals vereint. Des Versuch wird aufge-nommen und bewertet. Es wird besonders auf die Reaktion des Kindes auf Tren-nung und Wiedervereinigung geachtet. Dabei werden die individuellen Unterschie-de mit Unterschie-der Bewältigung Unterschie-des Trennungsstress beobachtet (Holmes 2006, S.129). Im Rahmen dieses Experimentes erfasst Ainsworth drei organisierte Bindungs-muster sichtbar: unsicher-vermeidend (A), sicher (B), unsicher-ambivalent (C). Es zeigen sich Besonderheiten im Bezug auf Beziehungsstrategien, Selbstkon-zept, Umgang mit Emotionen und Körperkontakt.

(A) Unsicher-vermeidend Gebunden vermeiden Beziehungen oder brechen diese ab. Sie suchen keine oder kaum Unterstützung bei ihren Bezugspersonen. Ihre Selbsteinschätzung ist vermeidend perfekt. Sie erkennen ihre Schwächen nicht oder wollen diese nicht zugeben. Sie kommunizieren nicht über Emotionen und verleugnen negative Emotionen. Körperkontakt wird vermieden.

(B) Sicher Gebunden zeigen ihren Wunsch nach Bindung offen. Bei Belastungssi-tuationen suchen sie die Unterstützung der Bezugsperson. Ihre Selbsteinschät-zung ist offen und flexibel. Sie besitzen ein positives Selbstwertgefühl und achten sich selbst. Sie haben einen guten Zugang zu ihren Emotionen und können offen über sie kommunizieren. Diese Personen suchen Körperkontakt.

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(C) Unsicher-ambivalent Gebundene zeigen vermehrt Bindungsverhalten. Ihre Strategien sind dabei unklar. Sie suchen ständig die Aufmerksamkeit der Bin-dungsperson. Sie besitzen eher ein negatives Selbstbild. Ihr Selbstvertrauen ist gering. Die Emotionen werden schlecht integriert und negative Emotionen manch-mal verleugnet. Auf der einen Seite suchen sie Kontakt , widersetzen sich diesem aber gleichzeitig (vgl. Lengning/ Lüpschen 2012, S.20f.).

Weil es bei einigen Kindern schwierig war , sie anhand der drei organisierten Bin-dungsmuster eindeutig zu klassifizieren, nahm man in den 1980er Jahren ein wei-teres Bindungsmuster bzw. Zusatzkategorie die Desorganisation/ Desorientierung (D) auf. Die Kinder weisen ein desorganisiertes bzw. desorientiertes Verhalten auf. In der Fremden Situation schrie diese Kind in der Trennungsphase und schauten zur Tür. Als die Mutter zurück kam, wendet sich das Kind jedoch still ab. Es fand somit eine Unterbrechung des organisierten Verhaltens statt (vgl. Lengning/ Lüp-schen 2012, S.20f.). Beobachtet wurde auch, dass einige Kinder so wirkten als hätten sie Angst vor der Mutter. Eine Vermutung ist, dass dies Kinder eine Haupt-bindungsperson haben, deren eigenes Bindungssystem selbst noch aktiviert ist. Das könnte z.B. eine junge Mutter (16) sein, die selbst noch in einer engen Bezie-hung zu ihrer Mutter steht. Dadurch könnte sie ihrem eigenen Kind nicht genügend Pflege und Unterstützung geben. Infolgedessen kann das Kind in bindungsrele-vanten Stresssituationen keine oder nur mangelhaft entsprechende Bewältigungs-strategie einsetzen. Weitere Ursachen können Misshandlungen des Kindes oder psychische Störungen der Mutter sein (vgl. Lengning/ Lüpschen 2012, S.22).

2.2 Bindungsstörungen

Zunächst muss hier gesagt werden, dass die beschriebenen Bindungsmuster A, B, C weder eine klinische Diagnose noch ein Indikator für Bindungsstörungen dar-stellen (vgl. Lengning/ Lüpschen 2012, S.70). Die desorganisierten Bindung kann allerdings als ein beginnendes pathologisches Verhalten gesehen werden (vgl. Lengning/ Lüpschen 2012, S.23).

Die Definition von Bindungsstörung bringt das Wort selbst schon mit. Es ist eine psychische Störung als Folge fehlender Bindungen oder den Verlust von

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beste-henden Bindungen. Bowlby beschreibt dabei drei verschiedene Möglichkeiten, wo-durch Bindungsstörungen auftreten können.

„Erstens ist die Trennung oder Unterbrechung von Bindung selbst wahrscheinlich ein Grund für eine Störung.“ (Holmes 2006, S.210). Ein Beispiel dafür wäre der Tod oder zumindest das Verschwinden einer nahen Bezugsperson. Angenommen eine überforderte, alleinerziehende Mutter gibt ihr Kind in einem Heim ab, dann verliert das Kind in dem Moment seine mit Abstand wichtigste Bezugsperson. Alle von Geburt an geknüpften Verbindungen werden auf einen Schlag gekappt. Das Kind weiß nicht an wen es sich wenden kann, bzw. hat in dem Moment keine an -leitende Person.

Zweitens können frühere Störungen bei vorangegangenen Beziehungen und Bin-dungen zu weiteren Problemen führen. Dies ist ein typisches Beispiel für die Ver-wahrlosung von Zöglingen. Was im frühsten Kindesalter an Fürsorge und Anlei-tung fehlt, wird oftmals nicht wieder aufgeholt. Aber auch die Gewalt an jungen Kindern zählt in diese Kategorie. Die daraus entstehenden Folgen werden zu ei-nem späteren Zeitpunkt näher erläutert.

Drittens kann das plötzliche Bewusstwerden der eigenen Beziehungssituation in schwierigen Lagen dazu führen, dass die Psyche eine Störung erleidet. In diesem Fall spielen Realbeziehung und Übertragung eine Rolle. Dabei ist die Realbezie-hung die tatsächlich wahrgenommene BezieRealbezie-hung, welche auch mit der Wirklich-keit zumindest zum großen Teil übereinstimmt. Kommt nun eine weiter Bezugsper-son, oder potentielle Bezugsperson hinzu, so können mitunter die mit der ersten Person geknüpften Bindungen und Erfahrungen auf die zweite Person übertragen werden. In bestimmten Situationen reagiert die zweite Person jedoch vollkommen anders als die erste. Damit wird die Erwartung des Kindes nicht erfüllt, weil es die Reaktion nicht einordnen kann oder enttäuscht wird (vgl. Holmes 2006, S.210). Bindungsstörungen gehören laut ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) zu den Verhaltens- und emotionale Stö-rungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F90-F98).

Näher beleuchtet werden die untergeordnete reaktive Bindungsstörung (F94.1) des Kindesalters und die Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (F94.2).

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2.2.1 Reaktive Bindungsstörung (F94.1)

Die reaktive Bindungsstörung tritt im Säuglingsalter oder in der frühen Kindheit (ungefähr in den ersten fünf Lebensjahren) auf und zeigt sich durch eine anhal-tende Auffälligkeiten im sozialen Beziehungsmuster. Sie zeigen wachsame oder stark ambivalente und widersprüchliche Reaktionen z.B. kann das Kind auf Pflege-personen mit einer Mischung aus Annäherung, Meidung und Abwehr reagieren oder eine misstrauische Wachsamkeit an den Tag legen. Weitere Symptome sind ein eingeschränkten sozialen Interaktionen mit Gleichaltrigen, sowie gegen sich selbst oder andere gerichteten Aggressionen, und Unglücklichsein. Die Störung tritt wahrscheinlich als direkte Folge schwerer elterlicher Vernachlässigung, Miss-brauch oder schwerer Misshandlung auf (vgl. Schleiffer 2009, S.65).

Die Symptome treten nicht auf Grund eines Entwicklungsrückstand oder einer geistigen Behinderung auf.

2.2.2 Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (F94.2)

„Ein spezifisches abnormes soziales Funktionsmuster, das während der ersten fünf Lebensjahre auftritt mit einer Tendenz, trotz deutlicher Änderungen in den Mi-lieubedingungen zu persistieren. Dieses kann z.B. in diffusem, nicht-selektivem Bindungsverhalten bestehen, in aufmerksamkeitssuchendem und wahllos freundli-chem Verhalten und kaum modulierten Interaktionen mit Gleichaltrigen; je nach Umständen kommen auch emotionale und Verhaltensstörungen vor.“ (DIMDI).

2.2.3 Ursache von Bindungsstörungen

Unterschiedliche Faktoren können zu einer Bindungsstörung führen. Dazu zählen soziale, biologische und psychologische Faktoren.

Soziale Faktoren oder auch Umweltfaktoren (Beziehungsumwelt)

Bei den beiden beschrieben Störungsbildern liegen pathologische Fürsorgemerk-male vor. Zu nennen sind hier die beständige Nichtbeachtung der fundamentalen körperlichen und emotionalen Bedürfnisse, wie Geborgenheit oder Zuneigung, des Kindes. Ein weiterer Grund könnte es sein, dass der Aufbau einer festen Bin-dung gar nicht möglich ist, weil die wichtigste Pflegeperson des Kindes mehrfach wechselte. Dies ist oftmals der Fall wenn Kinder nicht in der eigenen Familie

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auf-wachsen sondern in einer Institution. Dort ist eine optimale Betreuung von Kinder nicht (immer) ausreichend zu gewährleisten. Ein Grund könnten Einsparmaßnah-men sein, durch die die Kinder häufig einen Wechsel zwischen Institutionen und Pflegefamilien erleben. Auch ein Personalwechsel könnte zu einer Bindungsstö-rung führen. Die Situation in den Einrichtungen hat sich seit den 1970er Jahren durch eine bessere Qualifikation der Erzieher, besser Wissenstand über die Ent-wicklung des Kindes (z.B. welche Konsequenzen eine Vernachlässigung hat), die Einführung der Bezugspersonenpflege sowie einer Verbesserung des Stellen-schlüssels. Dadurch lässt sich zwar sagen, dass die Kinder nicht unbedingt eine schlechte Fürsorge erfahren. Aber trotzdem zeigen einige Studien , dass diese Kinder ein höheres Risiko für eine Bindungsstörung haben.

Familiäre Risikofaktoren wären z.B. psychische Auffälligkeiten sowie Drogenab-hängigkeit der Eltern.

Weiterhin können traumatische Ereignisse wie körperliche Misshandlung oder se-xueller Missbrauch Ursachen sein (vgl. Lengning/ Lüpschen 2012, S.76f.).

Biologische Faktoren

Das pathologische Fürsorgeverhalten der Eltern kann unterschiedliche Ursachen haben. Mögliche Faktoren sind z.B. chronische Erkrankungen oder Geburtskom-plikationen, die es den Eltern schwer machen sich fürsorglich um das Kind zu kümmern. (Schleiffer 2009, S.61).

Psychologische Faktoren

Kinder reagieren unterschiedlich auf das pathogene Fürsorgeverhalten der Be-zugspersonen. Kinder mit einer gehemmten Bindungsstörung reagieren ängstlich und ziehen sich zurück. Bei der ungehemmten Bindungsstörung weisen die Kinder ein undifferenziertes Beziehungsverhalten auf bzw. wechseln zwischen einer Su-che nach und einem Abbruch von Beziehungen. Nach gewiesen konnte bisher nicht , „dass diese unterschiedlichen Verhaltensweisen durch unterschiedliche Formen der Vernachlässigung bzw. Traumatisierung verursacht werden“ (Leng-ning/ Lüpschen 2012, S.77f.).

Diese Risikofaktoren gelten nicht nur für Bindungsstörungen sondern allgemein für eine Psychopathologie, wie z.B. Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, des

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Kindes. Trotz der beschriebenen Faktoren können sich Kinder auch unter ungüns-tigen Bedingungen gesund entwickeln. Etwa durch biologische Schutzfaktoren (körperliche Gesundheit, ausgeglichenes Temperament, gute Intelligenz), psycho-logische Schutzfaktoren (z.B. guter Selbstwert) oder positive Erfahrungen mit wei-teren Bezugspersonen, ein verlässliches soziales Netzwerk (soziale Faktoren) (vgl. Lengning/ Lüpschen 2012, S.78; Schleiffer 2009, S.62).

2.3 Sichere Basis

Die sichere Basis steht für das Sicherheitsgefühl, das eine Bindungsperson dem Kind geben kann. In Zeiten von Krankheit, Gefahr oder nach einer Trennung sucht das Kind die Bindungsperson auf. Wenn die Gefahr vorbei ist, wird das Bin-dungsverhalten wieder getrennt. Das Kind wird sich nur sicher fühlen, wenn das Beziehungsverhältnis mobilisiert werden kann, wenn es wirklich gebraucht wird (Verlässlichkeit) (vgl. Holmes 2006, S.258).

Die (primäre) Bezugsperson dient dem Kind als sichere Basis (secure base), von der aus es seine Umwelt spielerisch erkunden und bei Bedarf, d. h. etwa bei Unsi-cherheit oder Gefahr, zu ihr zurückkehren kann.

3. Heimerziehung

Die Heimerziehung von Kindern und Jugendlichen ist eine Form von Hilfe zur Er-ziehung, deren rechtliche Grundlage im §34 des heute gültigen Kinder- und Ju-gendhilfegesetz (KJHG bzw. 8.Sozialgesetzbuch) festgelegt ist:

§ 34 Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform

Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung) oder in einer sonstigen betreuten Wohnform soll Kinder und Jugendliche durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung fördern. Sie soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie:

1. eine Rückkehr in die Familie zu erreichen versuchen oder 2. die Erziehung in einer anderen Familie vorbereiten oder

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3. eine auf längere Zeit angelegte Lebensform bieten und auf ein selbständiges Leben vorbereiten.

Jugendliche sollen in Fragen der Ausbildung und Beschäftigung sowie der allgemeinen Lebensführung beraten und unterstützt werden.

Diese Hilfeleistung wird den Eltern in der Regel auf Antrag gewährt. Nur im Aus-nahmefall, wenn das Kindeswohl durch Häusliche Gewalt oder fehlender Fürsorge gefährdet ist, kommt es zu einem staatlichen Eingriff in die Familie. Hierzu muss allerdings gesagt werden, dass die Begriffe 'Kindeswohl' und 'notwendige' und 'ge-eignete Hilfe' einen breiten Interpretationsspielraum für die an der Entscheidung beteiligten Institutionen und Personen lassen. Es gibt keine einheitlichen Richtlini-en oder Gesetze, die bestimmRichtlini-en, wer in einem Heim oder einer Pflegefamilie un-tergebracht werden soll, wer bei seinen Eltern bleiben darf oder muss, oder wer aus welchen Gründen in welche Art von Einrichtung kommt. Es ist von der subjek-tiven Einschätzung der Gesellschaft und ihrer mit der Jugendhilfe beauftragten In-stitutionen (z.B. Jugendämter) abhängig, die beurteilen was für Kindern und Ju-gendlichen in ihrer Familien zumutbar oder was für die Eltern an ihren Kindern nicht mehr ertragbar ist. Neben einer Vielzahl von Anlässen und Gründen, die es gibt und gab und die zu einer zeitlich begrenzten oder dauerhaften Fremdunter-bringung in ihrer Kindheit und Jugend führten, gibt es Ziele, deren Erreichung man sich zu verschieden Zeiten erwartete. (vgl. Freigang/Wolf 2001, S.14f.)

3.1 Anlässe für eine Fremdunterbringung

Der Tod der Eltern, beispielsweise durch Krieg oder Seuchen, war schon in ver-gangenen Jahrhunderten Anlass für eine Fremdunterbringung. Streunten die Kin-der ohne die Begleitung eines Erwachsenen durch die Gegend und bettelten so wurden sie in Klöstern oder Armenhäusern untergebracht. Die Waisen waren eine lange Zeit eine zentrale und anerkannte Zielgruppe für diese Einrichtungen. Ihnen brachte die Gesellschaft Verständnis entgegen da sie und ihre Eltern nicht schul-dig für ihre Situation waren.

Eine weitere zahlenmäßige und bedeutende Gruppe waren die Findelkinder. Bis in unser Jahrhundert wurden sie anonym von ihren jungen Müttern in Klöstern

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abge-geben. Grund dafür war die „Schande“ die, die Mutter überbrachte sich brachte.

Die Schwangerschaft einer jungen unverheiratete Frau wurde gesellschaftlich nicht anerkannt. Außerdem musste die Frau aus einer ökonomischen Not ihre

Schwangerschaft und die Geburt verheimlichen, da sie sonst als Schwangere oder mit einem Kind keine Chance auf eine Arbeit gehabt hätte. Das Abgeben von Kin -dern wurde offiziell geächtet, sodass die Mütter ihre Kinder zunächst gezwungen-ermaßen an ungünstigen Orten aussetzten um somit einer Fahndung zu entkom-men. Somit kam es dazu, dass die Kinder nachts in einer Kirche abgelegt wurden und am nächsten Morgen tot aufgefunden, weil sie erfroren oder verhungert wa-ren. Um dieser Gefahr zu entgehen, richteten Kirche eine Vorrichtung an Klöstern ein, bei der die Mutter ihr Kind anonym abgeben konnte.

Kinder von Eltern die ihrer Fürsorgepflicht nicht nachkommen, gehören zu einer weiteren Zielgruppe. Bei ihnen ist es zwar so, dass sie Eltern haben, diese ver-nachlässigen sie jedoch und die Kinder verwahrlosen. Sie werden, nach Auffas-sung andere, zu viel sich selbst überlassen und nicht versorgt und erzogen. Auffäl-lig wird dies wenn die Kinder umher streunen, betteln oder von zu Hause weglauf-en. Heute fallen sie eher dadurch auf, dass sie ungewaschen, ohne Essen und ohne Arbeitsmittel zur Schule kommen und ihre Sprachentwicklung im Vergleich zu Gleichaltrigen zurücksteht.

Häusliche Gewalt bzw. der Verdacht darauf stellt ebenfalls einen Anlass für eine Fremdunterbringung dar. Der schlechte Umgang mit den Kindern in Form von Schlägen, Misshandlungen oder Missbrauch kann unabhängig, aber auch im Zu-sammenhang mit der fehlenden Fürsorge auftreten. Die Einschätzung ab wann das Maß der Gewalt so groß ist, dass das Kind vor seinen Eltern geschützt wer-den muss, wurde und wird immer wieder neu definiert. Da sowohl die Normalität als auch ihre Überschreitung im nicht-öffentlichen Raum stattfinden, sind sie schwer zugänglich und schwer zu bestimmen. Die Problematik bei diesem Fall ist, dass die Herausnahme aus der Herkunftsfamilie eine Rettung, aber auch eine Be-strafung für die Kinder und Jugendlichen darstellen kann. Schließlich wird nicht das gewalttätige Elternteil aus der Familie genommen, sondern der missbrauchte Sohn oder die geschlagene Tochter. Außerdem werden die Kinder und Jugendli-chen durch diese Maßnahme von anderen wichtigen Bezugspersonen und ihrem gesamten sozialen Umfeld getrennt.

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Die letzte Zielgruppe umfasst Kinder und Jugendliche, die auffällig, kriminell, krank oder behindert sind und dadurch eine besondere Betreuung/ Behandlung benöti-gen, bestraft oder geschützt werden. Die Fremdunterbringung wird mit oder ohne Zustimmung der Eltern vorgenommen. (vgl. Freigang/Wolf 2001, S.15ff.)

3.2 Betreuungsformen der Heimerziehung

Kinder und Jugendliche werden in der Heimerziehung entsprechend ihrer persönli-chen Bedarfe und ihrem Alter betreut. Dafür gibt es unterschiedliche Betreuungs-formen: • Heimgruppe im Zentralheim • Wohngruppen/ Kleinstheime • Außenwohngruppe • Milieunahe Heimerziehung • Sozialpädagogische Lebensgemeinschaft • Betreutes Wohnen

3.3 Heimgruppe

Die Situation in den Heimen hat sich wegen der Kritik an der Anstaltserziehung in den 1970er Jahren verändert. Mittlerweile sind die Einrichtungen ganz oder teil-weise dezentralisiert. Die einzelnen Gruppen sind kleiner und auf dem zentralen Heimgelände verteilt. Auch heute noch leben Kinder und Jugendlich in zentralen Einrichtungen mit 30 bis zu über 100 Plätzen. Im Gegensatz zur Vergangenheit je-doch schlafen die Heranwachsenden nicht mehr in Schlafsälen, sondern haben ei-gene Einbett- oder Zweibettzimmer.

Das Lebensfeld „Heim“ stellt, wie auch die Herkunftsfamilie, den Ort der Primärso-zialisation für die Kinder dar. Für Jugendlichen ist es teilweise der Ort, an dem sie die Primärsozialisation nachholen. Für die Heime ist dies eine große Herausforde-rung, denn für eine erfolgreiche primäre Sozialisation sind Eigenschaften nötig, die es sonst nur in der Primärgruppe Familie gibt. Die IGfH (Internationalen Gesell-schaft für Heimerziehung) forderte deswegen 1977, dass die Primärgruppe Heim

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klein und in ihrer Zusammensetzung ausreichenden stabil sein soll damit intime Kenntnisse der Partner ermöglicht werden. Außerdem sollte die Entwicklung der Partner über einen längeren Zeitraum verfolgt werden können und eine Verläss-lichkeit mit Rückendeckung nach außen bieten. Andernfalls könnte es durch zu wenig Zuwendung und einer lieblosen Behandlung zu Hospitalismus kommen. Je nach Dauer dieser emotionalen und kognitiven Deprivation kann es dann zu Ent-wicklungsrückständen, Konzentrationsschwäche, sowie dauerhafte emotionale Störungen kommen (vgl. Freigang/Wolf 2001, S.61).

Kinder brauchen Personen, die ihnen durch ihre Präsenz ein stabiles und kontinu-ierliches Lernfeld bieten. Durch sie bekommen sie die Möglichkeit etwas wieder und wieder tun zu können um so Wissen über Dinge und soziale Zusammenhänge zu erlangen. In einer Familie kann diese personelle Stabilität problemlos gegeben werden in einer Einrichtung nicht. Ein Heim ist ein Rollensystem, in dem es keine Kontinuität gibt, weil die einzelnen Individuen austauschbar und ersetzbar sein müssen. Die einzige verbindliche Beziehung kann nur zur Institution selber beste-hen.

Die Heimgruppe entspricht einer künstlich zusammengestellten Gemeinschaft. Kinder werden hinzugefügt, ohne die anderen Kinder zu kennen. Auch die Mitar-beiter werden mehr oder weniger zufällig der Gruppe zu geordnet. Es wird natür-lich darauf geachtet, dass sie für die Gruppe bzw. für die nötigen Anforderungen geeignet ist. Durch die beschriebenen strukturellen Gegebenheiten stellt die Heim-gruppe eher eine ZwangsHeim-gruppe dar (vgl. Freigang/Wolf 2001, S.63).

Die folgenden Faktoren zeigen die Ursache der sozialen Instabilität im Lebensfeld Heim.

3.3.1 Schichtdienst

Um die Kinder und Jugendlichen rund um die Uhr betreuen zu können, müssen die Mitarbeiter in Schichten arbeiten. Dafür gibt es verschiedene Dienstplanmodel-le, die das tägliche Kommen und Gehen der Mitarbeiter regeln. Es gibt die Mög-lichkeit in Früh- und Spätschichten zu arbeiten, sich Tageweise abzuwechseln oder eine Mischform daraus. In den normalen Heimgruppen wird mit einem Mitar-beiterschlüssel von 1:3 oder 1:2 gearbeitet. Das lässt vermuten, dass eine gute

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Zusammenarbeit mit nur 2 bis 3 Kindern stattfindet und die Möglichkeit besteht eine Beziehung zu den Erwachsenen zu ermöglichen. In der Realität sieht es aller-dings oft so aus, dass statt 4 nur ein Mitarbeiter in der Gruppe ist, weil die anderen frei haben, bei einer Fortbildung oder im Urlaub sind.

In der Heimerziehung prallen zwei Welten aufeinander. Für die Kinder und Ju-gendlichen ist die Heimgruppe ihr privater Lebensraum, für die Mitarbeiter dage-gen der Arbeitsplatz an dem sie ihr Geld verdienen (vgl. Freigang/Wolf 2001, S.64f.).

3.3.2 Fluktuation des Personals

Alleine durch die Schichtarbeit findet täglich ein Wechsel des Personals statt. Ebenfalls kann es durch Kündigung, Versetzung, in Rente gehen oder eine Schwangerschaft dazu kommen, dass ein Mitarbeiter seinen Arbeitsplatz verlässt. Rudolf Günther und Martha Bergler (1992) fanden in einer Studie heraus, dass die durchschnittliche Verweildauer der Mitarbeiter in einer Gruppe 4,4 Jahre beträgt. Das bedeutet, dass bei 4 Mitarbeitern in einer Gruppe fast jedes Jahr ein neuer Mitarbeiter hinzukommt. Für ein Kinder heißt das es muss sich auf mindestens 8 Bezugspersonen einstellen, wenn er 5 Jahre in der Gruppe lebt. Dazu kommen zusätzlich noch Praktikanten, Zivildienstleistende, Schwangerschafts- und Krank-heitsvertretung (vgl. Freigang/Wolf 2001, S.65f.).

3.3.4 Wechsel von Kindern und Jugendlichen

Wie auch bei den Mitarbeitern gibt es bei den Kindern und Jugendlichen einen re-gelmäßigen Wechsel. Die Unterbringung der Heranwachsenden in der Heimgrup-pe ist nur auf eine gewisse Dauer ausgelegt. Bei jüngeren Kindern, die nicht mehr in ihren eigenen Familien leben können, wird eine Unterbringung in einer Pflegefa-milie angestrebt. Man verspricht sich von diesem Verfahren bessere Bedingungen für das Kind, gerade im Hinblick auf eine größere Stabilität in einem familiären Le -bensfeld. In der normalen Heimerziehung leben meistens Kinder, die in ihre Her-kunftsfamilie zurückkehren sollen, Kinder die aus bestimmten Gründen nicht zu-rückkehren können/ wollen und auf ein selbstständiges Leben vorbereitet werden. Somit stellt das Leben in der Heimgruppe nur einen Abschnitt der Kindheit oder

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Jugend dar und nicht den Ort an dem man ganz oder weitgehend aufwächst. Durch diese vernünftige Handhabung erhöht sich die Fluktuation in der Heimerzie-hung noch weiter. Beträgt der durchschnittliche Aufenthalt eines Kindes im Heim 2 Jahre, so kommt es zu einem Wechsel von 5 Kindern pro Jahr in einer Gruppe. Bei einem mittelgroßen Heim mit 50 Plätzen bedeutet das in jedem Jahr 25 neue Kinder und Jugendliche aufgenommen werden.

Durch die Fluktuation kommt es zu Unruhen in den Gruppen, die sich dann auf das gesamte Heim verteilen können, weil die Kinder und Jugendlichen auch über die Gruppengrenzen hinaus befreundet oder verfeindet sind (vgl. Freigang/Wolf 2001, S.66).

3.3.4 Zentralheim aus Sicht der Eltern

Das Verhältnis zwischen Eltern und Heim kann ziemlich kompliziert und schwierig sein. Es kann von einem Vertrauen oder einem gegenseitigen Misstrauen geprägt sein. Der Kontakt kann da durch sehr eng, aber auch distanziert sein. Die Umstän-de unter Umstän-denen das Kind in Umstän-dem Heim untergebracht wurUmstän-den spielen dabei eine große Rolle. Weil sich nun andere Menschen die Versorgung ihres Kindes, die Aufgabe der Eltern, übernehmen. Die Eltern nehmen dies als ein Versagen wahr. Dadurch kann die Beziehungen zu den Mitarbeitern anfangs asymmetrisch sein. Das Machtgefälle besteht aus der kompetente Fachkraft auf der einen Seite und den erwiesenermaßen schlechten Eltern auf der anderen Seite, die von Peinlich-keit, Unfähigkeit und Unsicherheit begleitet ist (vgl. Freigang/Wolf 2001, S.78f.).

3.3.5 Beziehungen der Kinder und Jugendlichen zu den Erziehern im

Heim

Durch den Schichtdienst erfahren die Kinder und Jugendlichen permanente Ab-brüche in der Beziehung zu ihren Erziehern. Vor allem für Kinder und Jugendliche die diese Trennungen zum ersten Mal erleben, kann es kränkend sein. Sie haben sich auf einen Erwachsenen eingelassen und werden wieder alleingelassen. Das ist für die Kinder schmerzhaft und enttäuschend. Die Krux an der Situation ist au-ßerdem, dass das eigentliche Ziel der Heimerziehung der Aufbau einer Beziehung

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ist. Durch die die Kinder und Jugendlichen dann neue Lebenserfahrungen machen können. Erleben die Heranwachsenden diese Trennungen und Neuanfänge über Jahre, so kann es zu fehlender Bindungsfähigkeit und Bindungslosigkeit kommen (vgl. Freigang/Wolf 2001, S.72).

Trotz der Problematik Schichtarbeit ist es möglich, dass sich Fachkräfte zu siche-ren Bezugspersonen entwickeln. Walter Gehres führte u.a. dazu Mitte der 1990er Jahre eine Untersuchung mit ehemaligen Heimkindern durch. Das Ergebnis zeigt wie wichtig stationäre Erziehungshilfen für die Lebensbewältigung sein können und welche Bedingungen für eine erfolgreiche Heimerziehungsarbeit förderlich sind. Mit Hilfe von Interviews zu unterschiedlichen Themen bekam er Einsicht in das Leben der Care Leaver. Es kam dabei raus, dass ein Großteil der ehemaligen Heimkinder eine Lieblingserzieher/innen hatten, die u.a. als Vertrauensperson eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielten. Wichtige Faktoren dafür waren: „Gegensei-tiges Verständnis; Einfühlungsvermögen der Erzieher; Erzieher als Identifikations-figuren; Ansprechpartner für persönliche Belange; Mutter bzw. Vaterersatz; enger persönlicher Kontakt; Aufgeschlossenheit (Ehrlichkeit); befriedigend erlebte Ge-spräche; Engagement für die Bedürfnisse der Interviewpartner und Interviewpart-nerinnen; Interesse am/an der Befragten; privater Kontakt“ (Gehres 1997, S.124). Die Erzieher haben als zentrale erwachsene Bezugspersonen im Heim einen großen Einfluss auf die Sozialisation der Kinder. Bei der Frage was die Kinder durch den Heimaufenthalt für ihr Leben mitgenommen haben, wurden Faktoren genannt, die sie auf Beziehungskontexte beziehen u.a.: Durchsetzungsvermögen; Umgang mit Menschen; innere Ruhe; Gelassenheit und Verständnis; Förderung der Integrationsfähigkeit in Gruppen; Toleranz gegenüber Mitmenschen; Verzicht-fähigkeit; Rücksichtnahme; Aufarbeitung der Verhältnisse zur Herkunftsfamilie; Nachholen von Entwicklungsdefiziten (vgl. Gehres 1997, S.126).

3.4 Herman Nohl und der pädagogische Bezug

Herman Nohl war einer der Hauptvertreter der geisteswissenschaftlichen Pädago-gik. Während man in den Naturwissenschaften versucht die Gegenstände zu

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er-klären und dafür nach einem Ursache-Wirkungs-Schema vorgeht, reicht dies in den Geisteswissenschaften nicht. Man sucht nicht nach allgemeingültigen Geset-zen, sondern versucht ihren Gegenstand aus der Zeit heraus zu verstehen. Päd-agogik wird somit eine Theorie von der und für die Praxis.

Ab den 1910er Jahren führte er den Begriff des pädagogische Bezugs in die Erzie-hungswissenschaften ein (vgl. Giesecke 1997, S.219f.).

3.4.1.Relative Autonomie der Pädagogik

Die Pädagogik stand sehr lange im Dienst objektiver Aufgaben von Staat und Kir-che. In der Auseinandersetzung mit der Jugendbewegung in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhundert änderte sich der Blickpunkt. Es entstand der Gedanke der Selbsterziehung der Jugend. Diese bedeutet, dass die Jugend sich ohne Ein-fluss der Älteren selbst erzieht. Nohl betont hier „...die Bedeutung des Generati-onsverhältnisses und sein Gefälle zwischen reif und unreif, selbstständig und un-selbstständig als unverzichtbarem Element von Erziehung und Bildung“ (Schäfter 2010, S.30). Nun stand das Individuum und sein subjektives Lernen im Mittel-punkt. Nohls Grundformel dazu lautete: „Nicht die Probleme, die der Jugendliche macht, sondern die die er hat, haben die Sozialpädagogik zu interessieren“. Das Kind vom willenlosen Geschöpf, das sich den Zwecken der älteren Generation und ihren Zwecken anpassen musste, wurde jetzt in seinem eigenen Leben gesehen. Es sollte zur eigenen Autonomie kommen und dafür die angemessene Förderung bekommen und in Krisensituationen unterstützt werden um sich körperlich und geistig entfalten zu können (vgl. Kuhlmann 2013, S.135).

3.4.2 Erziehung als pädagogische Gemeinschaft

Grundlage dieser Erziehung ist eine „leidenschaftliche“, von pädagogischer Liebe getragene Beziehung eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen da-mit dieser sich körperlich und geistig entwickeln kann. Die Erziehung wird als eine individuelle Aufgabe verstanden, die dann endet wenn der Zögling mündig wird. Die Pädagogik hat so das Ziel, sich selbst überflüssig zu machen (Selbstver-antwortlichkeit). Das Verhältnis der beiden ist ein asymmetrisches Verhältnis, bei dem der Jüngere (unreife, unterlegenen) auf den Älteren (reifen, überlegenen) an-gewiesen ist. Durch den unterschiedlichen Reifegrad der Beiden kommt es zu ei-nem Spannungsverhältnis (vgl. Kuhlmann 2013, S.136).

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3.4.3 Erziehung als pädagogisches Verhältnis

Das Verhältnis zum Kind ist doppelt bestimmt (Doppelheit der Liebe). Zum einen von der Liebe in seine Wirklichkeit. Ziel ist es das höhere Leben im Zögling zu ent-fachen und ihn zu zusammenhängender Leistung zu führen. Leistung jedoch nicht der Leistung halber, sondern weil sich in ihr das Leben des Menschen vollendet. Es soll kein Lebenstypus gezüchtet werden.

Zum anderen ist es von der Liebe zu seinem Ziel, dem Ideal des Kindes, be-stimmt. Dem Kind soll nichts Fremdes eingebildet werden. Die Lebensform zu der sie führen soll, muss die Lösung seines Lebens sein. Das Verhältnisse zur Wirk-lichkeit und zum Ziel sollen nicht getrennt werden, sondern als Einheit betrachtet werden (vgl. Giesecke 1997, S.224).

3.4.4 Pädagogische Gemeinschaft wird von zwei Mächten getragen

Das Erzieher-Zögling-Verhältnis wird von Liebe und Autorität getragen. Mit Autori-tät ist hier aber nicht Gewalt gemeint. Aus der Sicht des Kindes ist es viel mehr: Liebe und Gehorsam. Er folgt dem Erzieher freiwillig und nicht blind oder aus Angst. Er nimmt den Erwachsenenwillen aus eigenem Willen auf. Diese spontane Unterordnung ist Ausdruck eines inneren Willensverhältnis, dass durch eine über-zeugten Hingabe des Erziehers an die Forderungen des Leben vertreten wird. Jede Generation muss sich die Relation von Selbstbestimmung und freiwilligem Gehorsam neu erkämpfen. (vgl. Giesecke 1997, S.225).

3.4.5 Erziehung als antinomisches Verhältnis

Der Kern der dargestellten Erziehungswirklichkeit ist das Verhältnis zwischen nem älteren und einem jüngeren Menschen, welches auf Bildung abzielt und ei-nem Verhältnis, das durch eine Grundautonomie bestimmt ist.

Der Erzieher ist hier in einer zweifachen Verantwortung. Er steht zwischen Kultur und Kind . Zum einen trägt er die Rolle des Anwalts des Kindes, in der er auf die Bedürfnisse des Kindes eingeht. Zum anderen ist er Repräsentant der Kultur. Er muss dem Zögling die gesellschaftlichen Anforderungen nahe bringen, in die sich das Kind später eingliedern soll. Der Erzieher muss beiden Rollen gerecht werden

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und trotz allem immer das höchsten Ziel, die Förderung des Zögling, im Auge be-halten.

3.4.6 Lob und Kritik am pädagogischen Bezug

Das Konzept des pädagogischen Bezugs wurde häufig kritisiert. Einer der Kritik-punkt ist die zu geringe Beachtung der äußeren Einflüsse auf die pädagogisch Be-ziehung. Außerdem wurde keine Unterscheidung zwischen den gegebenen päd-agogischen Beziehungen und normativen Aussagen zum Umgang miteinander ge-macht wurde. Lobenswert ist allerdings, dass Nohl einer der ersten Pädagogen war, der sich explizit Gedanken über das Erzieher-Zögling-Verhältnis machte und die Aspekte: Vertrauen, Wechselseitigkeit, Zeitlichkeit und Veränderbarkeit in sein Konzept mit einbrachte (nach Giesecke 1997, S. 227ff.).

4. Zusammenfassung

Mit Bezug zu Gieseckes pädagogischen Beziehung lässt sich sagen, dass es sich bei der professionellen pädagogischen Beziehung anfangs um eine Rollenbeziehung handelt , die im Laufe der Zeit persönlicher und enger wird. Die Rollenbezie -hung und persönliche Bezie-hung überlagern sich und geben dem Hilfe suchenden Menschen Sicherheit im Umgang mit Entwicklungsanregungen vgl. Ansen 2009, S.388). Menschliche Beziehungen sind für die Primärsozialisation des Kindes wichtig, ohne sie kann es keine eigene Identität entwickeln. Der Pädagoge wird für seine professionelle Arbeit bezahlt. Er handelt im Auftrag Dritter, ohne die er nicht auf das Kind oder den Jugendlichen getroffen wäre. Das öffentliche pädagogische Handeln ist zeitlich begrenzt. Dies ist darauf bezogen, dass der Pädagoge einen Arbeitsvertrag hat, der die Arbeitszeit und Nichtarbeitsszeit vorgibt. Um zu gewähr-leistet, dass die Kinder und Jugendlichen in Heimen oder Internaten rund um die Uhr versorgt, betreut und beaufsichtigt sind wie in einer Familie, ist es nötig dass die dafür zuständigen Personen schichtweise arbeiten. Durch diese Arbeitsweise ergibt sich ein ständiger Wechsel von Aufbau und Abbruch der Beziehungen. Solche Abbrüche und Trennungen haben die Kinder und Jugendlichen teilweise bereits vor dem Leben in der Einrichtung erlebt, so dass es zu Bindungs- oder Verhaltensstörungen kommt. Damit ein Personalwechsel möglich ist und es nicht

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zu Reibereien kommt, darf die Beziehung nicht zu eng sein. Meistens arbeiten die Pädagogen in ihrer Anstellung mit mehreren Adressaten z.B. Lehrer mit Schülern, die sie sich weder aussuchen noch deren Anzahl begrenzen können. Sie müssen die Beziehung emotional so distanziert gestalten, dass ein Wechsel ohne Frustration möglich ist und trotzdem allen Adressaten die gleiche hohe Aufmerksamkeit zu teil wird. Vor allem bei Grundschulkindern ist dies äußerst notwendig. Grade diese Kinder neigen dazu eine zu dichte Beziehung mit dem Lehrer zu suchen. Sie brauchen deshalb einen Ort an dem sie lernen ihre emotionalen Bedürfnisse umzulenken in emotional distanzierte Beziehung, wie sie im öffentlichen Leben zu finden sind. In der sozialpädagogischen Arbeit besteht eine Machtasymmetrie zwischen dem Pädagogen und den Adressaten (Eltern, Kinder und Jugendliche). Die Pädagogen besitzen Fachkenntnisse, durch die sie einen Rückgriff auf bestimmte Techniken bzw. Methoden haben. Die Fachlichkeit bezieht sich darauf, dass der Pädagoge gelernte Methoden anwendet um direkt in den Sozialisationsprozess des Kindes einzugreifen. Bindung besitzt eine viel größere emotionale Komponente als eine Beziehung. Sie besteht im Normalfall zwischen Mutter/ Vater und Kind und ist für die Entwicklung des Kindes wichtig. Durch Missbrauch, Vernachlässigung o.a. kann es zu Bindungsstörungen und später zu Verhaltensstörungen kommen.

Alles in einem zeigt sich, dass die Beziehung entscheidend für eine gelingende Zusammenarbeit mit dem Klienten ist. Jeder Sozialarbeiter sollte sich im Klaren darüber sein und auch die kritischen Aspekte wie Macht und Scham beachten. Grade für Kinder und Jugendliche ist es wichtig, funktionierende/ halt gebende Be-ziehungen zu erfahren um später davon profitieren zu können.

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5. Quellenangaben

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Ainsworth, Mary: Bindungen im Verlauf des Lebens (1985). In Grossmann, Karin Grossmann, Klaus E. (Hrsg.): Bindung und menschliche Entwicklung - John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie.

Stuttgart 2011, S. 341-366.

Ansen, Harald: Beziehungen als Methode in der Sozialen Arbeit. Ein Widerspruch in sich? In: Soziale Arbeit, 58 (2009), H. 10, S. 381-389.

Asendorpf, Jens/ Banse, Rainer: Psychologie der Beziehung. Bern 2000.

Böhle, Andreas u.a.: Beziehungsarbeit unter den Bedingungen von Freiwilligkeit und Zwang. In: Soziale Passagen (2012) 4, S.183-202.

Freigang, Werner/ Wolf, Klaus: Heimerziehungsprofile - Sozialpädagogische Portraits. Weinheim/Basel 2001.

Gehres, Walter: Das zweite Zuhause – Lebensgeschichte und Persönlichkeits- entwicklung von Heimkindern. Opladen 1997

Holmes, Jeremy: John Bowlby und die Bindungstheorie. München 2006. Kuhlmann, Carola: Erziehung und Bildung.Wiesbaden 2013.

Referenzen

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