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Überleben & Überschreiten vs. Überlesen & Überschreiben

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Autor

Dirk Schulz (Köln) Titel

Überleben & Überschreiten vs. Überlesen & Überschreiben. Die heteronormative Ordnung des queeren Diskurses

Erschienen in

Textpraxis. Digitales Journal für Philologie # 5 (2.2012) / www.textpraxis.net url

http://www.uni-muenster.de/textpraxis/dirk-schulz-die-heteronormative-ordnung- des-queeren-diskurses

urnurn:nbn:de:hbz:6-88399579961

Die URN dient der langfristigen Auffindbarkeit des Dokuments.

Empfohlene Zitierweise

Dirk Schulz: »Überleben & Überschreiten vs. Überlesen & Überschreiben. Die hete- ronormative Ordnung des queeren Diskurses«. In: Textpraxis 5 (2.2012). URL: http://

www.uni-muenster.de/textpraxis/dirk-schulz-die-heteronormative-ordnung-des- queeren-diskurses, URN: urn:nbn:de:hbz:6-88399579961

Impressum

Textpraxis. Digitales Journal für Philologie ISSN 2191-8236

Westfälische Wilhelms-Universität Münster Graduate School Practices of Literature Germanistisches Institut

Schlossplatz 34 48143 Münster

textpraxis@uni-muenster.de

Redaktion und Herausgabe: Seth Berk, Dominic Büker, Pegah Byroum-Wand, Nina Gawe, Gesche Gerdes, Japhet Johnstone, Innokentij Kreknin, Christoph Pflaumbaum, Matthias Schaffrick, Kerstin Wilhelms

Alle Inhalte aus Textpraxis sind im Sinne von Open Access frei

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Überleben & Überschreiten vs.

Überlesen & Überschreiben

Die heteronormative Ordnung des queeren Diskurses

Der Titel dieses Beitrags mag zunächst pathetisch und plakativ erscheinen. Vielleicht ist er das auch. Mehr jedoch ist er als großes Unbehagen gegenüber einer mittlerweile eta- blierten, heteronormativen Ein- und Zuordnung queerer Interventionsbestrebungen in der Literatur- und Kulturwissenschaft zu verstehen. Ein grundsätzliches, heteronorma- tives Geschlechts- und Sexualitätsverständnis darf nämlich – auch literarisch – schein- bar nicht infrage gestellt werden. Falls dies doch geschieht, wird durch Verweise auf die sexuell-geschlechtliche ›Andersartigkeit‹ des Autors oder der Autorin sichergestellt, dass sie individuell und exzeptionell zuschreibbar sind. Mit Hilfe weiterer Kontroll- und Ein- schränkungsinstanzen des Diskurses wie zum Beispiel dem Kommentar und der Diszi- plin werden sie zusätzlich gebändigt und so anti-queert. Sowohl im akademischen als auch populären Gebrauch wird ›queer‹ schon seit einiger Zeit nicht mehr abgrenzend zu den häufig analog gebrauchten Termini gay / lesbian oder homosexual verstanden. Die Tatsache des mittlerweile vorwiegend austauschbaren Gebrauchs dieser Begrifflichkeiten kann, ähnlich wie die Tendenz zu eindeutigen, kategorialen Lesarten der ausgewählten literarischen Texte, als wirksame Selbstaffirmation der heteronormativen Matrix ver- standen werden, die dem subversiven Potenzial einer beständigen Infragestellung ihrer

›Natürlichkeit‹ entgegenwirkt. Mit Hilfe solcher diskursiven Regulierungsmechanismen wird zum einen die Lesbarkeit und Authentizität von Identitäten bekräftigt und zum an- deren die Natürlichkeit und Normalität der heteronormativen Logik von Geschlecht und Sexualität aufrechterhalten. Die grundsätzliche Unnatürlichkeit beziehungsweise Perfor- mativität von Identitätskategorien wird durch den diskursiven Ordnungsapparat somit aberkannt und jede Seinsmöglichkeit jenseits binärer Strukturen verhindert. Judith But- ler schreibt in Undoing Gender diesbezüglich von einer Gewalt, begründet in

a profound desire to keep the order of binary gender natural or necessary, to make of it a structure, either natural or cultural, or both, that no human can oppose, and still remain hu- man. If a person [or text] opposes norms of binary gender […] and that stylized opposition is legible, then it seems that violence emerges precisely as the demand to undo that legibility, to question its possibility, to render it unreal and impossible in the face of its appearance to the contrary.1 [meine Ergänzung; D.S.]

Verdeutlichen lässt sich die Gewalt, die durch die Insistenz auf die heteronormative Ord- nung hervorgerufen wird, an der mehrheitlichen Überschriebenheit des subversiven Po- tenzials queerer Diskursbeiträge. Beispielhaft hierfür liest sich die etablierte Rezeption

1 | Judith Butler: Undoing Gender. New York 2005, S. 35.

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und literarische Neuaneignung von zwei Romanklassikern der englischen Literaturge- schichte: Sowohl Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (1890 / 1891) als auch Virginia Woolfs Mrs. Dalloway (1925) inspirierten während der letzten Millenniumswende gleich vier Autoren dazu, die Erzählungen neu zu adaptieren, fortzusetzen oder ihnen eine neue,

›modernisierte‹ Gestalt zu geben. Michael Cunninghams The Hours (1999), Will Selfs Do- rian. An Imitation (2002), Robin Lippincotts Mr. Dalloway (1999) und Jeremy Reeds Do- rian. A Sequel (1998) bezeugen die ungebrochene Popularität und Aktualität der Romane von Wilde und Woolf und sind sicher auch als Hommagen an deren Erzählkunst zu ver- stehen. Gerade deshalb verblüffen die fragwürdigen Gestaltungsformen der Aneignung und Huldigung, die die Handlungsspielräume der Erzählungen eher einengen als wei- terzuführen.2 Vor diesem Hintergrund wirken die ›Originale‹ deutlich subversiver und spielerischer als ihre selbsterklärten Nachkommen in ihrem Beharren auf Repräsentati- on, Essenz und Teleologie; eben jene ›Funktionen‹ von Literatur, die Wilde und Woolf nicht nur ablehnten, sondern in den beiden Romanen auch problematisiert werden.3

In separierter Form haben beide Erzählungen eine lange und anhaltende Rezeptions- geschichte und einen gesicherten Platz im britischen Literaturkanon, doch wurden weder die Romane noch deren Autor_innen bislang in einen näheren, theoretischen oder / und literarischen Zusammenhang gebracht. Vielmehr werden Oscar Wilde und Virginia Woolf vor allem als Galionsfiguren verschiedener Epochen und Ästhetiken, dem viktorianisch- dekadenten Fin de Siècle einerseits und dem experimentell-feministischen Modernismus anderseits, wahrgenommen. Allerdings werden beide als Ikonen einer l esbisch-schwulen Literaturgeschichte lange vor ›Gay Liberation‹ in einen Bedeutungszusammenhang von homosexueller Repräsentanz und Identifikation gerückt, der vor allem durch biographi- sche Rückbezüge nahegelegt wurde. Es ist jedoch genau diese Mythologisierung ihrer

›Homosexualität‹ und die gängige Annahme, sie schrieben aufgrund gesellschaftlich er- zwungener Geheimhaltung in codierter Form über ihre gleichgeschlechtliche Liebe, die ihren literarischen Werken eine umfassendere Subversion von und weiter reichende Kri- tik an literarischen und gesellschaftlichen Konventionen versagt.

Dabei ist meiner Ansicht nach genau die Infragestellung und Denaturalisierung von normativen, textuellen und sexuellen Identitäten sowohl das Anliegen von The Picture of Dorian Gray als auch von Mrs. Dalloway. Wilde und Woolf lassen in ihren Texten bereits anti-essenzialistische Überlegungen und Strategien erkennen, wie sie später von Roland Barthes, Michel Foucault und Judith Butler reformuliert wurden und können somit als Vorfahren queerer Theorie und Politik verstanden werden. Doch die Mytholo- gisierung, Klassifizierung und Kategorisierung beider Texte und ihrer Autor_innen, be- sonders in der fortlaufenden Heranziehung ihrer Biographien, hat den Blick für die ge- meinsamen und radikalen Strategien der Unterminierung naturalisierter Signifikationen verstellt. So werden die Romane in der gängigen Wahrnehmung biographisch-selbstre- ferenziell verstanden,4 während beide Texte einen literarischen Realismus und damit die

2 | Von diesen Adaptationen bewahrt The Hours wohl am ehesten die queere Qualität seines Vor- bilds und kann im Gegensatz zu den anderen Texten als Weiter- und nicht Überführung der litera- rischen Quelle verstanden werden. Allerdings suggeriert das Romanende dann doch eine genealogi- sche und nicht performativ-symbolische Kausalität von Identitäten.

3 | Zu einer ausführlicheren Darlegung der hier skizzierten Problematik inklusive kritischer Her- anziehung der Adaptionen und ausführlicher Berücksichtigung der ›Sekundärliteratur‹ siehe Dirk Schulz: Setting the Record Queer. Rethinking Oscar Wilde’s The Picture of Dorian Gray and Virginia Woolf’s Mrs. Dalloway. Bielefeld 2011.

4 | Es gibt seltene Ausnahmen, wie beispielsweise Pamela L. Caughies Virginia Woolf and Postmod- ernism: Literature in Quest and Question of Itself (1991), Michael Gillespies Oscar Wilde and the Poetics

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Möglichkeit authentischer Repräsentation vehement bestreiten. Um das umfassende, dekonstruktive Wirkungspotenzial von The Picture of Dorian Gray and Mrs. Dalloway herauszustellen, erweist sich die Kombination der Theorien von Barthes und Butler als äußerst nützlich. In ihren Überlegungen zur Performativität von Text (Barthes) und Sex (Butler) legen sie dar, wie jegliche Erfahrung und jeglicher ›Ausdruck‹ von ›Realität‹ im- mer schon durch Konventionen und Ordnungen geformt werden, und somit weder na- türlich noch ›originär‹ sein können. Damit einhergehend ist auch die Artikulation von geschlechtlichem und sexuellem Empfinden symbolischen und performativen Bedin- gungen unterworfen. Um gesellschaftlich anerkannt und verstanden zu werden, bedarf es der Eindeutigkeit und der Wiederholung naturalisierter Konventionen, was wiederum eine Stilllegung individueller Seins- und Signifikationspotenziale bedeutet.

Genau diese radikalen, scheinbar poststrukturalistischen Überlegungen lassen sich in der literarischen Gestaltung von Wildes und Woolfs Romanen bereits feststellen, genau- so wie ihre Widersetzung und Widersatzung gegen Vereinnahmung, Vereinheitlichung und Kategorisierung von Performanzen. Beide Romane artikulieren ein Wirklichkeitsver- ständnis, welches nicht auf eine wesenhafte Bedeutungsimmanenz sondern auf ihre natu- ralisierte Mythologisierung rekurriert. Wilde und Woolf verstehen Sprache und Welter- fahrung als untrennbar miteinander verbunden und drücken ihre Besorgnis über konven- tionalisierte und essenzialisierte Wahrheitsverständnisse in vielen ihrer Schriften aus:

The first duty of life is to be as artificial as possible. What the second duty is no one has yet discovered. In all unimportant matters, style, not sincerity, is the essential. In all important matters, style, not sincerity, is the essential. If one tells the truth, one is sure, sooner or later, to be found out.5

Whether we call it life or spirit, truth or reality, this, the essential thing, has moved off, or on, and refuses to be contained any longer in such ill-fitting vestments as we provide.6

Obwohl der Ton, in dem Wilde und Woolf ihre Skepsis gegenüber ›wahren‹ und ›we- sentlichen‹ Performanzen artikulieren, sicher unterschiedlich ist, lässt sich doch in bei- den Formulierungen eine deutliche Absage an die gängigen Separierungen von Form und Inhalt, Kunst und Natur, Oberflächlichkeit und Essenz erkennen. Sowohl Wilde als auch Woolf setzen Form und Inhalt, Sprache und Wirklichkeit in einen nicht lösbaren Zusammenhang und ermahnen genau aus diesem Grund zu einem spielerischen, anti- essenziellen Lesen und Schreiben. Denn ein Lesen und Schreiben, das nach Essenzen und Wahrheiten sucht wird notwendigerweise enttäuscht beziehungsweise schränkt die einem Text inhärenten Bedeutungsmöglichkeiten erheblich ein. Sprache konstruiert und bestimmt einerseits unser Realitätsverständnis, aber das arbiträre Verhältnis von Spra- che und ›Wirklichkeit‹ negiert die Möglichkeit einer authentischen oder repräsentativen Ausdrucksform des Selbst. Allerdings kann die sprachlich-symbolische Ordnung von Identitäten in ihrer kategorialen, konventionellen und naturalisierten Form zu einer fa- talen Daseinsbestimmung des Individuums führen, ein Thema, das sowohl in The Picture of Dorian Gray als auch Mrs. Dalloway leitmotivische Funktion erhält.

of Ambiguity (1996), oder Joseph Bristows »A complex multiform creature – Wilde’s sexual identities«

(1997). Allerdings verweisen diese Studien ebenfalls explizit auf Autor_innen und ihre Biographien.

5 | Oscar Wilde: »Phrases and Philosophies for the Use of the Young«. Collins Complete Works of Oscar Wilde. Glasgow 52003 [1894], S. 1244–1245, hier S. 1244.

6 | Virginia Woolf: »Modern Fiction«. In: Mitchell A. Leaska (Hg.): The Virginia Woolf Reader. San Diego 1984 [1925], S. 283–292, hier S. 287.

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Bereits die Titel der Erzählungen verweisen auf die fatale Verflechtung der symbo- lischen Ordnung mit individuellen Lebensentwürfen. Es ist schließlich nur ein Bild von Dorian, das für ihn zum fatalen Bedeutungsträger wird, weil er damit an ein Image ge- bunden bleibt, das der Komplexität seines Ich-Empfindens nicht entspricht und somit zu einer sich kontinuierlich steigernden Selbstentfremdung führt. Die Titelheldin von Woolfs Roman wiederum verschwindet hinter dem Namen Mrs. Dalloway, der ihr von einer patriarchalen Gesellschaft zugewiesen wird. Auch Clarissa spürt die Anstrengung und Absurdität, anhaltend eine kohärente Identität verkörpern zu müssen, die ihrem ambivalenten Selbstempfinden allenfalls temporär entspricht oder entsprach:

That she held herself well was true; and had nice hands and feet; and dressed well, consider- ing that she spent little. But often now this body she wore…this body, with all its capacities, seemed nothing – nothing at all. She had the oddest sense of being herself invisible, unseen;

unknown; there being no more marrying, no more having of children now, but only this as- tonishing and rather solemn progress with the rest of them, up Bond Street, this being Mrs.

Dalloway; not even Clarissa any more; this being Mrs. Richard Dalloway.7 (11)

Individuelle Komplexität wird durch kategoriale, soziale Identitäten überschrieben und sinnliche Wahrnehmungen können in der performativen Beschaffenheit der Sprache nie- mals authentisch beschrieben werden. Der Wunsch nach sozialer Anerkennung und der gleichzeitige Verlust von Identitätspotenzialen bringt daher zwangsläufig ein fortwäh- rendes Spannungsverhältnis mit sich. Wie beide Romane deutlich machen, führt dies in dramatischster Konsequenz zur unerträglichen Selbstentfremdung und letztlich zum Selbstmord, wobei die Erzählungen die Frage aufwerfen, inwieweit die Figuren von ih- rem sozialen Umfeld festgeschrieben und somit in den Suizid getrieben werden.

Sowohl The Picture of Dorian Gray als auch Mrs. Dalloway sind selbstreflexive Romane und verweisen immer wieder auf ein temporäres, fluides und komplexes Ich- Empfinden und die grundsätzliche Unmöglichkeit wahrer, natürlicher und allgemeingültiger Bedeu- tungsfindung. Personelle und textuelle Identitäten sind immer schon performativ, künst- lich, un-eigen und sind daher zugleich Bedingung und Verhinderung interpersoneller Kommunikation. Beide Erzählungen schildern die vergebliche Suche nach einem über- geordneten, dauerhaften Sinn, nach Gültigkeit und Wahrheit in einer durch Konventio- nen und Normierungen strukturierten sozial-symbolischen Ordnung. Dieser Ordnung ist in der Logik beider Romane nur durch Skepsis und der Abkehr von ihren essenzia- lisierten Bedeutungszusammenhängen mit Hilfe von Sprachspielen, Paradoxien und al- ternativen Semiologien zu entkommen. Entgegen der gängigen Rezeption und Adaption, die nach Essenzen und Repräsentanz sucht, folgen die semiologischen Konzeptionen von The Picture of Dorian Gray und Mrs. Dalloway einer Vorstellung von Literatur, in der

»writing constantly posits meaning, but always in order to evaporate it […] by refusing to assign to the text (and to the world as text) a ›secret,‹ i.e., an ultimate meaning.«8 Roland Barthes führt dies in The Death of the Author noch weiter aus:

Writing can no longer designate an operation of recording, notation, representation, or »de- piction« (as the Classics would say); rather, it designates […] a performative, a rare verbal

7 | Bei nachfolgenden Zitaten aus den Romanen Mrs. Dalloway von Virginia Woolf und The Picture of Dorian Gray von Oscar Wilde werden die Seitenbelege am Ende des jeweiligen Zitats nach folgen- den Ausgaben in Klammern angeführt: Oscar Wilde: The Picture and Dorian Gray and Selected Sto- ries. New York 1983; Virginia Woolf: Mrs. Dalloway. London 1992 [1925].

8 | Roland Barthes: Image / Music / Text. London 1986 [1977], S. 54.

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form (exclusively given in the first person and in the present tense) in which the enunciation has no other content (contains no other proposition) than the act by which it is uttered.9 Allerdings erscheint diese Logik und Ermahnung in der gängigen Rezeption von Wilde und Woolf kaum Berücksichtigung zu finden, im Gegenteil ist die Mythologisierung der Autor_in-Funktion bei ihren Werken überdurchschnittlich hoch. Obwohl sowohl Oscar Wilde als auch Virginia Woolf ihre Romane bewusst ambivalent und autor-los konzipie- ren, kein »Geheimnis« und keine »ultimative Bedeutung« bereitstellen, wird dies in den vorherrschenden Lesarten beider Erzählungen ignoriert und sehr häufig kontrahiert. In der Mehrheit lässt sich ein vorherrschendes Misstrauen gegenüber der ›Sperrigkeit‹ und Uneindeutigkeit der Texte feststellen, scheinbar nahegelegt durch die von Barthes eben- falls problematisierte Annahme, dass »the Author is supposed to feed the book [and] has the same relation of antecedence with his work that a father [or mother] sustains with his child.«10 [meine Ergänzung; D.S.] Entgegen der Kritik von Wilde und Woolf an ein- engenden Kunst- und Literaturverständnissen durch biographische und repräsentative Lesarten, kann scheinbar kaum eine Romananalyse ihrer Texte auf biographische Rück- bezüge verzichten. In ihrer Einleitung zu Woolfs Roman The Voyage Out postuliert Jane Wheare eine solche biographische Herangehensweise an die Texte der Schriftstellerin so- gar als die einzig mögliche:

Many of the problems which we encounter in reading her more experimental fiction, how- ever, evaporate if we recognize that, far from being interested simply in the form of her novels, Woolf was essentially an autobiographical writer. Interest in the details of an au- thor’s life can be merely prurient or, at any rate, of little relevance to their work. In the case of Woolf, however, there is a legitimate inquiry to be made into her private life and opinions, and one which greatly enhances our understanding of her experimental fiction.

Such obscurities as are to be found, for example, in The Waves largely disappear when we read Woolf ’s diaries and letters alongside biographies by writers like her nephew Quentin Bell, Phyllis Rose and Lyndall Gordon. In so doing it becomes clear that Woolf ’s own life provides the subject-matter, or plot, upon which her experimental, poetic novels are con- structed […]. Whether a work of fiction ought in fact to be self-sufficient remains a ques- tion of critical debate.11

Wheares Überlegungen sind beispielhaft für die mehrheitliche Überzeugung einer reprä- sentativen Funktion von Literatur, die sowohl The Picture of Dorian Gray als auch Mrs.

Dalloway problematisieren und auch der / die jeweilige Autor_in in ihren Schriften stets ablehnen. Wheare postuliert dabei zunächst eine fragwürdige Opposition zwischen Form und Inhalt in Woolfs Literatur, findet die essenzielle Bedeutung der Texte durch biogra- phische Bezüge und stellt schließlich den Wert einer solch selbstgenügenden Literatur infrage. Anstatt Woolfs Bemühungen, etablierte Identitätsparameter zu denaturalisieren als eine Errungenschaft anzuerkennen, die ›Künstlichkeit‹ der Texte als ein notwendiges Spiel mit einengenden Konventionen, wird die ›formale Obskurität‹ ihrer Schriften als ein Verschleiern des ›wahren‹ behandelten Gegenstandes angesehen. Es mag schon sein, dass die unterstellte Verworrenheit und Unzugänglichkeit der Texte verschwindet, wenn Literatur biographisch verknüpft wird. Aber weitaus mehr verschwindet durch die wie- derholten auktorialen Klärungsbemühungen, denn solch ein »restrictive discourse […]

9 | Ebd., S. 145f.

10 | Ebd., S. 52.

11 | Jane Wheare: »Introduction«. In: Virginia Woolf: The Voyage Out. London 1992, S. ix–xxxvii, hier S. xiii.

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performs as a regulatory operation of power that naturalizes the hegemonic instance and forecloses the thinkability of its disruption.«12

Sowohl The Picture of Dorian Gray als auch Mrs. Dalloway »reject conventional eit- her / or dichotomies in favor of employing more diverse both / and dispositions.«13 Aber diese Ambiguität muss scheinbar immer wieder ›korrigiert‹ werden, um die Polaritä- ten aufrecht zu erhalten, durch die Identität generell konzipiert wird. Sowohl die gän- gige Rezeption der Romane als auch ihre literarischen Neuaneignungen überlesen und überschreiben ihre genuine, queere Disruption gängiger Attributionen und weisen die Texte dadurch in ihre kategorischen Schranken. Eine durchgängige Prämisse der kri- tischen und literarischen Auseinandersetzungen scheint zu sein, dass die mittlerweile gängige Vorstellung von Homosexualität als einer essenziellen Identität, die sich zu Wil- des und Woolfs Zeiten wissenschaftlich erst formierte, den Autor_innen noch nicht in dieser Form zur Verfügung stand. Die auffällige Verschwiegenheit und Unfassbarkeit der Texte von Wilde und Woolf wird also kausal mit der damaligen gesellschaftlichen Verschwiegenheit über und Unfassbarkeit von gleichgeschlechtlichem Begehren verbun- den. Die damalige gesellschaftliche Ächtung gleichgeschlechtlichen Begehrens und Un- möglichkeit einer dezidiert homosexuellen Identität wird als schriftstellerische Hürde beziehungsweise Grund für ein notwendiges, codiertes Umschreiben gedeutet. Doch ist es genau dieses mittlerweile naturalisierte Verständnis von essenziellen, sexuellen und geschlechtlichen Identitäten und einer historisch wachsenden, sexuellen Befreiung, das meines Erachtens umgekehrt eine Hürde für umsichtigere Annäherungen an die queere Verfasstheit der Romane darstellt. Die diskursiv übermächtige, heteronormative Identi- tätsmatrix verstellt dabei den Blick auf die Performativität der eigenen Kategorien, die durch die Erzählungen ausgestellt wird. Die essenzialisierte, symbolische Ordnung schürt ein Misstrauen gegenüber allen Subversionsbestrebungen, die sich nicht in ihre binären Strukturen einfassen lassen und einen größeren, uneindeutigeren Raum für Seinsmög- lichkeiten behaupten und bereitstellen. Die diskursiven Begradigungen queerer Texte leugnen deshalb die Signifikanz, die nicht nur ästhetische, sondern ethische Motivation des permanenten Spiels, des semiologischen Infragestellens, der notwendigen Verunsi- cherung etablierter Bedeutungsmuster von Text und Sex. Schließlich ist Sprache nicht Ausdruck, sondern Bestimmung unseres Seins und das Bemühen um die Öffnung und Umordnung von Bedeutungsmustern öffnet und rekonfiguriert mögliche Lebensformen und -bedingungen.

Das Zusammenwirken von Sprache und Wirklichkeitserfahrung wird in der gängi- gen Vorstellung biographisch repräsentativ und nicht als über sich selbst hinausweisend verstanden. Dies hat auch zum mittlerweile fragwürdigen Status der queeren Theorien geführt, die sich im Zuge poststrukturalistischer Überlegungen ja gerade durch eine anti -identitäre Ausrichtung auszeichneten, einem Verständnis von Identität als nicht natur- gegeben, sondern performativ erzeugt. Die textliche Devianz von The Picture of Dorian Gray und Mrs. Dalloway wird jedoch als in der sexuellen Abweichung der Autor_innen begründet verstanden. Ein Zirkelschluss, der das Wirkungspotenzial der Erzählungen deutlich mindert. Die Kritik an naturalisierten Kategorien wird so zu einer literarischen Verschleierungstaktik umgedeutet, begründet in der Angst ihrer Enttarnung als Ho- mosexuelle. Bereits 1895 wurde The Picture of Dorian Gray bei Oscar Wildes Gerichts- verhandlung wegen Unzucht herangezogen, um die sexuelle Perversion des Autors zu

12 | Butler: Undoing Gender (Anm. 1), S. 43.

13 | Michael Patrick Gillespie: Oscar Wilde and the Poetics of Ambiguity. Gainesville 1996, S. 11.

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beweisen. Und auch wenn wir in unseren ›aufgeklärten‹ Zeiten Oscar Wilde nicht mehr für seine ›Homosexualität‹ inhaftieren würden, so ist zumindest dieser Roman in den Fesseln essenzieller Lesarten in Identitäts-Haft genommen worden.

Vor allem das Überlesen einer Romanfigur, die man durchaus als eloquenten Vor- fahren queerer Überlegungen verstehen kann, scheint mir eine fatale Verkennung der Subversionsbestrebungen von The Picture of Dorian Gray zu sein. Lord Henry Wotton, der »man of words« oder »Prince Paradox« wie er von den Anderen genannt wird, ist der unbestreitbare Wortführer, wenn es um das semiologische Spiel mit essenzialisierten Identitäten geht. Doch wird gerade er vor allem als dekadenter Dandy gelesen, dessen Wortgewandtheit zumindest teilweise für den moralischen Verfall und frühzeitigen Tod Dorian Grays verantwortlich ist. Zumeist werden seine Epigramme und Paradoxien als Slogans für eine hedonistische, moral- und konventionsbefreite Lebensgestaltung gele- sen oder sie figurieren als comic relief in einer ansonsten düsteren Geschichte. Aber wenn wir seine Anzweiflung aller essenzialisierten Wahrheiten und naturalisierten Konventio- nen als durchaus ethische Haltung und Henry Wotton somit als Vorfahren einer queeren Politik lesen, ändert sich nicht nur der Blick auf seinen Charakter, sondern auch die Re- zeption des Romans als Ganzem.

Was passiert also wenn wir seinen Humor als eine seriöse Strategie verstehen, hete- ronormativen und essenziellen Denkweisen entgegenzutreten? Könnte sein permanentes Umkehren und Verhöhnen von etablierten Vorstellungen dann nicht als ein wirkmäch- tiger und ethisch motivierter Versuch verstanden werden, den – so Roland Barthes –

»größten Feind, die bourgeoise Norm«14 und ihre mythologisierten Grundsätze zu de- stabilisieren? Wottons rhetorische Umkehr von naturalisierten Ideen lässt sich als eine mögliche, queere Interventionsstrategie in Judith Butlers Überlegungen wiederfinden, wenn sie beispielsweise ausführt, dass »to contest symbolic authority is […] to insist that the norm in its necessary temporality is opened to a displacement and subversion from within.«15 In diesem Licht betrachtet figuriert Wottons Humor nämlich genau als eine Instanz queerer Subversion, eine Subversion, die ihm in der Logik des Romans auch das Überleben sichert. Die Berücksichtigung des »Mannes der Worte« führt mindestens zu einer Erweiterung der gängigen Annahme, dass das Romanende als poetische Gerech- tigkeit für Dorian Grays Verfehlungen anzusehen ist. Das Überleben des Essenz- und Identitätsverweigerers Wottons und der Tod Dorian Grays durch den eigenen Versuch, seinen ›Teufelspakt‹ durch die Vernichtung des Ab-Bildes zu annulieren, zeigen dann vielmehr, dass die ›Moral der Geschichte‹ eine weitreichendere ist. Sterben müssen dem- nach alle, die nach Essenzen und Wahrheiten in der Performativität unseres Seins suchen und sich selbst und andere damit festschreiben. Leben kann hingegen nur, wer sich natu- ralisierten Identitäten widersetzt.

Wottons Sprachwitz verweist gleichzeitig auf die ansonsten pausenlose Verdrängung einer zugrundeliegenden Ambiguität und Artifizialität unserer Identitätsverständnisse und die Möglichkeit, diese Uneindeutigkeit und Künstlichkeit zu genießen anstatt sie zu fürchten. Butler weist in ihrer Einleitung zu Undoing Gender ebenfalls auf eine grund- sätzliche, (über)lebensnotwendige Unbestimmbarkeit unseres Seins hin: »There is always a dimension of ourselves and our relation to others that we cannot know, and this not- knowing persists with us as a condition of existence and, indeed, of survivability.«16 In

14 | Roland Barthes: Mythologies. New York 1972, S. 9.

15 | Butler: Undoing Gender (Anm. 1), S. 47.

16 | Ebd., S. 15.

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literarischer Übereinstimmung mit solch aktuellen, queeren Theorien präsentiert The Picture of Dorian Gray alle Versuche, grundlegende Wahrheiten zu (er)kennen, zu bean- spruchen oder zu repräsentieren als todbringend. Der Roman kontrastiert Wottons spie- lerischen Wortwitz, der sich Stillstellungen und Definitionen widersetzt, mit den Bemü- hungen der anderen Charaktere, die »eine, wahre Bedeutung« hinter einer imaginierten Zeichenoberfläche zu finden. Diese Versuche entpuppen sich nicht nur als ständige Miss- versändnisse, sondern bringen Gewalt und Tod mit sich. Im Gegensatz zu der ›Ernsthaf- tigkeit‹, mit der die anderen Protagonist_innen des Romans auf eine allgemeingültige Realität und Wahrheit beharren, berücksichtigt Wottons queere Perspektive, um es mit Butler zu sagen, »a certain openness and unknowingness. It also implies that a certain agonism and contestation will and must be in play. They must be in play for politics to become democratic.«17 Wottons Humor ist in diesem Zusammenhang sicher ein zwei- schneidiges Schwert. Auf der einen Seite bringen seine Bemerkungen einen Unterhal- tungsmehrwert mit sich und sind erheiternde Momente in einer ansonsten eher tristen Umgebung. Andererseits birgt genau dieser Wortwitz das Risiko, nicht ernst genommen zu werden, wie es ja auch in den meisten Lesarten deutlich wird, die ihn ihm lediglich einen ziellos-dekadenten Poseur sehen.

The Picture of Dorian Gray insinuiert allerdings mehrfach, dass derartige Lesarten auf falschen Oppositionen basieren, in denen beispielweise Aspekte von Spiel und Ge- nuss traditionell aus »ernsten Angelegenheiten« fern gehalten werden. Henry Wotton bemerkt hierzu: »Humanity takes itself too seriously. It is the world’s original sin. If the cavemen had known how to laugh, History would have been different.« (56) Die Fähig- keit des Lachens und Sich-lustig-machens über naturalisierte Mythen anstatt diese als verbindlich anzuerkennen, weist auf die Möglichkeit eines Widerstandes hin und zu- dem auf die Möglichkeit, diese Form des Widerstandes gegen eine eingrenzende Sprache zu genießen. Die dramatische Entfaltung der Geschichte macht deutlich, dass Wottons rhetorische Zurückweisungen von Allgemeinplätzen und sogenanntem Allgemeinwissen momentane Schlupflöcher innerhalb einer heteronormativen, symbolischen Ordnung bereitstellen. Die etablierte Interpretation von Wottons Wortwitz als dekadente Propa- ganda gründet also ausschließlich auf der Annahme von Ethik als eine dezidierte Posi- tion, eine Orientierungsmöglichkeit, die notwendiger- und richtigerweise normativ fi- guriert. Diese scheinbar selbstverständliche Verknüpfung von Normativität und Ethik verfährt allerdings nach einem Ausschließungsprinzip, das gerade durch den Humor des Dandys kritisch hinterfragt wird. Butler reflektiert ebenso kritisch diese Doppeldeutig- keit von Normativität:

But consider that normativity has this double meaning. On the one hand, it refers to the aims and aspirations that guide us, the precepts by which we are compelled to act or speak to one another, the commonly held presuppositions by which we are oriented, and which give direc- tion to our actions. On the other hand, normativity refers to the process of normalization, the way that certain norms, ideas and ideals hold sway over embodied life, provide coercive cri- teria for normal »men« and »women.« And in this second sense, we see that norms are what govern »intelligible« life, »real« men and »real« women. And that when we defy these norms, it is unclear whether we are still living, or ought to be, whether our lives are valuable.18 Wotton spricht niemals »im Namen« einer Norm, sondern gegen die Naturalisierung und Festschreibung dieser Namen, aus denen eingrenzende und zwingende Zuweisungen

17 | Ebd., S. 226.

18 | Ebd., S. 206.

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geworden sind. Sein Sprachvermögen, das sich durch Wortwitz, Sarkasmus und Parado- xien auszeichnet, betont den performativen Aspekt von Signifikanzen und ermöglicht in der rhetorischen Destabilisierung neue Bedeutungs- und Handlungsspielräume. Wie Wotton selbst anmerkt: »Well, the way of paradoxes is the way of truth. To test reality we must see it on the tight rope. When the verities become acrobats, we can judge them.«

(55) Das größte Anliegen des Dandys, das sich in seinen Äußerungen manifestiert, ist die Aufweichung verfestigter Vorstellungen, die er als nicht natürlich, sondern naturalisiert ausstellt. Sein Witz ist eine rhetorische Maßnahme, die darauf verweist, dass keine Aussa- ge jemals etwas Wahres über uns oder Andere ›ausdrückt‹, sondern wir in dem Wunsch nach Verständigung und Anerkennung mit einem artifiziellen Medium – der Sprache – gezwungen werden, durch Wiederholung gemeinhin soziale Konventionen zu para- phrasieren und sedimentieren. Für Henry Wotton ist dieser wiederholende Gebrauch der Sprache eine Verhinderung von Potenzialen und verantwortlich für vorgeschriebe- ne Standards und konsolidierte Mythen, die zum Ausschluss und der Oppositionierung nicht-konformer Performanzen führen. Sein Wortspiel bemüht sich folglich, diskursiv naturalisierte Bedeutungszusammenhänge zu dekonstruieren. In einer Konversation mit seiner Kusine bemerkt er dazu Folgendes:

I hope Dorian has told you about my plan for rechristening everything, Gladys. It is a de- lightful idea. It is a sad truth, but we have lost the faculty of giving lovely names to things.

Names are everything. I never quarrel with actions. My one quarrel is with words. That is the reason I hate vulgar realism in literature. The man who could call a spade a spade should be compelled to use one. (206)

Wottons Verweis auf und Rekonfigurierung der geläufigen Redewendung »to call a spade a spade« figuriert hier als sarkastischer Verweis auf all jene, die etablierte Konzepte als Wahrheiten ansehen, diese weiter tradieren und damit zu Totengräbern der Sprachmög- lichkeiten werden. Anstatt den Exzess von Bedeutungsmöglichkeiten wertzuschätzen, durchtrennen und limitieren sie den Fluss, oder – wie Roland Barthes es formuliert – die »Galaxie von Signifikanten«. Wotton widmet sich dem performativen Charakter der symbolischen Ordnung von Identitäten spielerisch und nicht essenziell. In der Logik und Dramatik des Romans wird deutlich, dass seine Akzeptanz von genereller Unsicherheit und Uneindeutigkeit im Gegensatz zu den anderen Romanfiguren eine bewusste ist und damit nicht fatal wird. In seiner Undefinierbarkeit ist er ungebunden und bleibt leben- dig, während die anderen Charaktere festgelegt und stillgestellt werden und schließlich einen frühzeitigen, gewaltsamen Tod finden.

Vielleicht sind es The Picture of Dorian Grays deutliche Verweise auf klassische My- then und die scheinbar offensichtliche Einschreibung in das Genre des Schauerromans mit seiner charakteristischen Fokussierung auf Moralfragen und Momente der Trans- gression von Konventionen, die eben auch zu schwerwiegenderen Festschreibungen – von Text, Figuren und Autor – in der Rezeption und Adaption geführt haben. So ist die Moral oder auch Amoral der Geschichte eine der meistdiskutierten Fragen und wird zum zentralen Ausgangspunkt von Will Selfs Dorian. An Imitation als auch Jeremy Reeds Dorian. A Sequel. In den beiden Adaptionen von The Picture of Dorian Gray wird die scheinbare Frage von Moral und Verfehlung, von rücksichtslosem Hedonismus und dem wahren Schönen, von Oberfläche und Tiefe in dezidierter Weise geschildert. Jede Ambivalenz und Mehrdeutigkeit geht in der Entschiedenheit der moralischen Positio- nierung dabei verloren. Hier wird der gesellschaftlichen Korruption, der Dekadenz der Figuren eine grundsätzliche Wesensart und nicht Lesart unterstellt. Alle sexuellen und

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drogenbegleiteten Exzesse werden hier ausbuchstabiert, werden zur Triebfeder der neu- en Geschichten und lassen keinen Raum mehr für Spekulationen.

Doch die Frage von Moral ist in Wildes Roman eben keine handlungsorientierte, keine sexuell orientierbare und auch keine von sexuellen Handlungen motivierte Fra- ge. In der Logik von The Picture of Dorian Gray ist die Inanspruchnahme einer ›richti- gen‹ und ›wahren‹ Position, die ›Wahr‹-nehmung und Behauptung einer natürlichen und nicht symbolischen Ordnung unmoralisch. Wenn Wotton also behauptet, dass »Names are everything. I never quarrel with actions. My one quarrel is with words«, ist dies keine Verantwortungsflucht oder dekadente Pose. Im Gegenteil figuriert sie in Wildes Roman als ein Leitspruch einer ernstzunehmenden Haltung, die sich ebenfalls in Roland Barthes Überlegungen zum Mythos wieder findet:

For if there is a »health« of language, it is the arbitrariness of the sign which is its ground- ing. What is sickening in myth is its resort to a false nature, its superabundance of significant forms, as in these objects which decorate their usefulness with a natural appearance. The will to weigh the signification with the full guarantee of nature causes a kind of nausea: myth is too rich, and what is in excess is precisely its motivation.19

Die neusten Rezeptionen und Adaptionen von The Picture of Dorian Gray und Mrs.

Dalloway mythologisieren die queeren Anti-Mythen von Wilde und Woolf, indem sie das scheinbar Ausweichende und Künstliche für die Schwachstellen der Erzählungen halten. Dabei geht es in beiden Romanen genau um die Gesundheit einer ent-naturali- sierten Sprache, die Gesundung durch das subversive Spiel mit Identität, um den Genuss und die Lebendigkeit, die durch die Erneuerung, Rekonfiguration und alternative Kon- textuierungen von Bedeutungen möglich werden. Damit soll nicht abgestritten werden, dass sexuelle Abweichungen, unkonventionelle Beziehungskonstellationen und gleich- geschlechtliche Begehrensstrukturen die Texte durchkreuzen. Aber die sprachlichen Re- konfigurierungen und Aussparungen führen gerade nicht in die Irre, ins Leere oder sind Ablenkungen vom eigentlichen, wesentlichen Erzählgegenstand aus Angst vor Enttar- nung. Es geht nicht um internalisierte Homophobie. Im Gegenteil, sie deuten den einzi- gen, lebenswerten Ausweg aus kategorischen Gefängnissen, zeigen die Möglichkeit, sich von der Last ihrer Festschreibung zu trennen und so einem eigentlicheren, komplexeren Selbstgefühl näher zu kommen. Die einzige alternative Fluchtmöglichkeit aus dem sym- bolischen Gefängnis ist der Tod. Diese – endgültige – Möglichkeit, der heteronormativen Ordnungspolizei zu entkommen, dramatisieren beide Romane ebenfalls mit dem Tod ei- ner jeweiligen Hauptfigur. In der selbstreflexiven Konzipierung der Romane könnten sie auch als literarische Umsetzung des von Roland Barthes geforderten »Tod des Autors«

zugunsten eines pluralen, bedeutungs-multiplizierenden Textes figurieren:

With regard to the plural text, forgetting a meaning cannot therefore be seen as a fault. […]

[R]eading does not consist in stopping the chain of systems, in establishing a truth, a legality of the text […], it consists in coupling these systems, not according to their finite quantity, but according to their plurality. […] Forgetting meaning is not a matter for excuses, an un- fortunate defect in performance, it is an affirmative value, a way of asserting the irresponsi- bility of the text, the pluralism of systems.20

Das genuine Vergessen von Bedeutung und die verantwortungsbewusste Unverantwort- lichkeit der Texte werden in den anti-queerenden Lesarten und Neuschreibungen sowohl von The Picture of Dorian Gray als auch Mrs. Dalloway weitestgehend missachtet, ja sogar

19 | Barthes: Mythologies (Anm. 14), S. 128.

20 | Roland Barthes: S / Z. An Essay. New York 1974, S. 11.

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als beklagenswerte Verfehlungen der Romane und ihrer Autor_innen aufgegriffen. Diese Herangehensweise ist nicht nur anti-queerend, sondern markiert auch einen diskursiven Backlash, die Rückwendung hin zu einer fragwürdigen Vorstellung von ›guter Literatur‹

als realistisch und repräsentativ, die Foucault in seinen Überlegungen zur Autor-Funkti- on bereits als überwunden erachtet hatte:

the writing of our day has freed itself from the necessity of »expression«; it refers only to it- self, yet is not restricted to the confines of interiority [but] transforms writing into an inter- play of signs, regulated less by the content it signifies than by the very nature of the signifier […] an action that is always testing its limits of its regularity, transgressing and reversing an order it accepts and manipulates.21 [meine Ergänzung; D.S.]

Foucaults Ausführungen könnten nicht angemessener beschreiben, was das Anliegen und die Konzipierung der beiden hier diskutierten Romane angeht. Beide bemühen sich um die Bloßstellung und die spielerische Hinterfragung von Konventionen und essen- zialisierten Identitäten. Das Überschreiten und Durchkreuzen von naturalisierten My- then, das Spiel mit etablierten Erzählmustern ist aber nicht nur eine literarische Pose und schon gar keine Selbstverleugnung der Autor_innen. Die Erzählungen offerieren die Möglichkeit und postulieren die Notwendigkeit, sich von diskursiven Zwangsjacken zu befreien, um überleben zu können. Dies wird durch die Romane nicht nur als schriftstel- lerisch-ästhetische, sondern als eine menschlich-ethische Herausforderung vermittelt.

Während sich das augenfällige, anti-mythische und anti-essenzialistische Design des Romans The Picture of Dorian Gray durch seine markanten Rückbezüge zum Faust- und Narziss-Mythos auszeichnet und mit Lord Henry Wotton zudem einen extrovertiert elo- quenten Queerulanten präsentiert, ist Virginia Woolfs Erzählung deutlich introvertier- ter. Aber nicht weniger konsequent. Mrs. Dalloway ist gleichfalls anti-mythisch und anti- identitär konzipiert und zwar durch seine – trotz aller intertextuellen Referenzen – vor allem sich selbst konstruierenden und gleichzeitig dekonstruierten Momente. Die Erzäh- lung bricht deutlich mit den Konventionen und traditionellen Erwartungen an eine Nar- ration. Wie Elizabeth Abel beispielsweise beobachtet, präsentiert Mrs. Dalloway »a clan- destine story that remains almost untold, that resists direct narrative and coherent nar- rative shape. Both intrinsically disjointed and textually dispersed«22 erzählt der Roman die physischen, aber vor allem gedanklichen Reisen mehrerer Charaktere innerhalb eines Tages. Die vorgestellten figuralen und konfiguralen Bewegungen unterminieren aller- dings die mit dem Reisen gängigerweise assoziierten linearen Konzepte von Beginn und Ende, Aufbruch und Ankunft, einem Ziel vorwärts gerichtet entgegensteuernd. Damit nimmt Mrs. Dalloway bereits die Antwort auf Barthes fünf Jahrzehnte später formulierte Frage vorweg, nämlich: »What would be the narrative of a journey in which it was said that one stays somewhere without having arrived, that one travels without having depar- ted – in which it was never said that, having departed, one arrives or fails to arrive?«23

Die semiologische ›Sperrigkeit‹ des Romans von Virginia Woolf ist augenscheinlich größer als die von The Picture of Dorian Gray. Wildes Roman kann als invertierter Bil- dungsroman mit einem klassischen Spannungsverlauf verstanden und linear nachvollzo- gen werden. Der Zugang zu den Hauptfiguren erschöpft sich dort mehrheitlich in ihrer

21 | Michel Foucault: »What is an Author?« In: Donald F. Bouchard (Hg.): Language, Counter-Mem- ory, Practice. New York 1977 [1970], S. 113–138, hier S. 116.

22 | Elizabeth Abel: »Narrative Structure(s) and Female Development: The Case of Mrs. Dalloway«.

In: Harold Bloom (Hg.): Virginia Woolf’s Mrs. Dalloway: Modern Critical Interpretations. New York 1988, S. 104.

23 | Barthes: S / Z. An Essay (Anm. 20), S. 105.

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Funktion – Basil Hallward, der Künstler, Sybil Vane, die Schauspielerin, Dorian Gray, das Schönheitsideal und Henry Wotton, der Mann des Wortes. Die Artifizialität des Erzäh- lens begründet sich in The Picture of Dorian Gray also vor allem darin, dass die Charak- tere selbst als Artefakte konzipiert sind und zunächst eher eindimensional und definiert erscheinen. In Mrs. Dalloway hingegen ist die Orientierung augenfällig erschwert durch eine Vielzahl von Figuren, deren parallelisierte Bewusstseinsströme ebenbürtig mit ih- ren entäußerten Gedanken vermittelt werden. Dadurch wird von Beginn an eine größere psychologische Tiefe suggeriert und die figurale Orientierung deutlich kompliziert. Die

›Handlung‹ beschränkt sich auf einige wenige ›Ereignisse‹ an einem einzigen Tag und der erwartete Höhepunkt, die große Party, die Mrs. Dalloway am Abend gibt, ist ein sich selbst entkommendes und auch nicht abschließendes Ereignis innerhalb der Erzählung.

Doch der Zugang zu den Gedanken der Protagonist_innen lässt auch in Woolfs Ro- man keine Rückschlüsse auf eine stabile und essenzielle Identitätsfindung beziehungs- weise -zuschreibung zu. Es wird damit auch kein tieferes, authentisches Ich-Empfinden vermittelt, welches einer sozialen, oberflächlicheren Identität zugrundeliegen würde. Das Gefühl von Entfremdung, Instabilität und Uneindeutigkeit ist allgegenwärtig und dieser sine qua non ist nicht anders beizukommen, als die Performativität, Ambivalenz und Un- bestimmbarkeit des Seins zu akzeptieren:

She would not say of anyone in the world now that they were this or that. She felt very young;

at the same time unspeakably aged. She sliced like a knife through everything; at the same time was outside, looking on […] and she would not say of Peter, she would not say of her- self, I am this, I am that. (9)

Wenngleich Clarissa Dalloway die meisten ihrer Gedanken ihrer Umwelt nicht mitteilt, wird ihre Akzeptanz der ultimativen Unbestimmbarkeit von Sein und Schein deutlich und auch die Einsicht in die Notwendigkeit, der performativen und symbolischen Ord- nung von Identität durch Rekonfigurationen zu begegnen. Und durch Behutsamkeit. In ihrem Fall ist die Party eine Möglichkeit, Menschen miteinander ins Gespräch zu brin- gen und dabei ist die Oberflächlichkeit und Unzuverlässigkeit, die sich aus der Größe und Mischung der versammelten Gesellschaft ergibt, durchaus willkommen, weil sich Essenzen und Wahrheiten notwendiger Weise der Kommunikation mit Anderen, ›Frem- den‹ widersetzen. In Clarissas Vorstellung sind die jeweils bedeutungsstiftenden Leben- sinhalte sowieso gar nicht vermittelbar, sondern müssen unausgesprochen bewahrt wer- den, um ihre Größe und Kraft nicht zu verlieren und durch konventionalisierte Bedeu- tungsmuster banalisiert zu werden:

A thing there was that mattered; a thing, wreathed about with chatter, defaced, obscured in her own life, let drop every day in corruption, lies, chatter. This he had preserved. Death was defiance. Death was an attempt to communicate, people feeling the impossibility of reach- ing the centre which, mystically, evaded them; closeness drew apart; rapture faded; one was alone. There was an embrace in death. But this young man had killed himself – had he plunged holding his treasure? »If it were now to die, ‘twere now to be most happy,« she had said herself once, coming down, in white. (202)

Auch wenn in Clarissa Dalloways Reflexionen über den Selbstmord von Septimus War- ren Smith eine Sehnsucht der Protagonistin deutlich wird, eine Essenz in der Galaxie der Signifikanten zu finden und zu bewahren, sich verständlich oder begreiflich machen zu können, sind doch die letzten Gedanken nicht frei von Ironie, denn sie sind ein Zitat. Sie sind also alles andere als eine originäre, authentische Gefühlsäußerung. Sie sind Worte eines mythologisierten Dichters, gesprochen von Othello, einem ›Mohr‹, einem Mann, millionenfach zitiert. Die Suche nach Authentizität und Essenz führt also auch Clarissa

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geradewegs zur Imitation, in diesem Fall auch bemerkenswerterweise zu einer, die sich cross-gendered und cross-raced gestaltet. Die Szene zeigt exemplarisch, wie Mrs. Dalloway die Leseerwartungen immer wieder ins Leere laufen lässt, wenn man nach einer ›wah- ren‹ Identität, essenzieller Bedeutung sucht. Auch nach einer sexuellen. Das Spiel mit Erwartungen, die permanente Um- oder Abkehr von essenziellen und realistischen An- sprüchen eint The Picture of Dorian Gray und Mrs. Dalloway. Repräsentiert werden hier keine homo- oder heterosexuelle Identitäten, sondern die nicht zu lösende Verbindung von Schreib- und Seinsweisen.

Die queere Errungenschaft der Texte liegt also genau in der Ausstellung der Künst- lichkeit von Identitäten, die nur mit Hilfe ihrer Wiederholungen natürlich werden und gültig bleiben. Queeres Schreiben bedeutet anti-identitäres Schreiben, nicht aus Furcht vor individueller Entdeckung, sondern vor seiner allgemeinen Verkennung:

For to escape both the constrictions of a sexuality that is silenced and the dangers of a sexual- ity inscribed as essential, we must construct […] a difference from the heterosexual logic of identity – propped up as it is by the notion of a disavowed and projected sexual difference – in order to deconstruct the repressive ideology of similitude or identity itself.24

Das Fazit der hier vorgestellten Überlegungen ist also, dass anstelle von Konklusionen und Essenzen Konfusionen und Dissenzen als wichtige und auch ethische Strategien queerer Texte anerkannt werden sollten. Trotz unbestreitbarer Differenzen haben The Picture of Dorian Gray und Mrs. Dalloway diesbezüglich einen wichtigen und gemeinsamen quee- ren, nicht homosexuellen Erzählgegenstand. In beiden Romanen wird eine symbolische, naturalisierte Ordnung von Identität als Gefahr und Beschränkung für individuelle und potenzielle (Selbst-)Verständnisse verstanden. Die Erzählungen verdeutlichen, wie (Zei- chen-)Sprache unsere Wirklichkeitserfahrung nicht vermittelt, sondern bestimmt und zur Sinnhaft wird. Es gibt keine natürliche oder authentische Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit, sondern lediglich eine konventionelle. Dennoch werden Bedeutungen durch ihre fortwährende Wiederholung naturalisiert und damit zu einer einengenden Identitätsbestimmung, welche die Komplexität des individuellen Empfindens aberkennt.

Solche Zu- und Fest- und Überschreibungen werden in beiden Romanen sogar als per- sönliche, existentielle Bedrohungen thematisiert, der nur durch Unvoreingenommenheit und einen spielerischen Umgang mit Bedeutungen zu entkommen ist.

Wildes Roman zeigt, welche fatale Auswirkungen Dorians Tauschpakt mit seiner Ab- bildung hat, da er von diesem Moment an fest an diese gebunden bleibt. Er ist augenblick- lich als Schönheitsideal und begehrtes Objekt definiert und muss feststellen, dass sein Wahrnehmungs- und Handlungsspielraum dadurch erheblich eingeschränkt ist, weil er eindeutig und damit ›falsch‹ gesehen wird. Durch seine eigene, kontinuierlich steigende Ablehnung seiner bildlich festgehaltenen ›Repräsentation‹, welche eben nur ein Bild ist und seine Komplexität nicht dar- sondern verstellt, werden seine ›Fluchtversuche‹ immer dramatischer, bis er am Ende Selbstmord begeht. Dorians Schicksal ist daher weniger eine Frage der Moral (ein wiederkehrender Gesichtspunkt innerhalb der Rezeptionsge- schichte des Romans) als das Resultat einer als unwahr empfundenen, weil festschrei- benden Repräsentanz seines Ichs. Es ist die Figur des Lord Henry, ein Charakter welcher bislang vorwiegend vor dem Hintergrund seiner angeblich ›unmoralischen‹ Wertvorstel- lungen und seines verheerenden Einflusses auf Dorian negativ in Betracht gezogen wird, der als ein queerer Wortführer für einen offeneren und befreienden Umgang mit Bedeu- tungen verstanden werden kann. Ihm gelingt es – als einzige Hauptfigur des Romans – zu

24 | Lee Edelmann: Homographesis: Essays in Gay Literature and Cultural Theory. New York 1994, S. 23.

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überleben, eine Tatsache, die in der Logik des Romans sowohl das sprichwörtliche Leben als auch seine undefinierbare Existenz bedeutet. Seine Paradoxien sind demnach mehr als nur witzige Posen eines Dandys. Sie sind Verweise auf die mögliche Verdrehung und Umkehrung von Bedeutungen und damit auch subversive Strategien, um die Absurdität und Künstlichkeit von essenziellen Vorstellungen von Identität herauszustellen.

Hier weist Virginia Woolfs Mrs. Dalloway deutliche Parallelen auf. So schildert der Roman immer wieder Momente, in denen der Wunsch nach einer wahren und anhalten- den Bedeutungsfindung durch momentane Irritationen und verschiedenen Sichtweisen unmöglich gemacht wird. Wie The Picture of Dorian Gray stellt Mrs. Dalloway einen An- spruch auf Allgemeingültigkeit und authentische Repräsentation immer wieder der indi- viduellen Empfindung einer damit nicht zu vereinbarenden Komplexität entgegen. Wie in Wildes Roman stirbt ein Charakter sinnbildlich und sprichwörtlich an den Folgen von symbolischen Festschreibungsversuchen, während eine andere Figur in ihrer Akzeptanz und einem spielerischen Umgang mit der Unnatürlichkeit von performativer Kongruenz überlebt. So wird dem von Septimus Warren Smith artikulierten, ›besonderen‹ Wirklich- keitsempfinden der Sinn einfach abgesprochen. Seine Äußerungen und damit er selbst werden als wahn-sinnig und damit als bedeutungslos gewertet und durch diese Zuschrei- bung aus der heteronormativen Ordnung von Identität ausgrenzbar. Dieser Ausschluss aus einer symbolischen Gemeinschaft vollzieht sich in einer so gnadenlosen und abso- luten Form, dass sein tödlicher Sprung aus dem Fenster eine logische Konsequenz für eine ansonsten unmögliche, weil allgemein nicht verständliche Existenz scheint. Clarissa Dalloway hingegen überlebt, denn sie ist durch ihre Abwendung von kategorialen und essenziellen Lesarten in der Lage, auch ihre eigene empfundene Uneindeutigkeit zu be- wahren.

Die destabilisierenden und anti-essenziellen Entwürfe der Romane antizipieren be- reits deutlich sowohl Roland Barthes’ Überlegungen zum naturalisierten Mythos als auch Judith Butlers Kritik an der heteronormativen Ordnung von Geschlecht und Sexualität.

Die bewusst ambivalenten Gestaltungen von The Picture of Dorian Gray und Mrs. Dallo- way werden gerade in einer parallelen Lektüre als genuin queere, anti-mythische Subver- sionsversuche und keinesfalls als Verschleierungsversuche verstehbar. Im Gegenteil zei- gen die Romane, mit welch fatalen Konsequenzen Zu- und Fest-schreibungen individuelle Lebensmöglichkeiten in Haft nehmen können oder sogar eliminieren. Die queere Gestal- tung der Erzählungen problematisiert den untrennbaren Zusammenhang von textueller und sexueller Identität und zeigt Möglichkeiten, sich gegen festschreibende Definitio- nen und Kategorien aufzulehnen, die unser Leben nicht so sehr als Orientierungshilfen vereinfachen als vielmehr unsere Zugangs- und Entfaltungsmöglichkeiten beschneiden.

Das heutige Verständnis von queer ist allerdings scheinbar weitestgehend ein kategori- sches und identitätspolitisches. Als homosexueller Diskurs wird queer dem heterosexuel- len Diskurs gegenübergestellt. Darum überlesen und überschreiben die Neuschreibungen von und die literaturkritischen Annäherungen an die Erzählungen von Wilde und Woolf die uneindeutigen, anti-repräsentativen Momente. Schließlich lässt sich die Homosexua- lität der Autor_innen kaum leugnen und die Heteronormativität von Identität darf nicht angezweifelt werden und muss diskursiv gesichert bleiben. Daher müssen queere Inter- ventionen entweder als nicht-heterosexuelle ausgrenzbar sein, oder als un-natürliche, künstliche Posen, die eine wahre, grundlegende Identität verschleiern sollen, interpre- tiert und überschrieben werden. Aber, wie schon Henry Wotton in The Picture of Dorian Gray sagt: »Being natural is simply a pose. And the most irritating pose I know.« (22)

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Abel, Elizabeth: »Narrative Structure(s) and Fe- male Development: The Case of Mrs. Dallo- way«. In: Harold Bloom (Hg.): Virginia Woolf’s Mrs. Dalloway: Modern Critical Interpreta- tions. New York 1988, S. 103–127.

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Literaturverzeichnis

URN: urn:nbn:de:hbz:6-88399579961

Referenzen

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