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ine optimale Patientenversor- gung sollte im idealen Falle evidenzbasiert erfolgen (1). Als bestverfügbare Evidenz und höchs- ter Qualitätsstandard gelten hierbei die Erkenntnisse aus randomisierten klinischen Studien oder Meta - analysen. Im Fachgebiet Chirurgie wird zum Beispiel die Prüfung zwei- er konkurrierender chirurgischer Techniken in einer prospektiv kon- trollierten randomisierten Studie (RCT) als die beste Methode ange- sehen, das geeignetste Verfahren fürden Patienten zu ermitteln (2–4).
Tatsächlich liegen solche Ergebnisse jedoch nur für wenige Prozeduren vor, die in der täglichen Patienten- versorgung angewandt werden. Die bislang überwiegend durchgeführten chirurgischen RCTs sind meist mo- nozentrisch, haben häufig eine zu kleine Fallzahl und basieren vielfach auf Surrogatendpunkten (5). Für den Großteil der chirurgisch relevanten Fragen gibt es immer noch nicht ge- nug klinische Studien, um ein hohes Evidenzlevel zu erreichen (6,7).
Chirurgische Studien im Ver- bund können hier Abhilfe schaffen.
Aus diesem Grund wurde das chir - urgische Studiennetzwerk (CHIR- Net) unter Einbindung des SDGC (Studienzentrum der Deutschen Ge- sellschaft für Chirurgie) mit Förde- rung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) aufgebaut. Für den ersten Förder- zeitraum von 2006 bis 2009 wurden nach internationaler wissenschaftli- cher Begutachtung die Regionalzen- tren Berlin, Lübeck/Kiel, Mainz, München und Witten/Herdecke- Köln für eine Förderung ausgewählt.
Das SDGC wird bereits seit 2003 vom BMBF gefördert. Teil des För- derkonzeptes war eine enge Koope- ration der chirurgischen Regional- zentren (CRZ) mit den ortsansässi- gen Koordinierungszentren für klini- sche Studien (KKS). Das CHIR-Net hatte bereits zu Beginn der Förde- rung die Aufgabe, nicht nur die Durchführung klinischer chirurgi- scher Studien an den Zentren selbst zu koordinieren, sondern auch nicht- universitäre Kliniken in das Gesamt- konstrukt einzubeziehen. Es umfasst gegenwärtig acht chirurgische Re- gionalzentren mit 321 kooperieren- Zur Durchführung chirurgischer Studien im Ver-
bund bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen.
In erster Linie wird für Planung, Durchführung und Auswertung einer qualitativ hochwertigen prospek- tiv randomisierten Multizenterstudie ein professio- nelles Projektmanagement benötigt, da die Rekru- tierung mehrerer Hundert Patienten in einem kur- zen Zeitraum viele Studienzentren erfordert. Dabei ist allein die Koordination der Studienkliniken mit einem erheblichen Personal- und Zeitaufwand ver- bunden, so dass eine etablierte, effektive Struktur erforderlich ist, die diese Anforderungen erfüllen
kann. Nicht zuletzt sollten auch die Studienkliniken selbst über Ärzte verfügen, die in der Durchfüh- rung von Studien erfahren sind und über die Aus- bildung zum Prüfarzt verfügen. Darüber hinaus ist erfahrenes Assistenzpersonal (zum Beispiel Studi- enassistenten, -koordinatoren) unabdingbar. Durch den Aufbau von regionalen chirurgischen Studien- zentren werden sowohl universitäre Kliniken als auch Häuser der Grund- und Regelversorgung der- art miteinander vernetzt, dass multizentrische RCTs mit hoher Fallzahl in einem kurzen Zeitraum realistisch durchgeführt werden können.
GEEIGNETE RAHMENBEDINGUNGEN
FORSCHUNG IN DER CHIRURGIE
CHIR-Net : eine Leistungsbilanz
Mit dem Netzwerk chirurgischer Studienzentren wurde die Infrastruktur zur Förderung klinischer Studien in der Chirurgie geschaffen.
Foto: mauritius images
den Partnerkliniken an 143 Standor- ten in Deutschland und einigen euro- päischen Ländern (Grafik 1).
Der Erfolg des Studiennetzwerkes misst sich vor allem an drei Faktoren:
●
an der Zahl der im Netzwerk in Studien eingeschlossenen Patien- ten●
an der Zahl der Förderanträge, zum Beispiel in Form von Studien- skizzen in das laufende Förderpro- gramm „Klinische Studien“ des BMBF und der DFG●
und an der Zahl der im Studi- ennetzwerk eingebundenen und aus- gebildeten jungen Chirurgen als Ro- tationsärzte.Seit dem Start des CHIR-Net 2006 wurden 25 prospektiv randomisierte multizentrische Studien in operativen Fachgebieten durchgeführt und ins- gesamt mehr als 6 100 Patienten ran- domisiert (Grafik 2). Bislang haben zehn Studien ihre Rekrutierung been- det. Davon wurden bereits sechs Stu- dien analysiert und hochrangig publi- ziert (8–10). Gegenwärtig schließen 15 Multizenterstudien Patienten ein.
Das CHIR-Net sieht seinen Auf- trag auch in der Weiterbildung junger Chirurgen zu kompetenten Studien- ärzten in der operativen Medizin.
Hierzu wurde von den Regionalzen- tren ein Curriculum für Rotationsärz- te entwickelt, das seit Januar 2008 flächendeckend in den CRZ Anwen- dung findet (11). Chirurgen in der Weiterbildung können für einen be- stimmten Zeitraum, freigestellt von der täglichen Routine, im Regional- zentrum und dem angeschlossenen KKS als Rotationsärzte tätig sein.
Die Dauer variiert zwischen den ein- zelnen CRZ (drei Monate bis ein Jahr). Alle Rotationsärzte erhalten ei- ne Ausbildung zum Prüfarzt. Somit erwerben Rotationsärzte neben klini- schen Kenntnissen auch Wissen in der Planung und Durchführung klini- scher Studien. Ziele der Rotations- arzttätigkeit ist es, dass junge Chirur- gen ihre Erkenntnisse in der Planung und Durchführung klinischer Studien vertiefen, um künftig als Bindeglied zwischen den eher methodologisch ausgerichteten KKS und den chirur- gischen Regionalzentren zu fungie- ren. Seit Einführung des „Curricu- lum Rotationsarzt“ im CHIR-Net haben im Zeitraum 2008 bis 2012
insgesamt 73 junge Chirurg(inn)en eine Rotationsarztzeit in chirurgi- schen Regionalzentren absolviert.
Eine weitere Aufgabe des CHIR- Net besteht darin, eigene Studien- ideen zu entwickeln und diese dann eigenständig oder mit den assoziier- ten KKS in Form einer Studienskiz- ze auszuarbeiten. Diese Studien- skizzen wurden in das gemeinsame Förderprogramm „Klinische Studi- en“ des BMBF und der DFG einge- reicht. Bisher wurden durch das CHIR-Net insgesamt 131 Studien- skizzen in das Förderprogramm eingebracht. Davon erhielten 33 Studienskizzen eine Aufforderung zum Vollantrag, von denen zwölf Studien eine Förderung erhielten.
Aus Sicht der deutschen Chirur- gen, die im Rahmen der täglichen Pa- tientenversorgung einen hohen Anteil medizinischer Leistungen beitragen, kann die Förderung des Chir-Net als voller Erfolg gewertet werden. Es ist in sechs Jahren ein funktionierendes
Studiennetzwerk bestehend aus Ärz- ten, Studienassistenten, Projekt- und Datenmanagern, Monitoren sowie Biometrikern entstanden.
Das Förderprogramm „Klinische Studien“ wird aus förderpolitischen Gründen in nächster Zeit neu ausge- richtet. Inwiefern hier auch speziell chirurgische Fragestellungen weiter- hin eine Rolle spielen können, kann derzeit noch nicht abgesehen wer- den. Eines ist jedoch schon jetzt klar:
Eine unabhängige klinische For- schung durch sogenannte Investi - gator initiated trials wird es ohne Drittmittelförderung in der mittler- weile erreichten Qualität nicht geben.
Ohne eine Projektförderung wird bei gleichzeitigem Wegfall der Struktur- förderung die bisher aufgebaute In- frastruktur im CHIR-Net nicht auf- rechterhalten werden können.
Die patientenorientierte klinische Forschung erhielt ihren Namen zu Recht, da hierbei patientenrelevante Fragestellungen mit patientenrele- GRAFIK 1
Kooperationen zwischen einzelnen Kliniken und den acht chirurgischen Regionalzentren sind farblich gekenn- zeichnet (Stand: Fe - bruar 2013). Die Zah- len symbolisieren die einzelnen Kliniken am jeweiligen Standort.
Ansprechpartner an den einzelnen CHIR-Net-Standorten:
Dr. med. Jens Neudecker, CRZ Berlin Charité Mitte Johanna Kreutzer, CRZ Göttingen, Universitäts - medizin
Dr. med. Markus K. Diener, Studienzentrum der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (SDGC), Heidelberg Dr. med. Ralf Bouchard, CRZ Schleswig-Holstein, Campus Lübeck Dr. rer. nat. Kai Kronfeld, CRZ Mainz, Interdisziplinä- res Zentrum für Klinische Studien (IZKS) Mainz, Universitätsmedizin Dr. med. Katja Maschuw, CRZ Marburg, Universi- tätsklinikum Dr. med. Andre Mihaljevic, CRZ München, Technische Universität
Prof. Dr. Edmund A. M.
Neugebauer, CRZ Witten/
Herdecke-Köln Institut für Forschung in der Opera - tiven Medizin (IFOM), Universität Witten/
Herdecke-Köln Dr. rer. med. Solveig Tenckhoff, CHIR-Net- Koordinierungszentrale, SDGC Heidelberg
© S. Tenckhoff
CHIR-Net-Standorte und die kooperierenden Partnerkliniken
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15. März 2013 vanten Endpunkten (zum BeispielLebensqualität) im Vordergrund ste- hen. Diese Art der Forschung steht im klaren Gegensatz zu einer For- schung, welche zum Teil patienten- ferne Surrogatparameter erfasst (et- wa Leukozytenverlauf als Surrogat für das klinische Ansprechen eines Antibiotikums), wie es bei industrie- getriebener Forschung oft der Fall ist. Diese Forschung ist unverändert einer der wichtigsten Innovations- motoren im Fachgebiet Chirurgie.
Die minimal-invasiven Zugangs- möglichkeiten und deren Produktpa- lette sind hier ein oft genanntes, nicht immer nur positives Beispiel.
Unter Umständen wäre bei solcher- maßen rasanten Entwicklungen je- doch ein regulierendes Korrektiv wünschenswert. Nicht alles, was machbar ist, hat sich am Ende auch als sinnvoll herausgestellt. Für Chir - urgen steht die Patientensicherheit an oberster Stelle; diese zu gewähr- leisten ist auch eine Aufgabe der
klinischen Forschung. Somit ist eine freie Projektförderung unumgäng- lich, um die Wahrung der wissen- schaftlichen Integrität einer For- schung unabhängig von wirtschaftli- chen Interessen aller Beteiligten, auch denen der unkritischen Anwen- der, nachhaltig zu gewährleisten.
Der Wunsch nach einer fachspezi- fischen, unabhängigen staatlichen Forschungsförderung erscheint da- her aus Sicht einer wissenschaftli- chen Fachgesellschaft verständlich.
Gerade die Herausforderungen durch das neue Medizinproduktegesetz (MPG) und die damit verbundene notwendige Überprüfung von Medi- zinprodukten in Studien für die Risi- koklassen II b und III verlangen nach Studienstrukturen, wie sie durch die BMBF-Förderung am Beispiel des CHIR-Net entstanden sind.
Das Ziel des CHIR-Net ist es auch, künftig multizentrische klinische Studien mit chirurgischen Fragestel- lungen zu planen, durchzuführen,
auszuwerten und zu publizieren. Das CHIR-Net wird weiterhin über seine chirurgischen Regionalzentren zu- sammen mit den ortsansässigen KKS eigene Studienideen generieren und diese in laufende und neue För- derprogramme einbringen. Nach der MPG-Novellierung kann die Durch- führung klinischer Studien in Ko- operation mit pharmazeutischen und medizintechnischen Unternehmen durchaus einer der Schwerpunkte des CHIR-Net werden.
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Dr. med. Jens Neudecker Sprecher des CHIR-Net; Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Thoraxchirurgie
Charité−Universitätsmedizin Berlin Jens.Neudecker@charite.de Dr. med. Markus K. Diener Ärztlicher Leiter des Studienzentrums
der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (SDGC) Heidelberg
Prof. Dr. med. Christoph Schuhmacher Stellvertretender Sprecher des CHIR-Net
Diakonie-Klinikum Stuttgart
GRAFIK 2
Rekrutierung aller CHIR-Net-Studien von 2007 bis 2012
2007 2008 2009 2010 2011 2012
888 1 200 1 596 2 198 3 158 4 844 6 215
ABC (22/470)*
CLIVIT (496/500)*
DAMAGE-CONTROL (35/140)*
DISPACT (442/450)*
GAST-05 (385/360)*
HASTA (330/320)*
INSECT (625/600)*
ORCHID (183/560)*
Perfusionsstudie (150/150)*
TOPAR-PILOT (100/100)*
AWARE (31/630) BaFo (610/613)
Chro Pac (212/250) CONTINT (124/120) DiaFu (45/464) DOESAKpN1 (71/600) EPO in burns (110/150) ISAW (5/251)
PERCAT 01 (2/40) PRIMA (450/460) ProNaviC I (1/100) PROUD (1225/1200) RecoPanc (425/438) SAWHI-V.A.C. (75/600)
Synchronous (61/800)
* Studien haben ihre Rekrutierung beendet. Die Zahlen in den Klammern geben die tatsächliche Patientenzahl und das Studienziel an.
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Literatur im Internet:www.aerzteblatt.de/lit1113
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LITERATURVERZEICHNIS HEFT 11/2013, ZU:
FORSCHUNG IN DER CHIRURGIE
CHIR-Net : eine Leistungsbilanz
Mit dem Netzwerk chirurgischer Studienzentren wurde die
Infrastruktur zur Förderung klinischer Studien in der Chirurgie geschaffen.
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