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Entscheidungen - Verletzung von GG Art 19 Abs 4 durch überspannte Anforderungen an das Fortbestehen eines Sachbescheidungsinteresses,

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Aktie "Entscheidungen - Verletzung von GG Art 19 Abs 4 durch überspannte Anforderungen an das Fortbestehen eines Sachbescheidungsinteresses,"

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Bundesverfassungsgericht - 2 BVR 2662/95 -

Im Namen des Volkes In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde 1. der S...,

2. der S...,

vertreten durch ihren Vormund, Frau K...,

gegen a) den Beschluß des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. Oktober 1995

- 25 A 5452/95.A -,

b) das Urteil des Verwaltungsgerichts Münster vom 20. Juli 1995 - 3 K 3519/93.A -

hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Sommer,

Hassemer, Broß

gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93b, 93a Absatz 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 27. Okto- ber 1998 einstimmig beschlossen:

Das aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 20. Juli 1995 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Münster - 3 K 3519/93.A - verletzt die Beschwerdeführerinnen in ihrem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Es wird aufgeho- ben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Münster zurückverwiesen.

Der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. Oktober 1995 - 25 A 5452/95.A - ist gegenstandslos.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat den Beschwerdeführerinnen die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren zu erstatten.

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4 Gründe:

A.

Das Verfassungsbeschwerde-Verfahren betrifft die Frage, unter welchen Voraus- setzungen eine Klage auf Anerkennung als Asylberechtigter mangels Sachbeschei- dungsinteresses als unzulässig abgewiesen werden darf, wenn die genaue Anschrift eines minderjährigen, durch einen Vormund vertretenen Klägers während des an- hängigen Gerichtsverfahrens infolge eines Wechsels des Aufenthaltsortes vorüber- gehend nicht mehr bekannt ist.

I.

1. Die Beschwerdeführerinnen sind 1981 und 1985 geborene türkische Staatsange- hörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Sie reisten im März 1993 in die Bundesrepu- blik Deutschland ein und beantragten im Juli 1993 ihre Anerkennung als Asylbe- rechtigte. Dazu machten sie geltend: Ihre gesamte Familie, aus der einige Aktivisten der PKK stammten, stehe wegen Verdachts der Unterstützung dieser Organisation unter Druck. Ihr Vater sei deswegen gefoltert worden und Ende 1992 an den Folgen der erlittenen Mißhandlungen gestorben. Ihre Mutter habe daraufhin aus Furcht vor Verfolgung das Dorf verlassen und sie - die Beschwerdeführerinnen - und zwei wei- tere ihrer Schwestern bei einem Onkel zurückgelassen. Als dieser ebenfalls verhaf- tet worden sei, seien sie zu ihren älteren Schwestern nach Deutschland geschickt worden.

2. Nach persönlicher Anhörung der Beschwerdeführerinnen lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheiden vom 21. Juli 1993 die Anträge ab. Hiergegen erhoben die Beschwerdeführerinnen, ver- treten durch den Ehemann einer der älteren Schwestern als Vormund, Klage. Mit Beschluß vom 27. Juni 1995 bewilligte das Verwaltungsgericht den Beschwerdefüh- rerinnen Prozeßkostenhilfe und übertrug den Rechtsstreit auf den Berichterstatter als Einzelrichter. Dieser bestimmte mit Verfügung vom gleichen Tage Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 20. Juli 1995. Hierzu wurden die Beschwerdefüh- rerinnen über ihren Vormund sowie ihr Prozeßbevollmächtigter geladen; das per- sönliche Erscheinen der Beschwerdeführerin zu 1. wurde angeordnet.

Zum Verhandlungstermin am 20. Juli 1995 erschienen nur der Vormund der Be- schwerdeführerinnen und ihr Prozeßbevollmächtigter. Ausweislich der Sitzungsnie- derschrift erklärte der Vormund auf Frage wörtlich:

Die persönlich geladene Klägerin zu 1. und die Klägerin zu 2. sind nicht erschienen, weil sie sich bei ihrer älteren Schwester in Kiel aufhalten. Sie sind zu Beginn der Fe- rien dorthin umgezogen. Ihren genauen Aufenthaltsort kenne ich nicht. Es ist zwar richtig, daß ich die Ladung zum Termin am 6. Juli 1995 als Vormund erhalten habe.

Ich habe aber die Klägerinnen über den Termin nicht informieren können, weil sie damals schon nach Kiel umgezogen gewesen sind. Sie sind Anfang Juni 1995 weg- gegangen...

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9 Ferner äußerte er sich auf Befragen dazu, welche Verwandten der Beschwerdefüh-

rerinnen noch in der Türkei an welchen Orten lebten.

3. Mit dem aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 20. Juli 1995 ergangenen Urteil hat das Verwaltungsgericht Münster die Klage mangels fortbestehenden Sachbescheidungsinteresses der Beschwerdeführerinnen als unzulässig abgewie- sen. Der Aufenthaltsort der Beschwerdeführerinnen sei unbekannt; sie hätten ihren bisherigen Wohnort aufgegeben, ohne für ihre Erreichbarkeit in dem noch anhängi- gen Verfahren Sorge zu tragen. Damit sei offenbar geworden, daß sie in der Bun- desrepublik Deutschland keinen asylrechtlichen Schutz mehr suchten. Soweit ihr Desinteresse an ihrem Asylverfahren auch auf das Verhalten ihres Vormundes zu- rückzuführen sei, der sich offenbar um die Anschrift der Beschwerdeführerinnen in Kiel nicht weiter gekümmert habe, müßten sie sich dies wie eigenes Verhalten zu- rechnen lassen.

4. Die Beschwerdeführerinnen beantragten die Zulassung der Berufung wegen Ab- weichung und wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache. Mit Beschluß vom 10. Oktober 1995 lehnte das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein- Westfalen den Antrag ab: Die Frage, ob § 81 AsylVfG als Spezialvorschrift anzuse- hen sei, welche die Frage des Rechtsschutzbedürfnisses abschließend regele, sei schon nach dem Gesetz eindeutig in dem Sinne zu beantworten, daß die im Verwal- tungsprozeß geltenden allgemeinen Regeln über die Prüfung der Sachurteilsvoraus- setzungen und damit des Rechtsschutzbedürfnisses nicht verdrängt würden. In glei- cher Weise ließen sich die Fragen nach der Zurechnung des möglichen

Verschuldens des Vormundes bzw. nach den Voraussetzungen, unter denen aus dem Verhalten eines Dritten auf den Wegfall des Rechtsschutzinteresses geschlos- sen werden könne, unmittelbar aus dem Gesetz (§ 173 VwGO i.V.m. § 51 Abs. 2 ZPO, § 1793 Satz 1 BGB) beantworten. Hinsichtlich der Folgerungen, die das Ver- waltungsgericht aus der Nichterreichbarkeit der Beschwerdeführerinnen und den dafür vom Vormund angegebenen Gründen gezogen habe, beruhe das Urteil nicht auf einem von der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts und des Bundes- verwaltungsgerichts abweichenden Rechtssatz.

II.

Mit der rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführe- rinnen eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 16a Abs. 1 GG durch das Urteil des Verwaltungsgerichts und den Beschluß des Oberverwaltungsge- richts. Zur Begründung tragen sie im wesentlichen vor:

1. Wegen schwerer gesundheitlicher und sozialer Probleme in der Familie ihrer älte- ren Schwester seien die beiden mit ihnen zusammen nach Deutschland gekomme- nen Schwestern zu einem anderen Verwandten nach Bochum geschickt worden, der auch die Vormundschaft übernommen habe. Diese beiden Schwestern seien in- zwischen - seit dem 12. September 1994 bestandskräftig - als Asylberechtigte aner- kannt. Nachdem sich die Probleme in der Familie der älteren Schwester und des

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14 Vormundes, in der sie - die Beschwerdeführerinnen - sich aufgehalten hätten, weiter

verschärft hätten, hätten sie sich immer öfter bei einer weiteren Schwester aufgehal- ten. Als diese mit ihrer Familie im Juni 1995 nach Kiel umgezogen sei, habe sie die Beschwerdeführerinnen mitgenommen. Bei Erhalt der Ladung habe der Vormund die genaue Anschrift der Beschwerdeführerinnen in Kiel noch nicht gekannt, weil ihm der Schwager diese entgegen einem Versprechen nicht sofort, sondern erst kurz nach dem Termin mitgeteilt habe. Inzwischen sei die ältere Schwester in Kiel, Frau K..., bei der sich die Beschwerdeführerinnen aufhielten, zum neuen Vormund bestellt worden.

2. Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletze Art. 19 Abs. 4 GG. Es habe den Aus- nahmecharakter der Spezialvorschriften in §§ 33 und 81 AsylVfG nicht berücksich- tigt, die für die Beendigung solcher Verfahren geschaffen worden seien, welche vom Antragsteller nicht mehr betrieben würden. Die Voraussetzungen dieser Vorschriften seien hier aber nicht erfüllt. Deshalb verstoße es gegen die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, wenn den Beschwerdeführerinnen fehlendes Rechts- schutzinteresse nur deshalb unterstellt werde, weil infolge eines Umzuges während des anhängigen Verfahrens ihr genauer Aufenthaltsort aktuell nicht bekannt gewe- sen sei. Weder sie selbst noch ihr Vormund hätten zu erkennen gegeben, daß ihnen an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen sei.

Auch der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts verletze Art. 19 Abs. 4 GG. Indem das Gericht die aufgeworfenen grundsätzlichen Fragen als bereits aus dem Gesetz beantwortbar behandelt habe, habe es für die Berufungszulassung eine unüberwind- bare Hürde aufgestellt.

III.

Das Bundesverfassungsgericht hat dem Justizministerium des Landes Nordrhein- Westfalen und den Beteiligten des Ausgangsverfahrens Gelegenheit zur Stellung- nahme gegeben.

B.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung eines in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechts der Beschwerdefüh- rerinnen angezeigt ist (§§ 93a Abs. 2 Buchstabe b, 93b Satz 1 BVerfGG), und gibt ihr statt. Das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt die Beschwerdeführe- rinnen in ihrem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG. Die für diese Beurteilung maßgeb- lichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits ent- schieden; hiernach ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

I.

1. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet den Rechtsweg im Rahmen der jeweiligen einfach-gesetzlichen Prozeßordnungen. Der Weg zu den Gerichten, insbesondere

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17 auch zur inhaltlichen Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung, darf von der Er-

füllung und dem Fortbestand bestimmter formaler Voraussetzungen abhängig ge- macht werden (vgl. BVerfGE 9, 194 <199 f.>; 10, 264 <267 f.>; 27, 297 <310>; 35, 65 <72 f.>; 40, 272 <274>; 77, 275 <284>). Die dem Gesetzgeber obliegende nor- mative Ausgestaltung des Rechtswegs muß aber das Ziel dieser Rechtsgewährleis- tung, nämlich den wirkungsvollen Rechtsschutz, auch tatsächlich verfolgen und er- möglichen. Sie muß im Hinblick darauf geeignet und angemessen sowie für den Rechtsuchenden zumutbar sein (BVerfGE 77, 275 <284>). Der Zugang zu den Ge- richten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 78, 88 <99>; 88, 118 <124>). Dieser Grund- satz gilt auch innerhalb des jeweils eingeleiteten Verfahrens, soweit es darum geht, sich dort effektiv Gehör verschaffen zu können, und nicht nur für die Eröffnung des Zugangs zum Gericht selbst (BVerfGE 81, 123 <129>). Der gerichtlichen Durchset- zung des materiellen Anspruchs dürfen auch hier nicht unangemessen hohe verfah- rensrechtliche Hindernisse in den Weg gelegt werden (BVerfGE 53, 115 <127>).

2. Im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 GG setzt jede an einen Antrag gebundene gericht- liche Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraus (vgl. BVerfGE 61, 126 <135>;

96, 27 <39 f.>; Redeker/von Oertzen, VwGO <12. Aufl. 1997>, § 42 Rn. 28; Ehlers in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO <Stand Februar 1998>, Vorb. § 40 Rn. 75). Nur derjenige, der mit dem von ihm angestrengten gerichtlichen Rechts- schutzverfahren ein rechtsschutzwürdiges Interesse verfolgt, hat einen Anspruch auf eine gerichtliche Sachentscheidung; fehlt es daran, so ist das prozessuale Be- gehren als unzulässig abzuweisen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO <11. Aufl. 1998>, Vorb. § 40 Rn. 30).

a) Das erforderliche Rechtsschutzinteresse kann im Laufe eines gerichtlichen Ver- fahrens entfallen. Vom Wegfall eines ursprünglich gegebenen Rechtsschutzbedürf- nisses kann ein Gericht im Einzelfall auch dann ausgehen, wenn das Verhalten eines rechtsschutzsuchenden Verfahrensbeteiligten Anlaß zu der Annahme bietet, daß ihm an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen ist. Eine hierauf gestütz- te Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses begegnet grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Einen gesetzlichen Niederschlag hat dieser Rechtsgedanke zunächst in § 81 AsylVfG (zuvor: § 33 AsylVfG 1982) für Rechtsstreitigkeiten über Asylverfahren, seit dem 1. Januar 1997 für verwaltungsrechtliche Streitigkeiten im allgemeinen in § 92 Abs. 2 VwGO in der Fassung des 6. Gesetzes zur Änderung der Verwaltungsge- richtsordnung und anderer Gesetze vom 1. November 1996 (BGBl I S. 1626) gefun- den. Danach gilt eine Klage - mit der Folge der Einstellung des Verfahrens durch Be- schluß (vgl. § 92 Abs. 3 VwGO) - als zurückgenommen, wenn ein Kläger das Verfahren trotz einer Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate (in Rechts- streitigkeiten nach dem Asylverfahrensgesetz: länger als einen Monat) nicht betreibt.

Eine solche Beendigung eines gerichtlichen Verfahrens ohne Entscheidung über das

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19 Rechtsschutzbegehren in der Sache setzt voraus, daß nach dem prozessualen Ver-

halten des Beteiligten hinreichender Anlaß besteht, von einem Wegfall des Rechts- schutzinteresses auszugehen, daß das Gericht ihn daraufhin zum Betreiben des Ver- fahrens auffordert und daß der Beteiligte mit dieser Aufforderung auf die Folgen des (weiteren) Nichtbetreibens des Verfahrens hingewiesen wird (vgl. dazu näher BVerw- GE 71, 213 <218 f.>). Regelungen dieser Art sind mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar, unterliegen aber in ihrer Auslegung und Anwendung verfassungsrechtlichen Gren- zen unter Beachtung ihres Ausnahmecharakters (vgl. BVerfG <Vorprüfungsausschu- ß>, Beschlüsse vom 7. August 1984 - 2 BvR 187/84 -, NVwZ 1985, S. 33 und vom 15. August 1984 - 2 BvR 357/84 -, DVBl 1984, S. 1005; 1. Kammer des Zweiten Se- nats des Bundesverfassungsgerichts, Beschluß vom 19. Mai 1993 - 2 BvR 1972/92 -, NVwZ 1994, S. 62 f.; alle zu § 33 AsylVfG a.F.).

b) Inwiefern neben solchen ausdrücklichen gesetzlichen Regelungen, denen die an das Verhalten eines Rechtsschutzsuchenden anknüpfende Vermutung eines Weg- falls des Rechtsschutzinteresses zugrunde liegt (vgl. Clausing in: Schoch/Schmidt- Aßmann/Pietz-ner, VwGO, § 92 Rn. 46; Kopp/Schenke, VwGO, § 92 Rn. 18), den Gerichten noch Raum verbleibt, außerhalb der in § 81 AsylVfG und § 92 Abs. 2 Vw- GO bestimmten Vorausetzungen und außerhalb des dort geregelten Verfahrens ein Rechtsschutzbegehren als unzulässig abzulehnen, weil nach dem Verhalten des Be- teiligten davon auszugehen ist, daß er kein Interesse mehr an einer Sachentschei- dung des Gerichts hat (verneinend dazu nunmehr Kopp/ Schenke, VwGO, Vorb. § 40 Rn. 54), unterliegt als Frage der Auslegung und Anwendung einfachen Verwaltungs- prozeßrechts nicht der verfassungsgerichtlichen Beurteilung. Maßgeblich ist allein, daß den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG entsprochen wird. Nach den unter B. I.

1. dargestellten Maßstäben bedeutet dies: Will ein Gericht an ein Verhalten eines Be- teiligten während eines zulässigerweise anhängig gemachten Verfahrens die weitrei- chende Folge einer Abweisung des Rechtsschutzbegehrens als unzulässig mangels Rechtsschutzinteresses und damit die Verweigerung effektiven Rechtsschutzes in der Sache knüpfen, ohne den Beteiligten vorher auf Zweifel am fortbestehenden Rechtsschutzinteresse hinzuweisen und ihm Gelegenheit zu geben, sie auszuräu- men, so müssen konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die den sicheren Schluß zulas- sen, daß den Beteiligten an einer Sachentscheidung des Gerichts in Wahrheit nicht mehr gelegen ist.

II.

Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts nicht. Ausweislich der dem Bundesverfassungsgericht vorlie- genden Akten des fachgerichtlichen Verfahrens haben die Beschwerdeführerinnen das Verfahren bis zum Verhandlungstermin ordnungsgemäß betrieben. Auch im Ter- min zur mündlichen Verhandlung waren sie durch ihren damaligen Vormund und ih- ren Prozeßbevollmächtigten ausreichend vertreten. Die Tatsache, daß sie selbst zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen waren, rechtfertigte nicht die Annahme, daß sie an einer Sachentscheidung über ihre Klage nicht mehr interessiert gewesen

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22 seien. Für die Beschwerdeführerin zu 2. folgt dies ohne weiteres daraus, daß ihr per-

sönliches Erscheinen nicht angeordnet war (vgl. dazu auch 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, Beschluß vom 26. Mai 1994 - 2 BvR 1183/

92 -, NVwZ Beilage 7/94, S. 50 <51>). Für die Beschwerdeführerin zu 1. gilt im Er- gebnis das gleiche: Zwar hatte das Gericht ihr persönliches Erscheinen zum Ver- handlungstermin angeordnet (§ 95 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Insoweit sieht das Gesetz aber für den Fall des Ausbleibens als Sanktion die Androhung und Festsetzung eines Ordnungsgeldes (§ 95 Abs. 1 Satz 2 und 3 VwGO), nicht hingegen Konsequenzen für die weitere Verfolgung des Rechtsschutzbegehrens in der Sache vor.

Der im angegriffenen Urteil gezogene Schluß auf einen Wegfall des Sachbeschei- dungsinteresses aus der Erklärung, die der seinerzeitige Vormund der Beschwerde- führerinnen als Grund für deren Nichterscheinen zu Protokoll gegeben hat, wird dem grundrechtlich durch Art. 19 Abs. 4 GG geschützten Interesse an effektivem gerichtli- chen Rechtsschutz nicht gerecht. Das Gericht überspannt mit ihm die Anforderungen an das Verhalten eines rechtsschutzsuchenden Bürgers, mit dem dieser zum Aus- druck bringen muß, daß sein Interesse an einer Sachentscheidung des von ihm zu- lässigerweise angerufenen Gerichts fortbesteht:

Das Verwaltungsgericht ist im angegriffenen Urteil davon ausgegangen, daß die vom früheren Vormund der Beschwerdeführerinnen abgegebene Erklärung zutref- fend ist; übrigens ist die in dieser Erklärung erwähnte, in Kiel wohnhafte weitere Schwester der Beschwerdeführerinnen im November 1995 zum neuen Vormund be- stellt worden. Aufgrund des vom damaligen Vormund geschilderten Sachverhalts be- stand kein Anlaß anzunehmen, die Beschwerdeführerinnen seien aus eigenem Ent- schluß "untergetaucht" und wollten das Verfahren auf Anerkennung als Asylberechtigte in Deutschland nicht mehr betreiben. Die Anschrift des Vormundes, der als ihr gesetzlicher Vertreter das Verfahren für sie zu betreiben hatte, war weiter- hin bekannt. Damit war auch die Erreichbarkeit der Beschwerdeführerinnen für Zwe- cke des anhängigen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens über den Asylantrag grundsätzlich gewährleistet; die im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung erst zehn und dreizehn Jahre alten Beschwerdeführerinnen selbst waren ohnehin nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i.V.m. § 12 Abs. 1 AsylVfG nicht zur Vornahme irgendwelcher Verfahrenshandlungen fähig.

Allenfalls insofern, als es auf eine persönliche Anwesenheit der Beschwerdeführe- rinnen vor Gericht, etwa für Erklärungen zu ihrem Verfolgungsschicksal, angekom- men wäre, war vorübergehend nicht sichergestellt, daß die Beschwerdeführerinnen alsbald benachrichtigt werden konnten. Dazu, inwieweit dies für die weitere Förde- rung des Verfahrens notwendig war, verhält sich das Gericht im angegriffenen Urteil aber nicht, so daß auch dahinstehen kann, ob ihre Angaben im Asylverfahren über- haupt verwertbar sind (generell verneinend unter Verweis auf den Zweck des Minder- jährigenschutzes: Marx, Kommentar zum AsylVfG, <3. Aufl. 1995>, § 12 Rn. 15; dif- ferenzierend: BVerwG, Beschluß vom 18. November 1983 - 9 CB 252.81 -, Buchholz 310 § 43 VwGO Nr. 80; BVerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 - 9 C 156.83 -, NJW 1985,

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25 S. 576 f.; Funke-Kaiser in: GK-AsylVfG, Stand: Oktober 1995, § 12 Rn. 21). Die Be-

schwerdeführerin zu 1. ist zwar der Anordnung ihres persönlichen Erscheinens nicht nachgekommen, jedoch hat hier das gleiche zu gelten wie bei unvollständigen, un- terbliebenen oder widersprüchlichen Angaben Minderjähriger, aus denen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Beschluß vom 18. No- vember 1983 - 9 CB 252.81 -, a.a.O.; BVerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 - 9 C 156.83 -, a.a.O.) grundsätzlich keine negativen Schlußfolgerungen gezogen werden dürfen.

Im übrigen läßt sich dem angegriffenen Urteil nicht entnehmen und liegt angesichts des hier geltend gemachten familiären Verfolgungsschicksals auch fern, daß der im Termin anwesende Vormund - der Ehemann der älteren Schwester der Beschwerde- führerinnen - zur Aufklärung des Sachverhalts nicht in der Lage gewesen wäre. Aus- weislich des Sitzungsprotokolls hat der Vormund zum Sachverhalt Erklärungen abge- geben; die insoweit vom Gericht gestellten Fragen zum Aufenthalt von Verwandten in der Türkei zielten ersichtlich auf Feststellungen zu einer inländischen Fluchtalter- native.

Die den Beschwerdeführerinnen nach den Zustellungsvorschriften des § 10 AsylVfG obliegende Pflicht zur Mitteilung geänderter Anschriften traf aufgrund ihrer mangelnden Handlungsfähigkeit nur ihren Vormund. Ob unter § 10 AsylVfG auch Wohnortwechsel nicht handlungsfähiger Asylantragsteller fallen, erscheint freilich - da eine Zustellung an sie selbst nicht zulässig wäre - fraglich, bedarf aber hier keiner Entscheidung. Denn auch eine etwaige Zuwiderhandlung gegen die Obliegenheit aus

§ 10 AsylVfG rechtfertigt hier keinesfalls die vom Verwaltungsgericht getroffene Fest- stellung, die Beschwerdeführerinnen hätten durch ihr Verhalten zu erkennen gege- ben, daß sie an einer Sachentscheidung des Gerichts über ihr Asylbegehren nicht mehr interessiert seien. Auch das Verhalten des damaligen Vormunds selbst, der als ihr gesetzlicher Vertreter in der mündlichen Verhandlung anwesend war, läßt unge- achtet der Frage, inwieweit ihm überhaupt Versäumnisse vorzuwerfen sind und die Beschwerdeführerinnen sich diese zurechnen lassen müssen, schon nach seinem objektiven Erklärungswert nicht den Schluß auf einen nachträglichen Wegfall des er- forderlichen Rechtsschutzinteresses zu.

III.

Das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts ist aufzuheben, die Sache ist an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 i.V.m. § 93c Abs. 2 BVerfGG). Damit wird der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. Oktober 1995 gegenstandslos.

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Sommer Hassemer Broß

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Bundesverfassungsgericht, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Oktober 1998 - 2 BvR 2662/95

Zitiervorschlag BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Okto- ber 1998 - 2 BvR 2662/95 - Rn. (1 - 25), http://www.bverfg.de/e/

rk19981027_2bvr266295.html

ECLI ECLI:DE:BVerfG:1998:rk19981027.2bvr266295

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