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Aber wenn ich es recht bedenke, so erheitert unter allen Freuden der Welt nichts so sehr das Herz.&#34

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Academic year: 2022

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(1)

WELTLICHE UND GEISTLICHE MORAL IN DER SETSUWA-LITERATUR

Von Wolfram Naumann, München

"Es ist noch nicht lange her, da gab es einen armen, geplagten Mann, der

hoch in den Jahren stand. Obwohl er ein Beamter gewesen war, gab es keine

Möglichkeit mehr für ihn, ein Amt zu bekleiden. Doch sein Herz war auf Ver¬

gangenes gerichtet, und wenn er sich dabei sonderbar betrug, so kümmerte

es ihn nicht. Da er mitnichten der Welt abgeneigt war, stand ihm der Sinn

auch nicht danach, sich den Kopf kahlzuscheren. Er hatte keine feste Bleibe

und pflegte in alten, verfallenen Tempeln zu hausen. Während er Jahr und Tag

so armselig zubrachte, bestand sein ganzes Tun vom frühen Morgen bis zum

späten Abend darin, von anderen Papier und Schreibgerät zusammenzubetteln

und in Hülle und Fülle Pläne zu zeichnen und Skizzen zu machen, als wolle er

ein Haus bauen. 'Das Wohngebäude in dieser Weise, und was für Türen?' So

stellte er die genauesten Überlegungen an und zerstreute sein Gemüt über die

Maßen in unerschöpflichen Entwürfen. Leute, die dies sahen oder davon hör¬

ten, sprachen von ihm als einem Muster an Verschrobenheit."

"In der Tat ist das Planen von Dingen, die man nicht verwirklichen kann, ein

unnützes Beginnen. Aber wenn ich es recht bedenke, so erheitert unter allen

Freuden der Welt nichts so sehr das Herz." (l) Prächtige Häuser, so fährt

der Schreiber dieser Zeilen, Kamo no Chomei, fort, seien doch nur für frem¬

de Augen da und außerdem ohne langen Bestand. "Die Skizzenhäuser jenes

Mannes (aber) kannten keine Seelenpein durch ruheloses Verlangen oder präch¬

tiges Erbauen. Weder gab es die Möglichkeit der Zerstörung durch Wind und

Regen noch die Furcht vor vernichtendem Brand. Wenn auch der Bauplatz

kaum mehr als ein Bogen Papier ist, so reicht er doch hin, um das Herz zu

beherbergen." Chomei zitiert nun indische Weisheit und chinesische Exzen-

trik, um das Verhalten des armen Beamten auch durch literarische Tradition

zu rechtfertigen, und kommt zu dem Schluß: "Jener, der sich ganz seinen Luft¬

schlössern verschrieb, war gewiß reichlich mit Tugend gesegnet. Jedoch ver¬

gleicht man dies sein Tun mit dem Treiben auf Erden, so kommt es einem zwar

weise vor, doch wenn man es genau betrachtet, so hat auch dieses höchste

Himmelsglück ein Ende. Eine Wohnstatt auf hundert Schritt im Geviert ist

durchaus nicht nach meinem Herzen; sein ganzes Leben im unnützen Planen

unverrichteter Dinge zu Ende zu führen, noch weniger. Da möchte ich doch

lieber die Paläste und Türme grenzenloser Freuden in der Welt der friedvol¬

len Obhut erblicken, die man gewiß erlangt, wenn man sich nur danach sehnt.

Aber das ist vielleicht nur eine eitle Hoffnung."

Dieser Text entstammt dem Hosshinshü , der "Sammlung [von Geschichten]

zur Erweckung des Herzens", die Chomei bis gegen 1215, kurz vor seinem

Tode und wenige Jahre nach seinem Traktat Hojoki zusammengetragen hatte.

Sein Werk ist in einer offensichtlich von fremder Hand erweiterten Gestalt

auf uns gekommen. Der vorliegende Text verrät aber so deutlich die Hand¬

schrift Chomei's, daß Zweifel an seiner Urheberschaft unbegründet wären.

(2)

Das Hosshinshü verkörpert den späten mehrschichtigen Typus der religiösen

setsuwa -, das heißt "Geschichten"-Literatur: nämlich die Kombination aus

einer Anekdote oder Legende und ihrer Ausdeutung. Neben die Erzählung mit

ihrer immanenten Moral tritt eine mehr oder weniger ausführliche Exegese,

die in unserem Beispiel ungewöhnliche Differenzierung aufweist.

Bevor er selbst Stellung nimmt, referiert der Erzähler eine Reaktion auf

das Verhalten des ewigen Pläneschmieds: Er läßt die Zeitgenossen, die das

vermeintlich törichte Beginnen zu sehen oder zu hören bekommen, urteilen,

es handle sich um "ein Muster an Verschrobenheit". Ein Werturteil des so¬

genannten gesunden Menschenverstandes. Wer von der Norm abweicht, muß

"verrückt" sein. Es versteht sich, daß Chomei dies Urteil nicht gutheißen

kann und mit Argumenten aufwartet, die von der Fragwürdigkeit der irdischen

Güter und Verhältnisse ausgehen und in enger Beziehung zur Gesellschafts¬

negation des Hojoki stehen. In der Wertskala Chomei's steht der Illusionist

über dem Pragmatiker; eine Wertskala, die im abstraktionsfreundlichen bud¬

dhistischen Dogma ihre Entsprechung findet (2). Gleichwohl verwirft Chomei

auch diese Form der Weltflucht und erhebt, nun ganz Geistlicher, Amitäbha' s

Reines Land im Westen, das paradiesische Jenseits, zum höchsten Gut. (Die

Hinübergeburt ins Reine Land ist übrigens ein zentrales missionarisches An¬

liegen des Hosshinshü . ) Die zeitgemäße psychische Sublimierung des Erlö¬

sungsstrebens begnügt sich mit der Forderung an den Gläubigen, die selig¬

machende Hinübergeburt nur zu wollen, dann werde sie bestimmt erreicht.

So formuliert es auch Chomei, um dann im Schlußsatz mit der ihm eigenen,

als rhetorisch verdächtigten (3) Halbherzigkeit zweifelnd zu resignieren:

"Aber das ist vielleicht nur eine eitle Hoffnung."

Die verschiedenen Standpunkte spielt der Autor dialektisch gegeneinander

aus, er selbst schlüpft dabei in eine Doppelrolle, indem er die Stimme des

Volkes - die öffentliche Meinung - einmal als Kulturverächter widerlegt,

ein zweites Mal aber in gläubiger Gewißheit zugleich widerlegt und bestätigt.

Denn in seiner Synthese gibt er dem Illusionisten soweit recht, als dieser

immaterielle, zu nichts führende, leere Ambitionen hegt, und er gibt der

Öffentlichkeit soweit recht, als sie erfolgsorientiert denkt. Die dialektisch

bedächtige Weise der Argumentation zeigt, daß die in der öffentlichen Meinung

zum Ausdruck kommende Vulgärmoral vom Buddhisten Chomei ernst genom¬

men wird. Er widerlegt da rational, wo er die Autorität des Dogmas zitieren

könnte.

Gleichwohl - in dieser wie in den übrigen Geschichten des Hosshinshü hat

der geistliche Moralist das letzte Wort. Genau umgekehrt verhält es sich in

einigen Geschichten des Konjaku monogatari shü . der "Sammlung von Es-war-

einmal-Erzählungen", aus dem frühen 12. Jahrhundert. In der GeschichteNr.

19 des 29. Kapitels (4), dessen Überschrift "Böse Taten im Reiche" das Böse

beim Namen nennt, probiert ein entlassener Sträfling, der Räuber Hakamadare,

eine Resozialisierung auf eigene Faust: er legt sich heimlich nackt an den

Straßenrand und stellt sich tot, als Köder für vorbeiziehende Gewappnete. Ein

umsichtiger Krieger mit großem Gefolge, der einen weiten Bogen um den

Scheintoten schlägt, zieht sich den Spott der inzwischen versammelten gaffen¬

den Menge zu. Die Leute verlaufen sich, ein einsamer Reiter nähert sich mit¬

leidig dem Räuber, der aufspringt, ihn packt und mit des Reiters eigenem

Schwert ersticht. Die Erzählung versagt "so einem" (kakaru mono), wie sie

(3)

ihn nennt, nicht ihren Respekt: "Läßt man so einem nur ein bißchen Spiel¬

raum, dann treibt er solche Dinge. Kommt ihm einer nahe, ohne dies zu

wissen, und die Gelegenheit ist günstig - sollte er da nicht stracks zugrei¬

fen?" Auch die Leute, die davon erfahren, kommen tadelnd zu dem Schluß,

daß der getötete Ritter "leichtsinnig" gehandelt habe ( hakanaki koto nari ).

Damit endet die Geschichte. Eine moralische Bewertung oder gar Verur¬

teilung des Mordes erfolgt nicht. Schuld oder menschliches Versagen liegen

nur auf der Seite des Ermordeten vor. Wenn nicht die Kapitelüberschrift

("Böse Taten") a priori das räuberische Verhalten, die Gewalttat als ethisch

negativ einstufen würde, die erzählte Geschichte ließe einen solchen Schluß

nicht einmal implizit zu, denn ihre Moral gibt jenseits aller Humanität dem

Tüchtigen recht.

Ähnliche Ignoranz oder Vernachlässigung buddhistischer Karitas zeigen

Nr. 22 und 23 desselben Kapitels. "Es ist jetzt schon lange her, dahatte je¬

mand eine Frau, die war ganz versessen auf Wallfahrten. Wer diese Frau

war, sage ich aus gutem Grunde nicht. An Jahren war sie gegen dreißig,

und sie war schön von Gestalt und anmutig." So beginnt die eine Geschichte,

die diese Dame zum krankenheilenden Nothelfer Binzuru im Toribe-Tempel

mit einem Mägdlein pilgern läßt. Im menschenleeren Tempelbezirk werden

beide von einem "auffallend gekleideten Knecht" überfallen, der zuerst der

Magd die Kleider raubt. "Der Mann nahm die Kleider an sich," fährt der Er¬

zähler fort, "und packte nun die Herrin. Die Herrin empfand es als entsetz¬

lich schmachvoll, doch sie wußte sich nicht zu helfen. Der Mann zog die

Herrin hinter die Buddha-Statue und legte sich mit ihr hin. Da sie sich nicht

weigern konnte, folgte sie dem Willen des Mannes. Danach stand der Mann

auf, riß der Herrin die Kleider vom Leib und sprach: 'Weil es unziemlich

wäre, lasse ich dir die Rockhose, ' dann rannte er, die Kleider der Herrin

und der Dienerin in Händen, in die östlichen Berge, wo er verschwand."

Und die Moral der Geschichte: "Darum also muß man verhindern, daß Frau¬

en in der Einfalt ihres Herzens zu Fuß eine Wanderung antreten. Es gesche¬

hen so entsetzliche Dinge. Wenn dieser Mann, nachdem er mit der Herrin ver¬

traut geworden war, doch wenigstens weggegangen wäre, ohne ihr auch noch

die Kleider zu nehmen! So eine niederträchtige Gesinnung! Dieser Mann war

ursprünglich ein Samurai, der wegen eines Diebstahls im Kerker saß und da¬

nach als Freigelassener in der Polizeibehörde niederen Dienst tun mußte.

Obwohl diese Angelegenheit vertuscht wurde, redete alle Welt darüber, so

hat man es erzählt und überliefert." Der Kompilator bewährt sich auch hier

im ersten Satz eher als Lebenshelfer denn als Sittenrichter. Der Kommen¬

tar wie auch die eingangs gebrauchte Wendung: "Wer diese Frau war, sage

ich aus gutem Grunde nicht" machen den Sensations- und Gerüchtcharakter

dieses Berichtes deutlich. Eigentlich schlimm erscheint nur, daß der Knecht

die beiden in ihrer Nacktheit sitzen ließ, die Vergewaltigung selbst tritt in

dieser Relation als Rechtsbruch in den Hintergrund.

Daß wir mit dieser Interpretation nicht auf dem Holzweg sind, macht die

folgende Geschichte deutlich. Sie behandelt ein verwandtes Thema, wie denn

das Grundprinzip der Textauswahl und -anordnung im Konjaku monogatari

deutliche Paarigkeit verrät. Ich verweise nur auf die jüngst publizierte Stu¬

die von Michael Kelsey, der auf dieses bereits von japanischen Vorgängern

erkannte Prinzip ausführlich und unter neuen, erweiternden Gesichtspunkten

eingeht (5).

(4)

Es handelt sich um die im 20. Jahrhundert durch Akutagawa's Bearbeitung

erneut popularisierte Erzählung von dem Mann, der mit seiner Frau nach

Tamba reiste und am Berg Oe gefesselt wurde. So die Uberschrift. Auf dieser

Reise gesellt sich ein junger, kräftiger Mann zu dem Paar, der es versteht,

die Habgier des Ehemannes so auszunützen, daß dieser ihm wehrlos ausge¬

liefert ist. Während der unkluge Gatte gefesselt zuschauen muß, gibt sich

seine Frau dem jungen Mann hin, der übrigens niemals als Räuber, sondern

nur als "junger Mann" oder einfach als "Mann" in der Erzählung auftritt.

Nachdem dieser junge Mann unter Mitnahme einiger beweglicher Habe sich

entfernt hatte, befreite die Frau ihren Mann von seinen Fesseln und, so wört¬

lich, "da der Mann eine Miene machte, als sei er nicht mehr er selbst, sagte

die Frau zu ihm: 'Du hast ein feiges Herz. Von heute an werde ich in dieses

Herz kein Vertrauen mehr setzen. ' Darauf konnte der Ehemann nicht das

mindeste erwidern, und er ging mit ihr von da weiter nach Tamba." So nüch¬

tern endet die Geschichte, und die aus der Fabel evidente Moral, der Frau

in den Mund gelegt, ist der Tadel der Feigheit. Vielleicht noch überraschender

ist die vom Kompilator angefügte Schlußfolgerung: "Das Herz des jungen Man¬

nes war sehr schamhaft. Er beraubte die Frau nicht ihrer Kleider." Hier

zeigt sich der direkte Bezug zur vorangehenden Geschichte, deren morali¬

sierender Schluß den Raub der Kleider als besonders gravierendes Moment

anprangert. Überraschend ist die positive Prädikatisierung des jungen Man¬

nes. Der Ehemann dagegen wird als einfältig und töricht abqualifiziert. Von

einer auch nur entfernt buddhistisch interpretierbaren moralischen Wertung

halten sich Wortlaut der Erzählung und des Kommentars frei. Die in der

Kapitelüberschrift postulierte "böse Tat" wird durch die Fabel widerlegt.

Geschichte Nr. 29 des gleichen Kapitels schildert einen weiteren Fall von

Nötigung. Eine junge Frau, die mit ihrem Kind auf dem Rücken durch einen

Wald geht, wird von zwei Bettlern eingeholt. Der eine will sie vergewaltigen,

doch sie täuscht Leibschmerzen vor und bittet, sie kurz freizugeben, damit

sie sich erleichtern kann, sie werde gleich zurückkommen. Als Unterpfand

läßt sie ihr Kind in der Gewalt der Bettler, mit den Worten: "'Dieses Kind

ist mir teurer als mein Leben. Alle Menschen in der Welt, ob hoch oder nied¬

rig, kennen die Liebe zum Kind. Wenn ich also dieses Kind zurücklasse, laufe

ich bestimmt nicht davon ... ' Da nahm der Bettler das Kind in seine Arme

und überlegte: 'Da wird sie ja kaum ihr Kind zurücklassen und fliehen ... ' "

Diese auf den Mutterinstinkt gegründete Zuversicht bestätigt sich nicht -

die Frau flieht, und als sie einige Krieger auf den Schauplatz schickt, finden

diese das Kind in zwei, drei Stücke zerrissen, von den Bettlern keine Spur.

Der Text schließt: "Die Frau dachte: 'Es tut mir zwar leid um das Kind,

aber mit einem Bettler möchte ich nicht in Berührung kommen! ' Daß sie ihr

Kind aufgegeben und die Flucht ergriffen hatte, erfüllte die Krieger mit Be¬

wunderung. - So findet man auch in den unteren Ständen Menschen mit so

starkem Ehrgefühl." Eindeutig nimmt in der Wertordnung dieser Frau das

Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit, dem durch die Berührung mit

einem Angehörigen der Klasse der hinin , der "Nichtmenschen", Verletzung

droht, höheren Rang ein als das Leben ihres Kindes, obwohl sie betrügerisch

die natürliche, jeden anderen Instinkt überwindende Mutterliebe simuliert.

Ihr Verhalten findet dennoch Anerkennung: die Krieger bewundern sie aus

falsch verstandenem, weil radikal eingesetzten Ehrbegriff, und der Chronist

preist ebenfalls ihr Ehrgefühl. Von keinem herrschenden ethischen System,

(5)

so abstrus und inhuman seine Parabeln auch sein mögen, weder vom Konfu¬

zianismus noch vom Buddhismus, wird meines Wissens diese Entscheidung

zugunsten der eigenen Ehre gedecltt, da beide Systeme wohl das Opfer der

eigenen Person, auch wenn es sich um ein Kind handelt, das sich für seine

Eltern opfert, niemals aber das Opfern eines anderen unter dem Druck eines

Notstandes kennen.

Wir können hier die Frage der Glaubwürdigkeit und damit des Wirklich¬

keitsbezuges dieser epischen Uberlieferung nicht zufriedenstellend erörtern,

wir besitzen nur die historische Realität der Texte, der unbekannten Erzäh¬

ler und ihrer Anschauungen. Wir gewinnen durch die Interpretation dieser

Texte die Erkenntnis, daß weder eine von der herrschenden Hochreligion ab¬

geleitete geistliche Moral noch eine den Maximen und Lehrstücken des Kon¬

fuzianismus verpflichtete weltliche Moral den ethischen Standort der Han¬

delnden bestimmt. Was sich an moralischen Vorstellungen hier fragmenta¬

risch erschließen läßt, ist "weltlich" im gemeinsten Sinne des Wortes, Aller-

weltsmoral, in der Lebensklugheit, Dummheit und korrumpierte Sittenlehren

zusammenfließen.

Wir haben nur einige Geschichten aus dem Konjaku monogatari herausge¬

griffen und eine deskriptive Darstellung, die noch weit entfernt ist von um¬

fassender Präsentation, zu geben versucht, um wenigstens punktuell die Er¬

giebigkeit des Materials zu erhellen und zu eingehenderen Bestandsaufnah¬

men anzuregen. Bei der Textwahl verfuhren wir bewußt einseitig; das Konj aku

monogatari ist ambivalent und räumt frommer Erbauungslektüre einen großen

Platz ein. Darin befolgt es die belehrende, Dogmen popularisierende und hand¬

feste Vergeltungsmoral predigende Tradition der setsuwa seit dem Nihonkoku

gembo zen'aku ryoiki , "Aufzeichnungen über wunderbare oder seltsame Be¬

gebenheiten bei der Vergeltung von Gut und Böse im gegenwärtigen Leben im

Lande Japan", um 820 entstanden. In dieser Traditionsreihe einfach struktu¬

rierter Legenden herrscht die buddhistische Moral absolut; als moralische

Instanz fungiert der Propagandist des Glaubens, das Volk hat keine Stimme.

Schon die Titel einzelner Geschichten dieses Werkes bringen die Tendenz klar

zum Ausdruck und nehmen den Inhalt vorweg, umfassender als es im Konjaku

monogatari geschieht: "Wie es kam, daß jemand Schildkröten loskaufte und

sie freiließ, dadurch ein Zeichen der Belohnung empfing und von den Schild¬

kröten Hilfe erlangte." (6) Oder: "Wie es kam, daß ein äußerst armes Weib

der tausendhändigen Kannon Bild verehrend vertraute, ein Segensteil erbat

und großen Reichtum erlangte" (7).

Eine an allen bisher zitierten Textbeispielen orientierte Typologie ergäbe

folgendes grobe Muster:

1. Einheit und Eindeutigkeit im Nihon ryoiki , bedingt durch die fabelimma¬

nente, schwarz-weiß malende geistliche Moral;

2. Zweischichtigkeit und Eindeutigkeit im säkularen Teil des Konjaku mono ¬

gatari , bedingt durch die einander spiegelbildlich ergänzenden Ebenen der

Fabel und des Urteils;

3. Zweischichtigkeit und Mehrdeutigkeit im Hosshinshü , dessen Fabel von

weltlich-geistlich differenzierter, sich erst im Widerspruch dialektisch ent¬

wickelnder Moral überlagert wird.

Ein Versuch, die gesamte setsuwa -Li teratur nach moralischen Kategorien

und ihren entsprechenden literarischen Medien einzuteilen, würde eine Ver¬

feinerung des begrifflichen Apparats erfordern. Wie die bei D.E. Mills bequem

(6)

einzusehende Tabelle (8) der drei großen setsuwa-Ströme (buddhistisch/

säkular/gemischt) zeigt, gehören unter vielen anderen auch die Yamato mono ¬

gatari mit ihren lyrisch sich lösenden Konflikten ebenso wie die aus dem Chi¬

nesischen übertragenen, dort für Lehrzwecke bestimmten klassischen Exzerpte

der Mogyü waka zum weltlichen Zweig dieser großen Literaturgattung. Unse¬

rem Schema vergleichbare scharfe Kontraste wären diesem Material kaum

abzugewinnen.

Als soziologisch und moraltheologisch interessantes Fazit präsentiert sich

aus dieser vorläufigen, aus der Lektüre einiger setsuwa-Texte geborenen Be¬

trachtung die folgende Evolution als Abwandlung des typologisehen Dreier¬

schemas:

Einführung volkstümlicher Moralbegriffe als selbstverständliche Größe,

nicht nur als zu verurteilende Unmoral;

wachsende Bedeutung der Öffentlichkeit beim Artikulieren solcher Moral¬

vorstellungen und

dialektische Uberwindung des öffentlichen Urteils durch den psychologi-

sierten Reformbuddhismus des 13. Jahrhunderts.

Anmerkungen

1. Hosshinshü V/60, in: Kamo no Chomei zenshü . Hg. Yanase Kazuo, Tokyo

1940, Bd. 2, S. 176 ff. Die Übersetzung verdanke ich Herrn Ingo Kling-

spon-März. Weitere Übersetzungen aus diesem Werk finden sion in:

Marian Ury, Recluses and Eccentric Monks: Tales from the Hosshinshü

b y Kamo no Chomei , Monumenta Nipponica 27/1972, S. 149-173.

2. So z.B. in der Vorstellung der Welt des reinen Geistes, arüpaloka , der

höchsten der drei Weltmanifestationen.

3. Sakurai Yoshitoki geht in seinem Artikel: Hosshinshü no shiso-teki ichi ,

in: Nihon shükyoshi kenkyü . Bd. 2, Kyoto 1968, S. 103 ff. auf dieses

Problem im Zusammenhang mit dem melancholischen Schluß des Hoioki

ein.

4. Nihon koten bungaku taikei , Tokyo 1971, Übersetzungen aller hier zitier¬

ten Geschichten in: Die Zauberschale . Hg. Nelly und Wolfram Naumann,

München 1973, S. 202 ff.

5. W. Michael Kelsey, Konjaku Monogatari-shü: Toward an Understanding

of Its Literary Qualities , in: Monumenta Nipponica 30. 2/1975, S. 121

bis 150.

6. Nihon koten bungaku taikei . Tokyo 1969, S. 90 f. Übersetzung in: Die

Zauberschale . S. 37 f.

7. A.a.O., S. 296 f. Übersetzung in: Hermann Bohner, Legenden aus der

Frühzeit des japanischen Buddhismus . Tokyo 1934, S. 160 f.

8. A Collection of Tales from Uji . Cambridge 1970, S. 437 f.

(7)

JAPANS EISENINDUSTRIE ZWISCHEN TRADITION UND MODERNE

- Der hansharo /Flammofen und köro /Hochofen in der Bakumatsu-Periode - (1)

Von Erich Pauer, Wien

Für Ökonomen beginnt der Wirtschaftaufschwung Japans als moderner Staat

meist in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts. Es ist dies eine Periode mit

bereits statistisch feststellbarem wirtschaftlichen Wachstum. Mit jener Peri¬

ode fällt auch die Errichtung des Eisen- und Stahlwerkes in Kamaishi, im

Iw ate- ken zusammen, wo europäische Technologie in großem Stil zur Anwen¬

dung gebracht worden war.

Allgemein spricht man bis zu diesem Zeitpunkt von der Vorherrschaft der

traditionellen Eisenverhüttungsmethode, tatara genannt, ab der Errichtung

des Werkes in Kamaishi von der modernen japanischen Eisen- und Stahlin¬

dustrie. So betrachtet ergibt sich das Bild, als ob der industrielle Aufschwung

Japans einzig und allein erst durch die Einführung europäischer Technologie

in der Meiji-Periode vor sich gegangen wäre, die ganz einfach die traditio¬

nelle Technologie ersetzt hätte. Die folgenden Ausführungen sollen einer Kor¬

rektur dieses Bildes dienen, sind aber zeit- und raumbedingt notwendiger¬

weise gerafft.

Thomas C. Smith schreibt in seinem nun bereits vor 20 Jahren erstmals

erschienenen Werk über den Beginn der Industrialisierung Japans, daß einzig

und allein die großen Han - etwa Satsuma, Chöshü, Saga, Mito, Tosa, die

finanziellen Mittel besaJJen, das Studium der holländischen Bücher voranzu¬

treiben, und das Gelernte auch in die Praxis umzusetzen (Smith 1965:3-7).

Er verweist auf die Errichtung von hansharo /Flammöfen in Saga, Satsuma,

Mito und in Nirayama. Durch den Fortschritt der Forschung können wir heute

diese Liste um eine Reihe von Stätten verlängern und müssen gleichzeitig

Smith's Bild korrigieren.

Was macht den Flammofen überhaupt so bedeutend für die Untersuchung

der japanischen Wirtschaftsgeschichte, insbesondere für die Frage der In¬

dustriellen Revolution Japans?

Bis in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts stellte man in Japan Geschütze

nur aus Kupfer her. Die traditionelle japanische Eisenverhüttungsmethode er¬

gab durch den Vorgang der direkten Reduktion des in Japan an vielen Orten,

vor allem konzentriert im Chügoku-Gebiet, vorhandenen Sandeisens mit Holz¬

kohle sofort schmiedbaren Stahl, war aber nicht so ohne weiteres für den Guß

brauchbar. Man behalf sich, solange es ging, indem man Kanonen aus Kupfer

goß. Nur ging es bald nicht mehr !

Für die Holländer war Kupfer die Ware, die sie in Japsin erwerben wollten,

nicht aber, um das Kupfer nach Europa zu bringen, sondern um es in China,

vor allem aber in Indien gegen dortige Waren (vor allem Seide) einzutauschen.

Die Kupferausfuhr Japans sank aufgrund oftmaliger Beschränkungen zwischen

1720 und 1850 auf etwa die Hälfte - Grund dafür sind wirtschaftspolitische

und technische Mängel, die eine größere Ausbeute unmöglich machten - , im

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