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Ästhetische Eigenzeiten

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Academic year: 2022

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Band 14

(2)

Ästhetische Eigenzeiten

Bilanz der ersten Projektphase

Herausgegeben von

Michael Bies und Michael Gamper

WehrhahnVerlag

(3)

Gedruckt mitfreundlicher Unterstützungder DeutschenForschungsgemeinschaft

SPP 1688

DFG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek DieDeutsche Nationalbibliothekverzeichnet diesePublikationinder Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sindim

Internet über<http://dnb.ddb.de> abrufbar.

1.Auflage2019 WehrhahnVerlag www.wehrhahn—verlag.de Layout:WehrhahnVerlag Umschlagestaltung: WehrhahnVerlag Druck undBindung: Sowa, Piaseczno

Alle Rechte vorbehalten

lnflfi . _ ' Printedin Europe

wma—g Gomnm‚

@byWehrhahnVerlag,Hannover

. - '8'Uf- undKultur- ISBN 978—3—86525—708-6

WW.

Unlvmnm Bonn

(4)

MichaelBies, Michael Camper Einleitung

Stefan Geyer, JohannesF. Lehmann

Aktualität. Zur Geschichte literarischer Gegenwartsbezüge und zur Verzeitlichung der Gegenwart um 1800

Boris Roman Gibhardt, Johannes Grave, Frida-Marie Grigull, Reinhard Wegner

BildBlick—-Zeit. Die rezeptionsästhetische Temporalitätdes Bildes Michael Ostheimer

Chronotopographie derDDR—Literatur

Lisa Bergelt, Michael Gamper, Peter Schnyder, MarkusWessels Dramatische Eigenzeitendes Politischen

Filippo Carlä-Uhink, FlorianFreitag, Sabrina Mittermeier, Ariane Schwarz

»HereYou Leave Today«. Ästhetische Eigenzeiten in Themenparks

33

57

89

109

133

Reinhold Görling, Barbara Gronau, Ludger Schwarte, Mirjam Lewandowsky Stillstand.Szenen derStasis und Latenz

Gabriele Brandstetter,Kai vanEikels, Anne Schuh Synchronisierung körperlicher Eigenzeiten und choreographische Ästhetik

155

179

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Caroline Forscht, Ethel Matala deMazza, Stefanie Retzlaff SzenariendesKurzweiligen. Zeitökonomien im populären Theaterdes 19.Jahrhunderts

Sebastian Giacovelli,Andreas Langenohl

Temporalitäten der Ökonomik. Die Modellform ökonomischer Theorie Lena Kugler

Die (Tiefen-)Zeit der Tiere. Zur Biodiversität modernen Zeitwissens Dominik Schrage, Holger Schwetter, Anne-Kathrin Hoklas

»Time Has ComeToday«. Die Eigenzeiten popmusikalischer Chronotopoi und ihr Beitrag zur temporalen Differenzierung von Lebensweltenseitden 1960er Jahren

Sabine Zubarik

Von der Ungleichzeitigkeitdes Gleichzeitigen. Synchronizität, Simultanität und Superposition im zeitgenössischen Roman und Film HannaHamel,EvaHorn, Solvejg Nitzke

Die ZeitdesKlimas.ZurVerzeitlichung vonNaturin der literarischen Moderne

Eva Axer, EvaGeulen, Alexandra Heimes

Zeit und Form im Wandel. Goethes Morphologie und ihr Nachleben im 20. Jahrhundert

Mitglieder der ersten Projektphasedes SPP 1688 »ÄsthetischeEigenzeiten«

201

225

241

259

283

301

325

345

(6)

Aktualität

Zur

Geschichte

literarischer

Gegenwartsbezüge

und zur Verzeitlichung

der Gegenwart

um 1800

I. Einleitungin die

Geschichte des

Begriffs >Gegenwart<

Normalerweise besteht die Herausforderung der kulturwissenschaftlichen Arbeit gerade darin, sich der Alterität einer historischen Situation zu stellen.

Man mussalso versuchen,sich mit den Bedingungen der Möglichkeit seines eigenen Denkens einem Paradigmazu nähern,das nach ganz anderen Grund- lagen und Gesetzen funktioniert. Bei einem Übergang an der sogenannten Modernitätsschwelleist das Problem anders gelagert: Das Ergebnis der Ent- wicklungisttheoretisch bekannt alsAusgangssituation der Betrachtung. Man muss sich vielmehr in eine vorgängigeAlterität hineindenken und die Frage stellen,wie Menschen ohne einen Zeitbegriff von Gegenwart denken. Nur mit einer solchen Gegenprobe kann überhaupt klar werden, warum erst im 18. Jahrhundert der Bedarfeines zeitlichen Gegenwartsbegriffs entsteht und was dieses neue Konzept leisten kann.So verwies etwa Heiner Müller gerne da- rauf, dass der Untergang der spanischen Armada 1588, unbestritten das wich- tigste Ereignis der Epoche, in keinem Drama des Elisabethanischen Zeitalters verarbeitetwurde.1 Und diese literarische Gegenwartsabstinenz findet sich bis weit hineinins 18.Jahrhundert.

ZentralesZiel des Projektes war die Erforschung der diskursivenProzesse der Verzeitlichung von >Gegenwart<zwischen 1770 und 1830 und ihrer Re- levanz für literarische Gegenwartsbezüge. Es ging einerseits um die sozialge- schichtliche und diskurshistorischeFrage nach den Veränderungen temporaler Bezugssysteme sowie andererseits um dieFrage nach den literaturhistorischen Konsequenzen für Poetologie undPraxis desSchreibens. Die zugrundeliegende These lautete, dass sich Gegenwart in einem zeitlichen Sinn erst Ende des 18.Jahrhunderts alsMedium gesellschaftlicherReflexion etabliert, aber auch in Form einer interventionistischen Aktualität historisch produktiv wird. Diekri-

1 Vgl. Hans-Thies Lehmann: DaspostdramatischeTheater, Frankfurta.M. 1999, 346f.

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34 Stefan Geyer,JohannesF.Lehmann

tische Selbstreflexion, die im Akt der Gegenwartssetzungunerlässlich wirdder Betrachtermuss sich als Betrachtetessetzen —, isteine grundlegende Operation der Moderne, diebisheuteTeilhistorisierender Denkprozessegeblieben ist.

Am Anfang steht ein begrifisgeschichtlicher Befund. Bisin die Mitte des 18.Jahrhunderts wird der Begriff>Gegenwart<rein räumlich gebraucht. In Jo- hann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon (1731—1754) wird >Gegenwart<defi- niertalsdie »Relation, da eineSache mit der andernsozugleich existiret, daßsie sich mit ihrem Wesenbeyderselben entweder nahe oder nicht nahebefindet.«2 Gegenwartisthier einBegriff,derdasBeziehungsverhältnisverschiedener Kör- per im Raum zueinander beschreibt. Gottes Gegenwart wird außerdemals>All- gegenwart< beschrieben,weil sein unendliches Wesen eine distinkteNah—oder Fernrelation verunmöglicht. Dennoch ist Gottinallen Wesen der Schöpfung präsent und macht sodurch die Dimension seinesWesens ein Nebeneinander der Menschen überhaupt erst möglich. In Adelungs Wörterbuch (1774—1786) werden, über bloße Anwesenheit hinaus, gerade auch Präsenzeffekte hervor- gehoben: »Der Zustand, da man durch seine eigene Substanz ohne mora- lische Mittelursachen‚ ja ohnealleWerkzeuge an einem Orte wirken kann, die Anwesenheit.«3 Hier gehtes nicht mehr bloß umdas Nebeneinander, sondern um die gegenseitige Einwirkung aufeinander in einem Wechselverhältnis.“

Obwohl man im letzten Dritteldes 18.Jahrhunderts bereits Verwendungs- weisen eines temporalen Gebrauchsdes Substantivs>Gegenwart<finden kann,

2 Johann Heinrich Zedler(Hrsg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissen- schaften und Künste, Halle/Leipzig 1735, Bd. 10, 594. AufdieNotwendigkeit,den Begriffder>Gegenwart< zu historisieren, hatzuerst hingewiesen: Ingrid 0esrerle: Der Führungswechsel der Zeithorizontein der deutschenLiteratur. Korrespondenzen aus Paris,der Hauptstadt derMenschheitsgeschichte, unddieAusbildung dergeschicht- lichen Zeit>Gegenwart<,in:Dirk Grathoif(Hrsg.): StudienzurÄsthetik und Literatur- geschichte der Kunstperiode,Frankfurta.M. 1985, 11—76; dies.:»Es ist anderZeit«, in: Walter Hinderer,Alexander vonBormann, Gerhartvon Graevenitz (Hrsg.): Goethe unddasZeitalter der Romantik, Würzburg2002,91—121.

3 Johann Christoph Adelung (Hrsg.): Versuch eines vollständigen grammatisch-kri—

tischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, Leipzig 1775, Bd. 2, 483.Das Lemma wird im exakten Wortlautinderzweiten Auflage (Leipzig 1793—1801), Bd. 2 (1796) sowie inder WienerAusgabe (181 ]) wiederholt.

4 GegenwartalsWirkungsmachtzu beschreiben, folgtder mittelhochdeutschenVerwen- dungdes Wortes, wobei dasWort hier ursprünglichim juristischen Diskurs gebraucht wurde undauch dieMachtpotenz(selbst inkörperlicherAbwesenheit) des Souveräns beschreiben konnte.Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch,Bd.

5, Sp. 2281. Zitiert nach der Online—Ausgabe:http://woerterbuchneu.de/cgi-bin/

WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GG0461I#XGG04611 [konsultiertam31.1.2018].

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sinddiese noch nicht in den Wörterbüchern kodifiziert. Erst in CampesWör—

terbuch 1808 wird dann die zeitliche Bedeutung genannt: »vondergegenwär- tigen zeit«.5

Eine Begriffsgeschichte der >Gegenwart< hat sich besonders zwei Fragen zu stellen, nämlich erstens: Welche gesellschaftlicheVeränderung macht diese NeusemantisierungeinesaltenBegriffs nötig? Undzweitens: Welcher Kern und welches metaphorische Potenzial qualifizieren den Gegenwartsbegriff dafür, die neue Bedeutung zu repräsentieren? Der Gegenwartsbegriffist gerade deshalb ambivalent,weil er sichpalimpsestartig mit neuen semantischen Schichten an- gereichert hat, anstatt alte nur abzulegen. Die präsentische Wirkung von Ge- genwart jedenfalls taucht im Konstrukt einer>historischen Gegenwart< wieder auf. Die historische Gegenwart setzt eine Ko-Präsenz verschiedener Zeitgenos- senvoraus, die durch die Bedingungen ihrer Zeit in einem Gefüge (temporaler) Möglichkeiten stehen.

Betrachtet man >Gegenwart< aus dieser semantischen Tradition, so wird klar, dass der Begriff schon vor der Verzeitlichung seine Bedeutung nur im übertragenen Sinn entfaltet. Die Begriffsgeschichtedes Zeitbegriffs>Gegen- wart< lässt sich nur verstehen, wenn wir auch deren metaphorisches Potenzial berücksichtigen. So taucht zum Beispiel die Präsenzals Gleichzeitigkeitver- schiedener Menschen, aber auch die ursprüngliche Wortbedeutung des Ge- geneinander Kehrens<°in temporalisierter FormalsUmschlagspunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft wiederauf.

Ausdieser Problemstellung ergebensich drei zentrale Fragen, die auch die Gliederung der folgenden Ausführungen bestimmen. Erstens fragtdas Projekt nach Kontexten der Transformation um 1800selbst, ausgehend von dem hier zudatierenden begriffsgeschichtlichenBefund einer Verzeitlichung derGegen- warn. Zweitens fragtdas Projekt nach der Vorgeschichte dieser Verzeitlichung beziehungsweisenach derRolle einer Zeit der Gegenwart vorder sogenannten Sattelzeit und damit nach der Validität dieser Moderneschwelleselbst. Drittens gehtes zumindest in einigen Ansätzen auch um die Entwicklung nach 1800 undbisin unsere Gegenwart hinein.

5 ]oachim Heinrich Campe(Hrsg.): Wörterbuch der deutschenSprache, F—K,Braun- schweig 1808, 265.

6 Grimm(Anm. 4), Sp.2281.

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36 Stefan Geyer.JohannesF.Lehmann

II.

Gegenwart

um 1800

Die längeren Enrwicklungslinien, die in Hinsicht aufdie Ausprägung eines Aktualitäts—und Gegenwartsbewusstseinsin der Literaturgeschichte untersucht werden sollen, sindTeil einessich in Bearbeitung befindlichen Buchprojekts (Dissertation) mit dem Titel Gleichzeitigkeit undWandel.ZurBegrzfli-undLite- raturgescbicbte der Gegenwartim späten 18.]ahr/7undert.Esgilt dabei die Emer- genz einer Formensprache zu erforschen, die die Optionen einer dezidierten Gegenwartsliteratur entwickelt, dieteilweise bisheute noch abgerufen werden.

Wenn die Arbeit dabei auch die Jahrzehnte vor der französischen Revolution in denBlick nimmt, dann um die Verzeitlichungsprozessenicht aufdiehisto—

rischeZäsur—und Beschleunigungserfahrungseitder Französischen Revolution zu reduzieren,7sondern auch diskurshistorische und begriffsgeschichtlicheBe- fundeseitden 1770er Jahrenzuberücksichtigen.

Begriffsgeschichtlichlässt sich feststellen, dassdie Leistungdesneuenzeit—

lichen Substantivs >Gegenwart<darin besteht, dass der Betrachter sich selbst in derreflexiven Formdes Zeitbezugsals Teileiner wandelbaren Zeit versteht.

Die Gegenwart wird dabei gleichzeitig entwertet als Durchgang zu einer von Fortschrittsoptimismus getragenen offenen Zukunft und aufgewertetals erst—

mals zugänglicher Bereich gesellschaftlicher und individueller Eingriffe. Die Verwendungsweisedes Begriffsin Alltagssprache und Fachdiskursen(vor allem in theologischen und juristischen Zusammenhängen) erlaubt Rückschlüsseauf die metaphorischen Gehaltedes Begriffs. Die GegenwartalsForm historischer Zeit istauch nicht einfachnurdas synchrone Nebeneinander heterogenerEle- mente, sondern ein funktionalesBezugssystem, daseiner Zeit Präsenz verleiht.

Mit dem Unsicherwerden des theologischen Zeitmodells bedarfes neuer lei- tender Diskurse. Neben dem Ordnungssystem der Policey—Wissenschaft, auf

das noch eingegangen wird,istesvorallem die Pädagogik, die die Logik einer emphatischen Gegenwart prägt. In ihr ist der Wandel der GesellschaftAus- gangspunkt der Argumentation: Die Förderung beziehungsweiseVerbesserung des Einzelnen in der Gegenwart

fiir

einebessere Zukunft ist das Ziel. Die Ge- genwart erhält besondere Bedeutung, insofernsieerstens Einwirkungsraumdes Erziehers wird, zweitens Eigenzeitdes Zöglingsist, der geschützt wird vor den

7 Vgl. etwa ReinhartKoselleck:Gibteseine Beschleunigung der Geschichte?, in: ders.:

Zeitschichten. Studienzur Historik, miteinem Beitrag von Hans-GeorgGadamer, Frankfurta.M. 2000,150—177.

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Anforderungen der unmittelbaren Gegenwart, und zuletztals jegegenwärtiger Rahmen erkannt werden muss, um die Bedingungen und Bedürfnisse einer Zeit jeweils neu greifbarzu machen. Der Erziehungsgedanke,wie er im 18.

Jahrhundert formuliert wird, baut maßgeblich aufder Idee auf, dass man als Individuum Wissensbereiche bisheriger Generationen aktualisiert, um eine Entwicklung über den Stand der Gegenwart hinaus vorzunehmen. Jakob Mi- chael Reinhold Lenz bringt das in seinem Drama Der Hofineister (1774) auf den Punkt, wenn er den konservativen Major mit seinem Bruder diskutieren lässt. Ersterer wünschtsich, sein Sohnsolle einmal Soldat werden,»wieichge- wesen bin.«8Der Bruder widerspricht:»DasLetztelassnurweg, lieber Bruder;

unsere Kinder sollen und müssendas nicht werden,waswir waren: die Zeiten ändern sich, Sitten, Umstände,alles«,denn: »[N]ach funfzig Jahren haben wir vielleicht einen andern König und eine andre Art ihm zudienen.«9 Die Kinder müssenalsonicht mehr genaudaswerden,wasdie Eltern waren, und man kann hier wohl ergänzen:Siekönnen esauch nicht mehr.

Johann Karl Wezel, der sowohl eine eigene Anthropologie als auch einen Entwurf für eine Privatschuleverfasste, hat diese Fragen immer wieder insei- nen Texten verhandelt. Nach seinem Programmsolldie Erziehungesdem Zög- ling ermöglichen,sich das unendliche Ursachenarsenal der Kräfte in derNatur nutzbarzu machen. Idealerweise entwickelnsich die unterschiedlichen Kräfte dann in einem harmonischen Maß. Hierlässt sich nun schon eine historische Entwicklung konstatieren, denn nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Epochen können unterschiedliche Vorräte an Kräften mobilisieren:»In wieweit jedes Zeitalterdieses Ideal erreichensoll, hängt vom jedesmaligen gesellschaft- lichen Zustande ab und bey jedem einzelnen Menschen von dem Stande der Gesellschaft,in welchen ihn Geburt oder Wahlversetzen.«lo Der Entwicklungs- stand einer Kultur ist also davon abhängig, wie viele Anlagen der Menschen ausgeprägt werden. Dieser Vorgangist von dem »jedesmaligen«, man könnte ergänzen: vom gegenwärtigen»gesellschaftlichen Zustande« abhängig.

Die Entwicklungdieser Anlagen wird aber auch und gerade im Hinblick auf diesoziale Ordnung problematisch, wenn das Glückdes Einzelnen andas Selbstgefiihl gebunden wird,wie es in der Spätaufklärunggeschieht. Dies wird

8 Jakob Michael Reinhold Lenz:DerHofmeister, in: ders.: WerkeundBriefe, hrsg. von SigridDamm, Frankfurta.M. 1987, Bd. 1,43.

Ebd.

10 JohannKarl Wezel: Schriften zur Pädagogik, in: ders.: Gesamtausgabe in acht Bänden.

Jenaer Ausgabe, hrsg. vonCathrinBlöss,Heidelberg2001,Bd. 7,425.

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38 Stefan Geyer,JohannesF.Lehmann

deutlichin Texten, die darüber nachdenken,wie sich die Definitiondes Glücks als das Fühlen der eigenen Vollkommenheit in der Gegenwartdes Selbstgefiihls

aufdenStaat auswirkt.Peter VillaumesimJahre 1785 publizierte Abhandlung Ob und inwiefern beider Erziehungdie Vollkommenheitdes einzelnen Menschen seinerBrauchbarkeitaufiuopfernsey?zeigt, dassder imSelbstgefiihl fundierte Zu- sammenhang von Glück und Vollkommenheitfiir die Sozialordnung einege- fährliche, weil dynamische Veränderlichkeit bedeutet.ll Denn Menschen, deren Kräfte zugut ausgebildetsind, wollen, um ihrSelbstgefiihl zusteigern,eine ihren Fähigkeitenentsprechende Tätigkeit ausüben und nicht mehr bloß»Rad ineiner Maschine« sein.12Wer vollkommeneKräfte hat,istaber im Geschäftdes Alltags, wodiese Kräfte nicht zum Einsatz kommen, unbrauchbar und unglücklich:»Sie würden zugutseyn, und vorallen Dingensich zugut dünken zuden gemeinen Geschäften, welchen Millionen obliegen müssen, wenn die Bedürfnisse sollen befriedigt werden. Tausende würden sich in den Schrankendes Standes nicht haltenkönnen.«13 So zeigt sichdie anthropologische Gegenwart imSelbstgefiihl (verstandenals dasGlück, dieeigeneVollkommenheitzu fühlen) alsMotorsozia- lerDynamik und insofernalsProblematisierungder historischenGegenwart.14

Die literaturhistorische Analyselässt sich in drei Fragestellungen untertei- len, diejeweils einen Bereich der Gegenwartspoiesis fokussieren: Entwicklung realistischer Schreibweisen, mediale Verfasstheit der Gegenwart und, zuletzt, gezielte Aktualitätsbezüge. RealistischeVerfahrenlassen sich schon da konsta- tieren, wo das Sprechen nicht mehr den Regeln einer Gattung gehorcht und der Blick für bisher unberücksichtigte Bereiche des Lebens geöffnet wird.

Eine kritische Reflexion unkontrollierter Lebensbezüge findet man dagegen bei FriedrichSchiller. Aus einer epistemologischenPerspektive thematisiert er die Unsicherheit der Gegenwart im Geisterseber(1789), indem er die gegen- wärtige Existenz im Bild eines schmalen Bereichs zwischenzwei verhängten Stoffbahnenfasst, diedas Vorherige und das Kommende symbolisieren.” Die

11 Peter Villaume: Ob undin wie fern beider ErziehungdieVollkommenheitdes ein- zelnen Menschenseiner Brauchbarkeitaufzuopfern sey,in: Joachim Heinrich Campe (Hrsg.): Allgemeine Revision des gesammten Schul- undErziehungswesens voneiner Gesellschaft praktischerErzieher,Hamburg1785, Bd. 3, 435—616, hier: 463.

12 Ebd., 525.

13 Ebd., 479.

14 Vgl. hierzu JohannesF. Lehmann:Die Zeit der>Gegenwart< bei Schiller, in: Helmut Hühn, Dirk Oschmann,Peter Schnyder (Hrsg.): Schillers Zeitbegriffe, Hannover2018, 287—303.

15 Friedrich Schiller: DerGeisterseher, in: ders.: Werke undBriefe, hrsg. vonOtto Dann, Frankfurta.M. 2002,Bd. 7,676.

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Zeit der Gegenwart bleibt als einzige für Handeln und Erleben(wie etwadas Gefühl, verstanden als Selbstgegenwart) zugänglich. Diese alleinigeFokussie- rung aufdie Gegenwart ist konsequente Folge einer gesellschaftlichen Zeit- vorstellung, diesich ihrer zentralen Ordnungsmuster beraubt sieht. Allerdings thematisiert Schiller schon die Gefahreneines >Präsentismus<,dersichin einem Jetzt verliert, ohnezuberücksichtigen,dass dasAgieren in der historischen Ge- genwart ständiger Bezugnahmen aufVergangenheit und Zukunft bedarf. Da- mit tritthier die Verzeitlichungals Problemins Blickfeld. Die Gegenwart als Spielraum für menschliches Zukunftshandeln zu öffnen, bietet eben nicht nur Möglichkeiten. Indem sie mit dem Bewusstwerden eigener Kontingenz und einem Zwangzu immer neuen Entscheidungen einhergeht, stellt sieauch er- hebliche Belastungen fürdas Subjektdar.Wenige Jahre später entwickelt Schil- ler dann eine programmatische Abwehrbewegung, diedas Bewusstwerden der Gegenwart systematisiert. Gegen die Einflüsse seiner eigenen Gegenwart müsse sich der Künstler wappnen, so heißt es in Über dieästhetische Erziehungdes Menschen (1793): »Den Stoffzwarwird er von der Gegenwart nehmen, aber die Form von einer edleren Zeit,jajenseitsallerZeit, von der absoluten unwandel- baren Einheitseines Wesens entlehnen.«"’

Mediale Bedingungen wirkenaufdie Bedeutungskonstruktion literarischer Formen ein. Natürlich können die Beschleunigungserfahrung der Zeit und die Globalisierung des Perspektivrahmens nicht ohne die Mediengeschichte der Zeitung verstanden werden. PublizistischesSchreiben wirkt dann auchauflite- rarisches Schreiben zurück und beeinflusst dessen Formen. Aber auch andere mediale Formen bieten formale Ausdrucksformen für Gegenwärtigkeit. Briefe zumBeispiel etablierensich im18.Jahrhundert alsAusdruck emotionaler und personenbezogener Situiertheit, wie nicht zuletzt Goethes Roman DieLeiden desjungen W/erthers (1774) vorführt. Das Theater positioniert sich dagegenals Verarbeitungsort aktuellen Geschehens und istein in seiner Performativitätper

sean den gegenwärtigen Moment der Aufführung gebundenes Medium. Nicht zuletzt deshalb entwirftLouis—SébastienMercier seine Thesen über die Zeit an- hand der eigenen Dramenpoetik. Soschreibt er in seinem NeuenVersuch über dieSchauspielkunst (l776):

16 Friedrich Schiller: Überdie ästhetische Erziehungdes Menschenin einerReihe von Briefen.Mit den AugustenburgerBriefen, hrsg. von KlausL.Berghahn, Stuttgart 2013, 34.

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40 Stefan Geyer,JohannesF.Lehmann

Ich will schlechterdings erkennen können,in welchem Jahrer sein Werk verfertigt hat [...], so will ich,daßder Autorzwar die ganze Reihe vonJahrhundertenvor Augen habe, aberdennochdas Interesse des Augenblicks, in dem er schreibt, nichtausderAcht

lasse; ich willeinenWiederschein von den Geschäften,die die Nationin Bewegung setzen, beyihm entdecken;ich willeinen Mann hören, der mit demwasum ihn herum vorgeht,bekannt, undinjenen weitaussehendenund sonderbarenOperationen,woran ganzEuropaTheilnimmt,in jenen verwickelten Unternehmungen,die jederheutzuta- ge wissenmuß, nicht unerfahren ist.„

In dem Moment, in dem die alten Stoffquellen, vor allem die griechische und römische Antike, fiir die Entwicklungen der Zeit keine adäquaten Erklärungs- modelle mehr liefern,muss der Dichter sich nach neuenStoffen umsehen.Es wird also zur Aufgabe der Literatur, die Zeichen ihrer Zeitzu lesen und sich ein Bild von der jeweiligen Gegenwart zu machen. Dass diese Beschäftigung zwangsläufigpolitisch wird,zeigt sich ebenfalls schonbei Mercier.

Aktualitätsbezüge können einenKreis gleichgesinnterLeser bilden. Expli- zite Aktualität herzustellen kann eineLeser— undAutorschaft synchronisieren, die Textwelten mit erlebten Realitäten abgleichen oder kohärente Weltmodelle entwickeln. Weiterhin können Aktualitätsbezüge Ausdruck politischerAusei—

nandersetzungen sein (so zum Beispiel die unterschiedlichen Deutungen der Hinrichtung Ludwigs XVI., die unmittelbar nachdessen Todin Dramenform erschienensind)18oder einer historischen Entwicklung Rechnung tragen. Über Aktualitätsbeziige werden nicht nurAuseinandersetzungen ausgetragen,viel- mehr wird durchsie iiberhaupt erst ein anschlussfähigesBild einer Gegenwart entworfen und in Aushandlungsprozesse eingespeist.

17 Louis-Sebastian Mercier: NeuerVersuch überdie Schauspielkunst, aus demFranzö- sischen mit einem AnhangausGoethesBrieftasche. Faksimiledruck nach derAusgabe von 1776, mit einem Nachwortvon Peter Pfaff,Heidelberg1967, 199f.

18 Vgl.ErnstCarl Ludwig Ysenburg von Buri: LudwigCapet oder derKönigsmord. Ein bürgerliches Trauerspiel in vier Aufzügen, [Erscheinungsortnichtermittelbar] 1794;

Franz Hochkirch:Kapet oder derTod Ludwigs XVI., Frankfurt1794. Vgl. dazu Ale- xander Kling: Die Französische Revolution »alsbloßes Schauspiel betrachtet« (Wie- land). Zur Inszenierungdes Königs inderzeitgenössischen Berichterstattungundden Revolutionsdramenvon FranzHochkirch und ErnstCarl Ludwig Ysenburg von Buri, in: Friederike Felicitas Günther, Markus Hien (Hrsg.): Geschichte in Geschichten, Würzburg 2016,77—111.

(14)

III.

Gegenwart

vor 1800

Gerade die neuere Forschung zur Frühneuzeit plädiert füreine Relativierungder Modernitätsschwelleum1800.Achim Landwehr etwa beschreibtinseinemBuch Geburt derGegenwart eine erhöhte Sensibilität für Phänomene des Umbruchs und des Neuen im 17.Jahrhundert. Belegt werdendiese mentalitätsgeschicht- lichen Veränderungen vorallem durch neu aufkommende Medienwie Zeitun—

gen und Kalender.19 Literaturhistorisch sieht man sich zudem mit einzelnen Beispielen konfrontiert, die besondere Aktualitätin ihrenStoffen aufweisen, wie Gryphius’ Carolus Stuardus oder GrimmelshausensSimplieissimusTeut‘se/7. Bewei—

sen diese Texte nicht schon einreflektiertes Gegenwartsbewusstsein?Hier istes allerdings wichtig,eine DifferenzierungdesGegenwartsbegriffsvorzunehmen.

NorbertElias fasstdie Einteilung der Zeit in die Dimensionen Vergangen- heit Gegenwart Zukunft als eine spezifische Bezugnahme, die andersals die Begriffe >Vorher< oder >Nachher< das Subjekt derAussage immer mit ein—

bezieht. Das zeitliche Substantiv>Gegenwart<impliziert,dass »die Menschen, aufdie sich diese Begriffe beziehen und deren Erfahrung sie zum Ausdruck bringen, ständig im Wandel begriffen sind, und daß der Bezug aufMenschen, aufihre Erfahrung,in die Bedeutung dieserBegriffe eingeht.«20Diese Formdes Selbstbaugs hat vor allem die Konsequenz, die eigene Gegenwartalsdifferent zuallen vorherigen, aber auch alsjederzeit veränderbar und in veränderte zu- künftige Gegenwarten überführbar zu betrachten. Die von Achim Landwehr nachgewieseneAufwertungder Gegenwart im 17. Jahrhundert ist allerdings nicht mit ihrer Verzeitlichung um 1800 gleichzusetzen. Gegenwartsbezüge,wie sie im Zeitungsdiskurs im 17. Jahrhundert vorkommen und auch gefordert werden, bemühen sich um »frische Exempel« ausdem»itzigen Seculo«, berüh- ren abernuram Rande die grundsätzliche Veränderbarkeit der sozialpolitischen Struktur.21 Über Gegenwart im Sinne der jetzigen Verhältnissezu reden,ist bis weit hinein ins 18.Jahrhundert verboten oder mindestens ungehörig. Thomas Abbt etwa formuliertimJahr 1762in seinem Buch Vom

deefiir

dasVaterland

lakonisch:

19 Vgl. Achim Landwehr: Geburt derGegenwart. Eine Geschichteder Zeitim 17.Jahr- hundert, Frankfurta.M. 2004,154.

20 Norbert Elias: Überdie Zeit. Arbeiten zurWissenssoziologie II, hrsg. von Michael Schröter, Frankfurta.M. 1988, 47.

21 Vgl. hierzu: InternationalesArchiv zurSozialgeschichte der Literatur42/1 (2017), Schwerpunkt: >Gegenwart< im 17.Jahrhundert?,hrsg. von Stefan Geyer und Johannes

F.Lehmann,110—278.

(15)

42 Stefan Geyer.JohannesF.Lehmann

Ich weisnicht,ob man hier erwartet, daßich jetzt dieAnwendungaufunsren Staat,auf dengegenwärtigen Zeitpunkt, machenwerde [...]. Aber ich weis,daßmanesvergebens erwartet. DerSchriftsteller, der aus eigenem Antriebschreibt, hatgewisseSchranken, überdie ernicht hinausgehendarf?2

Reden über Gegenwart und auch über Literatur der Gegenwart bleibt bis ins 19.Jahrhundert hinein ein von der Zensur und den Regierungen argwöhnisch beobachtetes und verbotenesReden.23 Es istdemgegenüber diePolicey,der im 18.Jahrhundert die Aufgabe zugesprochen wird, die Gegenwart im Sinne ei- nes Zusammenhangs von Zuständen und Verhältnissen zu beobachten (und zuthematisieren), und zwar im Hinblick aufihreVeränderbarkeit.24 Es ist der Blick der Macht, der die Gegenwartalseinen Zusammenhang verschiedenster gleichzeitiger, sichtemporal verschiebender Verhältnisseallererst konstituiert.25 Was bei >Gegenwartsliteratur< aufdem Spiel steht, ist also der Kampf um die Deutungsmacht in Bezug aufsich ereignendes Geschehen. Dabei wird Ge- schichteinder Moderne zunehmend alsunübersichtlicher Akteur wahrgenom- men, weshalb eine möglichst zeitnahe, textuelle Sortierung unerlässlich wird.

Die Gegenüberstellung von Eberhard Werner Happels Geschickt-Romanen (1685—1690) und Johann Wolfgang von Goethes Unterhaltungendeutscher Ausgewanderten (1795) erlaubt den Blick aufdie sich wandelnde literarische Verarbeitungdes Unerwartbaren.26 Die Fokussierungaufdas Phänomen des

>Neuen< ist insofern relevant,als es klar im semantischen Feld der Gegenwart vorzufindenist, allerdingsselbst einen Wandel von derFrage des Interesses hin zu einem zeitlichen Verständnis der Gegenwartfiguriert.27Happels Projekt der Geschickt-Romane, eine Publikationsform, die jährlich aktuelleEreignisse und spezifische Kulturräume Europas in einer topischen Geschichte verarbeitet,ist

22 Thomas Abbt: Vom TodeFürdas Vaterland, Berlin/Stettin1770, 90.

23 Vgl.JohannesF. Lehmann:>LiteraturderGegenwart< als politisches Drama der Öf- fentlichkeit. DerFallRobert Prutz undseine Voraussetzungen im 18.Jahrhundert,in:

Michael Gamper,Peter Schnyder (Hrsg.): DramatischeEigenzeiten des Politischen um 1800, Hannover 2017,191—214.

24 Vgl. Joseph Vogl: Staatsbegehren. ZurEpoche der Policey, in: DeutscheVierteljahrs- schriftFürLiteraturwissenschaft undGeistesgeschichte 74(2000),600—626.

25 Vgl. zu dieser These ausführlich Lehmann, Literatur derGegenwart< (Anm. 24).

26 Vgl. Stefan Geyer: Einbruch derZeit. Neuheitenim Geschickt-Roman Happels undin GoethesUnterbaltungen deutscher Ausgewandertm, in:InternationalesArchiv zurSozial—

geschichteder Literatur42/1 (2017),214—234.

27 Vgl.Hans RobertJauß: Literarische Tradition undgegenwärtiges Bewußtsein derM0—

dernität,in: ders.: Literaturgeschichteals Provokation, Frankfurta.M. 1970, 11—67, hier: 35.

(16)

dabei durchaus alsinnovative Form anzusehen, die den Bedürfnissendes Me- dien- und Informationszeitalters Endedes 17.Jahrhunderts Rechnung tragen soll.Goethe greift dagegen die Gattungstradition der romanischen Novelleauf, umgeht dabei kunstvolldas Aktualitätsverzichtsgebot vonSchillers Horen und macht in seiner Serienbildung und im Aufbruch der Reihung von Rahmen- handlung und Binnenerzählung die Zäsur der französischen Revolution und der Befreiungskriegezum eigentlichen Kernseines Textes. Die Novellen haben einezweifache Leistung zu erbringen, nämlich Unterhaltung im Sinnedes de- lectare, aber auch Unterhaltung alsAufrechterhalten einer sozialen Ordnung.

Über ihre eigenenSujetshinaus werden die einzelnen Erzählungen durch einen komplizierten Einsatz brüchiger Rahmengrenzen immer wiederaufdas Unaus—

sprechliche unddas über die Literatur Hinausweisende bezogen.Esscheint mit Goethe der Punkt erreicht, an dem manTextenicht mehrverfassen kann, ohne die eigene historische Gegenwartzureflektieren.

Das Neue der Romane Happels ist nicht an seiner zeitlichen Nähe zum erzählten Inhaltzuprüfen, sonderneswirdzueiner rezeptionsabhängigenGrö—

ße. Letztlich gehtes darum, Interessantes für den Leser zu kreieren,das durch Überschreiten seines Erfahrungsraums einen intersubjektiven Erfahrungsbe- reich schafft. Deshansind auch die populären SchreibverfahrendesErfolgsau- tors relevant, um eine geeignete LesergruppealsGegenüber im politisch-litera- rischen Austauschzubilden. Die literarischeTechnik erschafftsich sogleichsam durch ihr Material ein Publikum, das mehr desselben konsumieren möchte.

Obwohl die Figuren in den Unterbaltungen auch eine Definition der psycho- logischen Neuigkeit bieten, wird hierdas >Neue<alsein Phänomen verhandelt, das sich nicht in ein bestehendesSystem einordnen lässt, sondern vielmehr die Grundlage jeglicher Operationen im System verändern wird. Für die Figuren reicht es deshalb nicht mehr aus, die Revolution als Ereignis anzuerkennen, siemüssen zugleich auch nach dem Funktionieren jeglicher Systeme nach der Revolutionfragen.

(17)

44 Stefan Geyer.JohannesF.Lehmann

IV.

Gegenwart nach

1800

Wie sich dieser Begriff von Gegenwart als Problem der Literaturgeschichts- schreibung und einer Politik der Öffentlichkeit manifestiert,zeigtexemplarisch das Verbot der ersten Vorlesung über die deutsche >Literatur der Gegenwart<, die Robert Eduard Prutz im Januar 1847in Berlin gehalten hat. Das Verbot dieser ersten öffentlichen Vorlesung über Gegenwartsliteratur durch den Kö- nigistlehrreich nicht nur im Hinblick aufdie Geschichte der Zensur und die Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung, sondern auch im Hinblick dar- auf, wie mit Bildern der Gegenwart selbst Politik gemacht werden kann. Prutz inszeniert das Verbot seiner Vorlesungals einen Fall seiner Gegenwart, inso- fern er sowohl seine eigene Korrespondenzalsauch sämtliche Dokumente und Schreibendes Ministeriums im Zusammenhang mit dem Vorlesungsverbot in der Buchpublikation der Vorlesungen abdruckt:

Was im Jahre 1847, nach einem zweiunddreißigjährigenFrieden, unter derRegierung Friedrich WilhelmsIV., wenige Wochen vorZusammenberufungdes ersten vereinigten Landtags, zu sagenverbotenwar nun gut, wennmeine Vorlesungen weiter keinen Werth haben,sokönnensie einem späteren undhoffentlich glücklicheren Geschlechte dochwenigstens dafüralsZeugnißdienen.28

Welche Stimmen laut werden und welche nicht, in welcher Weise und mit welchen Inhalten, das ist, so führt es Prutz gewissermaßen am eigenen Leibe und am eigenen Textvor, abhängig von den politischen Bedingungen derje- weiligen Gegenwart. Die schriftlichen Vorlesungen, die nur gedruckt existie—

ren als Effekt einer verbotenen mündlichen Rede, werden als Ereignis einer geschichtlich-politisch fundierten Gegenwart reflektiert. >Gegenwart< ist der jeweilige Ist-Zustand von möglichen Sprechaktensowie lautwerdenden Stim- men, und Politikist die (institutionelle) Organisation und Produktion dieser

>Gegenwart<.Insofern betreibt Prutz mit seinen Vorlesungen über Literatur der Gegenwart und der Dokumentation ihres Verbotesselbst Politik. Zeugnisse der jeweiligen Gegenwart, seien es literarische oder nicht-literarische,als ihre Symptome zu verstehen, war die Grundlage fürPrutz’ Vorlesung.Es sollte und genaudas war Prutz bereits im Vorfeld der Genehmigung der Vorlesung verboten worden weniger um Literatur alsum Geschichte gehen,das heißt um den Zusammenhang zwischen den öffentlichen Zuständen und den litera- rischen Produktionen alsKritik der Gegenwart.

28 Robert Eduard Prutz: Vorlesungen über deutsche Literatur derGegenwart, Leipzig 1847, XI.

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Vor diesem Hintergrund hatte Prutz bereitssein Buch Diepolitische Poesie derDeutschen angelegt, eine Literaturgeschichte, die im Grunde eine Geschich- teliterarischer Gegenwartsbezüge darstellt, da>Politik< für Prutz immer Bezug—

nahmeaufdie »öffentlichen Zuständ[e] der Gegenwart«ist.29Während Prutz aufdiese, letztlich hegelianischeWeise den Begriffder Gegenwart voraussetzt, wie er um 1800 entstanden ist, und vor diesem Hintergrund die deutsche Li- teraturgeschichte daraufhin durchmustert, ob und wie die Autoren sich zur Gegenwart geäußert haben, fragen wir nach der Historizität des Begriffs der Gegenwartselbst und nach einer Geschichte literarischerAktualität.30

>Aktualität< lässt sich zum einen als zeitlicher Geltungsbegriff verstehen, der besagt,was etwa im Hinblick aufGesetze oder Regelungenaktuell gültigist, wie etwa die aktuelle Rechtsprechung zu einem bestimmten Thema oder die aktuelle Studienordnung. Neben diesem temporaljuristischen Aspekt hat der Begriffseit ungefähr 120Jahren einen temporalpublizistischen Aspekt, insofern>Aktualität<im Hinblickaufdie Neuheit der Nachricht und den mög- lichst minimalen Abstand zwischen Ereignis und Nachricht gebraucht wird.

Der Jurist und Journalist Emil Löbl, der den Begriffin seinem Buch Kultur und Presse aus dem Jahr 1903 erstmalsalszentrales Kriterium der Zeitung geltend macht, beziehtsich dabei aufPrutz und dessen Buch Geschichte des deutschen journalismus von 1845 und betont mit ihm die »zeitliche Eigenschaft« der Zeitung,3 nämlichdas Moment der Zeitnähe von Ereignis und Information.

Prutzselbst sprach vom »Moment der Gleichzeitigkeit oder doch wenigstens der Annäherung an dieGleichzeitigkeit«.32 Aktuellisthierdas, wasjetzt gerade passiert,was neu ist und als dieses berichtete Neue zugleich weiteres Neues anstoßen wird: Aufmerksamkeit, Verkaufszahlen,Tendenzenetc. Es berichtet nicht nur Gegenwart,eswirkt auchaufdie Gegenwart.

Wenn >Literatur<nun freiwillig oder gezwungenermaßen aufAktualität bezogensein soll, fragtsich, welche Aspektedes Aktualitätsbegriffs sich da-

29 Robert EduardPrutz: Politische Poesieder Deutschen,Leipzig 1845, 280.

30 Vgl. hierzu den Band, der die Abschlusstagung des Projekts dokumentiert:Stefan Geyer,JohannesF. Lehmann(Hrsg.): Aktualität. Zur Geschichteliterarischer Gegen- wartsbezüge vom 17. bis zum 21.Jahrhundert, Hannover 2018.

31 Emil Löbl: Kultur undPresse, Leipzig 1903, 18. Als zentrale Eigenschaft der Zeitun- gendefiniertLöbl im vierten Punkt: »dieAktualität. Nurdiejenige Druckschrift kann Zeitung genanntwerden, die ihrem wesentlichen Inhaltenach in der unmittelbaren Gegenwartwurzelt, Ereignisseoder Zustände der Gegenwartbehandelt, mit ihrerPro- paganda vonMeinungen undTendenzen aufdieGegenwartwirken will.« Ebd., 19—21.

32 Robert EduardPrutz: Geschichte desdeutschenJournalismus,Hannover1845, 201.

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bei geltend machen. Wie komplex diese Bezugnahmeist, zeigt bereits einText aus der Zeit des Ersten Weltkriegs von Hans Natonek: Der Dichterunddie Aktualität.Alljene Dichter, die meinen, über den aktuellenKrieg Versedichten zu müssen, um Emotionen aufzustacheln,wie es einst die Funktion derTexte vonKleist oder Arndt gewesen sei,sind nach Natonek unzeitgemäß, da»dieser Krieg nicht mit Haßgekämthund gewonnen wird, sondern mit Schrapnells, Minen, Unterseebooten undStickgasen«. Weiterhingilt:»Kunst und Aktualität sind unvereinbar. Ihre Begegnung und Vereinigung gibt immer eine unreine Mißehe. Die Kunst hat erst zu erscheinen, wenn die Aktualität bereits abgetre- tenist.«33

Die Opposition von Kunst und Aktualität, die Natonek einerseits stark herausarbeitet, wird andererseits durch die Aktualität des Krieges zugleichun—

terminiert. In Form von Schrapnellen undStickgasen herrschtzwareine Aktua- lität, deren chaotische und konglomeratische Wirklichkeit gerade den Künstler

»schaudern« lässt, nurmacht ersich alsVertriebeneraus seinem Paradies der Zeitlosigkeit lächerlich, wenn er nun Verse über den Krieg schreibt. Er macht sichaber auch lächerlich, wenner alsfanatischer Künstler überhaupt nichtge- willt ist, »sichvon jedem Zeitereignis>befruchten< zulassen.«34 Alle Positionen und Oppositionen zwischen Kunst und Aktualität brechen durch die herr- schende Aktualität ein. Angesichts einer sinnlosen Aktualität der Zufälle wird auch die Position der Kunst sinnlos, die mit ihren Sinnentwürfen versucht,sich der Aktualitätzuentziehen. Und ebenfalls sinnlosistdie Positionderer, die,wie hier formuliert wird,»schwitzend« der Aktualität nachlaufen.35 AmSchluss des Textes heißtes:

Die Zeitlosigkeit istverschwundenund der Dichterist beschäftigungslos (oder schreibt, wasschlimmerist, aktuelle Dichtungen).Die Aktualität herrscht,sie, die bescheiden nurnach demBericht verlangt, nach nichtsweiter,und der Journalisterweist sichals

ohnmächtig.Die Aktualität gehört dem Journalisten,aber er verwirkt das Recht auf sie,wenner sichmit breitemRücken vor sie stellt,anstattsichhinter ihrzu verstecken.

Vielleicht sollten die Dichter, woder Journalistversagt, der Aktualität dadurchbesser dienennicht: indemsietunwie dieser, sondern: indemsieden Journalistenvertreiben und der Aktualitätzuihrer unmittelbaren,reinen unverzierten Wirkung verhelfen.”

Aktualität kann und mussso doch zur Orientierungsgröße der Dichter wer- den, aber nicht in den alten Formen der Kunst, in Versen oder Kriegsliedern

33 Hans Natonek: Der Dichter unddieAktualität,in: DieSchaubühne]1/2(1915),6—8.

34 Ebd., 8.

35 Ebd.

36 Ebd.

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ä la Gleim, sondern so, dass die Aktualität selbst zur unmittelbaren Wirkung kommt. So als seidie Aktualität nicht nur da, sondern müsse von der Literatur selbst erst zur>reinen<Wirkung gebracht werden.

Wie Literatur so oder anders auf>Gegenwart< bezogen ist oder bezogen wird, inwiefernsieAktualität reklamiert oder gerade abwehrt, istein Problem, das in der Figurdes Zeitgenossen gegenwärtig starke Aufmerksamkeit erfährt, aber seinerseitsaufdie Moderneschwelle um 1800 zurückführt.

Das Wort>Zeitgenosse<wirdbis ins 18.Jahrhundert hinein ausschließlich zur Herstellung historischer Chronologien gebraucht, nach dem Modell: Xist Zeitgenosse vonY. Die plurale Verwendungdes Wortes erscheint erst imletz- ten Drittel des 18.Jahrhunderts im Zusammenhang der Problematisierungdes hermeneutischen Zeitabstandes im Kontext etwa der Bibelinterpretation eines Johann SalomoSemler. Hier begegnet ein signifikanter Zusammenhang zwi- schen der pluralen Verwendung von die Zeitgenossen< und ihrer >Denkungs- art<. Erst hier wird der ursprünglich ständische Begriff genossenschaftlicher Teilhabe (Amtsgenosse, Bundesgenosseetc.) auf die Zeit< bezogen, an der alle jetzt Lebenden teilhaben, insofern sie jetzt leben. Es handelt sich somit um die Biologisierung einer rechtlichen Zugehörigkeitskategorie, da nicht Stand, Herkommen oder Ausbildung die Zugehörigkeit konstituiert, sondern die bio- logische Tatsachedes gleichzeitigenLebens. Thomas Jefferson unterscheidet in diesem Sinne einfach die Toten und die Lebenden und begreift die Gruppe derjeweils Lebendenalseine Korporation, diedasRecht an die Gegenwart der Lebendenknüpft.37 Durch die Formulierung der biologischenalskorporative Teilhabe erscheint diese nicht nur als determinierende Gegebenheit, sondern alsein Recht, von dem man Gebrauch machen kann oder auch nicht. Zeitge- nosse zu sein istnicht nur biologischesSchicksal (wiedie>Zeitverwandtschaft<), nicht nur die Heteronomie, dass man immer Kind seiner Zeitist (Denkungs- art), sondern zugleich ein Recht oder auch eine Aufgabe, ein im aktiven Sinne Sich-ins—Verhältnis-Setzen.38 Der Zeitgenosseist Genosse seiner Zeit und all

37 Thomas Jefferson: Thomas Jefferson toJohnWayles Eppes, in: ders.: AChronology of HisThoughts,hrsg. von JerryHolmes, Lanham, Md./Boulder, Colo./NewYork2002, 242: »The generations ofmen may be considered asbodies orcorporations.Each gen- erationhasthe usufruct oftheearth duringtheperiod ofitscontinuance.[...]We may considereachgenerationas adistinct nation, witharight, bythewillofits majority, to bindthemselves,but nonetobind thesucceeding generation,morethan the inhabitants of anothercountry. «

38 Vgl. hierzu Johannes F. Lehmann: Gegenwart undModerne. Zum Begriff der Zeitge- nossenschaft undseiner Geschichte, in:Helmut Hühn,Sabine Schneider (Hrsg.): Eigen- Zeiten der Moderne. Regime, Logiken, Strukturen, Hannover2019(im Erscheinen).

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dessen,wasgleichzeitig geschiehtvor allem aber dessen,was gleichzeitig im Hinblickaufdie Zukunft geschiehtund womöglich nochausfernsterVergan- genheitalsGespenst die Gegenwart heimsucht. Wenn um 1800, am Beginn der Moderne, die Zeit der Gegenwartreflexiv wird und sichzugleichalsdie bloße Einheit der Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft wieder entzieht, dann verkörpert der Zeitgenosse eben diese Unterscheidung. Sieunentwegt zu treffen,istihm auferlegtals das doppelteSchicksal, unhintergehbar seiner Zeit gleichzeitigzusein und ihr niemals in vollem Sinne gleichzeitigsein zukönnen.

Gerade diese paradoxale Doppelstellung qualifiziert den Zeitgenossen zurbe- vorzugten Bezugsfigur philosophischerGegenwartsreflexion.39

V. Beispielanalysen

Finanzkrise 1763 unddasDrama DerBankerot vonJohann JacobDusch (1763)(JohannesF.Lehmann)

Dieerste große europäische Finanzkrise ereignetesich im Julides Jahres 1763 und steht im Zusammenhang mit dem Endedes SiebenjährigenKrieges. Auf- grund des Friedensschlusses im Februar 1763 ging der immense Bedarf Preu- Gensan Nahrungsmitteln und anderen Gütern schlagartig zurück. Mit dem dadurch bedingten rasantenVerfall der Korn- und ZuckerpreiseabMärz 1763 erklärtsich, warumdasgroße Bankhaus derNeufville->Brothers<in Amsterdam, das in diesem Kontext mit Hochrisikospekulationen zunächst große Profitege- macht hatte, am 29. Juli 1763 bankrottging und viele andere Handels- und Bankhäuser mitsichin die Pleitezog.Allein in der Stadt Hamburg, über die die Holländer ihre Geschäfte mitBerlin abzuwickeln pflegten, gingen95 Handels- häuser pleite, ebenso fallierten Handelshäuser inBerlin undbisnach Schweden.

Im Oktoberdesgleichen Jahres erschien beim HamburgerVerlagDieterich Anton Harmsen das bürgerliche Trauerspiel Der Bankerot von Johann Jacob Busch. In diesem Drama geht es um einen ehrlichen Kaufmann, der durch den Bankrott eines holländischen Handelshauses namens Harlem oder Dalem

39 Vgl. Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historiefür das Leben, in:

ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15Einzelbänden,hrsg. vonGior- gio Colli undMazzino Montinari, München/Berlin/NewYork 1988, Bd. 1,243—335;

Giorgio Agamben: Was ist Zeitgenossenschaft?‚ in: ders.: Nacktheiten,übers. von An- dreas Hiepko, Frankfurt a.M. 2010,21—36; Sandro Zanetti:Poetische Zeitgenossen- schaft, in: Variations 19(2011),39—53.

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