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Wenn das Kind zum ersten Mal sagt Das bin ich!

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Wenn das Kind zum ersten Mal sagt „Das bin ich!“

Anna Arfelli Galli1

1 Aus dem Italienischen übersetzt von Thomas Fillitz, Wien, und Gerhard Stemberger, Wien und Berlin; die Originalfassung erschien 2005 im Sammel- band L’Io allo Specchio, Macerata: Università degli Studi di Macerata.

2 Siehe dazu u.a. Butterworth 1990; Gibson 1993; Kagan 1998 in 2001; Sroufe 1989 in 1991; Stern 1985.

Vorbemerkung

Für Aussagen über die Entwick- lung des phänomenalen Ichs ist es hilfreich, sich mit den Verhaltens- weisen des Kleinkindes vor dem ei- genen Spiegelbild zu befassen, ins- besondere mit dem Übergang vom Beziehungsverhalten, das gespie- gelte eigene Gesicht wie ein reales anderes Kleinkind zu behandeln, hin zur ausdrücklichen Feststellung

„Das bin ich!“ So können wir die Forschungsergebnisse, die uns aus experimentellen Untersuchungen vorliegen, in zweierlei Hinsicht ge- winnbringend auswerten: erstens können wir die verschiedenen Pha- sen analysieren, die das Kleinkind bei der Aufarbeitung der visuellen Informationen vor dem eigenen Spiegelbild durchläuft; zweitens können wir auf die mentalen Pro- zesse rückschließen, die ablaufen, wenn das Kind das Spiegelbild des eigenen Gesichts tatsächlich auf sich selbst bezieht.

Wenn wir behaupten, dass das Kleinkind sein Bild, das es im Spiegel sieht, auf sich selbst bezieht, set- zen wir implizit das Vorhandensein einer gewissen Selbst-Erfahrung voraus, die aktiv an diesem beson- deren mentalen Prozess beteiligt ist. Dazu müssen einige spezifische Fragestellungen formuliert werden.

Die Entwicklungspsychologen im experimentellen und klinischen Feld haben viel über die frühen Er- fahrungen in Bezug auf das Selbst geforscht. Dadurch ist eine termi-

nologische Vielfalt entstanden2, die von Konstrukten ausgeht, die der bipolaren Struktur des phänome- nalen Feldes und einer ursprüngli- chen Fähigkeit zu einem reflexions- freien Dasein Rechnung tragen.

Dieses Feld ist weit und würde an sich eine gemeinsame Behandlung all der theoretischen Modelle er- fordern, die von den Forscherinnen und Forschern in Zusammenhang mit ihren Untersuchungen über die frühen Erkenntnisprozesse ent- wickelt wurden (siehe dazu Karmi- loff-Schmidt 1995). Im vorliegenden Beitrag beschränken wir uns auf die Unterscheidung zwischen Selbst- Bewusstsein und Selbst-Kenntnis (Battacchi 1996).

Unter Selbst-Bewusstsein verste- hen wir das Wissen, das das Sub- jekt von seinen eigenen mentalen Zuständen hat und nicht bloß von den Handlungen, mit denen es auf äußere Objekte einwirkt. Mit ande- ren Worten: Das Subjekt mit Selbst- Bewusstsein ist von der Fähigkeit, in einer gegebenen Situation kom- petent zu handeln, bereits fortge- schritten zur Fähigkeit der Refle- xion, wobei diese von mehr oder weniger stabilen Repräsentationen der Wahrnehmungsgegenstände unterstützt wird. Das Wissen dar- um, wie eine gezielte Handlung zum Ergreifen eines Objekts abläuft, das sich in Reichweite des eigenen Arms befindet, erfordert Kenntnis von ei- nem selbst also Selbst-Kenntnis. Das Sich-selbst-Erkennen des Kleinkin- des vor dem Spiegel, das sich einen Fleck aus dem Gesicht wischt (siehe

weiter unten), zeugt nur von einer kompetenten Handlung und setzt Selbst-Kenntnis voraus. Vor dem eigenen Spiegelbild „Das bin Ich!“

zu sagen, impliziert hingegen mehr, nämlich eine konzeptuelle Haltung angesichts der Konfrontation mit der einheitlichen Erfahrung, sich zu sehen und sich zu spüren: in ande- ren Worten, dabei handelt es sich um ein Bewusstsein von sich selbst, ein Selbst-Bewusstsein. In vielfäl- tigen experimentellen Situationen wurde das Sich-Erkennen vor dem Spiegel durch Verhaltensweisen be- legt, die von der Geste des sich den Fleck vom Gesicht Wischens bis zur

Zusammenfassung

Der Beitrag stellt die experimentellen Forschungsarbeiten über die Begeg- nung des Kleinkindes mit seinem Spie- gelbild aus einem gestalttheoretischen Blickwinkel vor. Dieser ist dadurch ge- kennzeichnet, dass er die zahlreichen Einzelbefunde in den Gesamtzusam- menhang der kleinkindlichen Entwick- lung einordnet. Er kann damit zeigen, in welchen vielfältigen, wechselseitig zusammenwirkenden Prozessen das Selbst des Kindes sich in einer mehrfach gerichteten dialogischen Entwicklung ausdifferenziert. Was es in der Entwick- lung des Kleinkindes braucht, um sein Abbild als eine Entsprechung seiner selbst zu erkennen und dieses Wissen zum Selbst-Bewusstsein zu steigern, und welche Rolle dabei die dialogische Beziehung vor allem zu den wichtigsten Bezugspersonen, aber auch zu Frem- den spielt, bietet viele Anregungen zum Nachdenken über die Voraussetzungen für die Entwicklung von Selbst-Kennt- nis und Selbst-Bewusstsein auch im Er- wachsenenalter – auch in der Psycho- therapie.

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expliziten Aussage „Das bin Ich!“

reichen. Dennoch sind sich nicht alle Autorinnen und Autoren darü- ber einig, ob dieses Sich-Erkennen im Spiegel auch ein Bewusstsein von sich selbst beweist. In dem Zu- sammenhang muss man sich natür- lich ansehen, auf welches konkrete kleinkindliche Verhalten sich die Betreffenden jeweils beziehen.

Wie George Butterworth festhält, legen die Studien zum visuellen Sich-selbst-Erkennen nahe, „[...]

dass die kognitive Entwicklung, jedenfalls im Sinne der von Piaget

vorgeschlagenen sensomotori- schen Stadien, zur Entwicklung des Selbst-Gewahrseins vor dem Spiegel beiträgt. Allerdings muss erst noch empirisch geklärt werden, welche genaueren Zusammenhänge beste- hen zwischen dem Wahrnehmen der bedingten Natur des Spiegel- bildes, dem Sich-selbst-Erkennen mit Hilfe markanter Merkmale,

3 Arfelli Galli bezieht sich hier auf Metzgers Differenzierung der phänomenalen Welt in die drei charakteristischen Teilbereiche 1. Selbstbewusstsein, 2.

Innenweltbewusstsein und 3. Außenweltbewusstsein. „Zum Selbstbewusstsein in diesem Sinne gehört zunächst das einfache Daseins-Bewusstsein, das schon differenziertere Befindlichkeits-Bewusstsein und endlich das nur sehr langsam sich entwickelnde Besonderheits-Bewusstsein, das Wissen um die überdauernde persönliche Eigenart, um das Anderssein-als, der eigentliche Gegenstand der ‚Selbsterkenntnis‘ (…). Der eigentliche und unbezweifelte Kern der Selbst-Wahrnehmung ist jedenfalls das Befindlichkeits-Bewusstsein: als das Bewusstsein dessen, wie es einem im Augenblick geht, wie es einem zumute ist, wozu man ’Lust hat’; also die ganze Welt der Stimmungen, Gefühle, Gemütszustände und -bewegungen, der Affekte, Emotionen und Strebungen, wie man sie an sich selbst unmittelbar erlebt und verspürt.“ (Metzger 1966, 5)

dem Verstehen der Eigenart des re- flektierten Bildes, der Zurechnung des Spiegelbildes zu einem selbst, den Entwicklungen des Gedächt- nisses, des logischen Denkens und schließlich dem Beitrag der sozialen Erfahrung. Es scheint jedenfalls ver- nünftig, Gallup (1982) beizupflich- ten, dass das Niveau des Selbst-Ge- wahrseins, das sich bei der Aufgabe des Sich-Erkennens vor dem Spiegel zeigt, einen kognitiven Fortschritt anzeigt und sich nicht mit Verwei- sen auf die Sensorik der Wahrneh- mung erklären lässt.“ (Butterworth 1990, 122; Übers. GSt)

Verschiedene Verhaltensweisen des Kleinkindes zu bestimmten Zei- ten der Entwicklung setzen das Vor- handensein eines Bewusstseins von sich selbst voraus, sei es in der Form eines Befindlichkeitsbewusstseins, sei es in Form des Besonderheitsbe- wusstseins.3 Ich beziehe mich zum Beispiel auf den Gebrauch der Pro- nomen Ich–Du im Alter von dreißig

bis sechsunddreißig Monaten auf- wärts (Baumgarten et al. 2000) und für jüngere Kinder auf die Resultate der Forschungen aus dem phäno- menologisch orientierten Umfeld der Studenten von Metzger (zu- sammenfassend: Arfelli Galli 1995;

ergänzt und in deutscher Sprache:

Arfelli Galli 2013): das Trotzver- halten im Alter von achtzehn Mo- naten (Kemmler 1957, Arfelli Galli 1999), das Selber-machen-Wollen im Alter um die zwei Jahre (Klamma 1957), das Erfolgsstreben und die Reaktionen auf den Misserfolg im Alter ab dreieinhalb Jahren (Heck- hausen & Roelofsen 1962). All das sind Verhaltensweisen, die sich nicht ohne klares Bewusstsein von sich selbst erklären lassen. Bereits ab einem Alter von achtzehn Mo- naten kann man das Auftreten von Trotzverhalten feststellen. Das be- legt einen recht frühen Zeitpunkt, zu dem das Selbstbewusstsein im Erleben des Kindes aufscheint. Eine ganzheitliche Betrachtung dieser Entwicklungsperiode ermöglicht es auch, die Vermeidungsreaktion angesichts des eigenen Spiegelbil- des einzuordnen, die über den ein- fachen Vorgang des Erkennens des eigenen Spiegelbildes hinausgeht.

Mit anderen Worten, wir sehen das Sich–im–Spiegel–Erkennen als eine Etappe, die nicht bloß die visuel- le Kenntnis von sich selbst um das Bild des eigenen Gesichts erwei- tert, sondern die auf eine höhere Organisationsebene des Wissens um sich selbst führt. Diese ist durch ein Bewusstsein von der eigenen Individualität gekennzeichnet, das auch – aber nicht nur – das Bild von einem selbst einschließt, wie es an- dere sehen.

© www.youtube.com/watch?v=M2I0kwSua44 "Rouge test"

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Überhaupt wäre es zu kurz ge- dacht, die Entdeckung des eigenen Spiegelbildes würde nur das Ge- sicht betreffen. Was jeder von uns unmittelbar auf visuellem Weg vor dem Spiegel wahrnimmt und was auch das Kleinkind fortlaufend ent- deckt, ist: Wir sind aufrechte We- sen mit einem Oben und Unten, einem Vorne und Hinten und auch mit einem Gesicht und dessen Be- sonderheit, einer Physiognomie mit visuell erfahrbarer Ausdrucks- kraft. Vieles ist dem Kind zur Zeit dieser Entdeckung bereits bekannt.

Darunter ist die Ausdrucksfähigkeit besonders relevant, die dem Kind im Gesicht des anderen begegnet;

sie wird in der präverbalen Kom- munikation weiterverarbeitet und eingeordnet. So scheint der Ent- wicklungsweg des zweiten Halbjah- res des zweiten Lebensjahres be- sonders komplex und nicht-linear zu sein. Das zeigt sich in der ausge- dehnten Zeitspanne, über die sich die von Mal zu Mal unterschiedli- chen Verhaltensweisen erstrecken, die wir als Hinweise auf das Sich–

Erkennen–im–Spiegel verstehen:

der Test mit dem Fleck im Gesicht, die Geste, mit der das Kind auf sich selbst zeigt und seinen Namen nennt oder sogar explizit sagt: "Das bin ich!" (vgl. dazu Fontaine 1996).

Was wir als relevant für die Ent- wicklung des Bewusstseins von sich selbst betrachten ist nicht einfach ein Wiedererkennen des reflek- tierten Bildes als das des eigenen Gesichts. Vielmehr ist es die neue Organisation, die durch die Verar- beitung dieser Informationen und ihr Einfügen in die bereits vorhan- denen oder gerade gleichzeitig ent- wickelnden Bewusstseinsinhalte ergibt. Diese Neuorganisation des Wissens um sich selbst führt zum Verständnis zweier für die visuelle

Identität eines jeden menschlichen Wesens wesentlicher Komponen- ten: zum einen die Bestätigung der gemeinsamen Zugehörigkeit zur Spezies des homo erectus durch die - auch visuelle - Praxis und Wahr- nehmung des aufrecht Stehens;

zum anderen die Aneignung der eigenen physiognomischen Identi- tät, die durch das Spiegelbild des Gesichts erstmals ermöglicht wird.

Dass in der gleichen Periode auch das Trotzverhalten erstmals auftritt und damit ein deutliches Zeichen für die Differenzierung des Klein- kindes von den erwachsenen Be- zugspersonen, unterstreicht noch einmal zusätzlich die Bedeutung dieser Entwicklungsphase.

Es handelt sich also um eine Über- schneidung mehrerer Prozesse:

kommunikativer, affektiver und kognitiver, aber auch psychomoto- rischer Art, weil sie in der ganz be- sonderen Erfahrung des sicheren Gehens zusammenfließen. Das tut das Kleinkind in einem Alter von etwa achtzehn Monaten und teilt damit der Welt seine Zugehörigkeit zur Spezies des homo erectus mit.

Wie bedeutend diese Errungen- schaft ist, ist den Anthropologen wohlbekannt (Straus 1966), in un- serem Bewusstsein als Erwachsene jedoch bereits verblasst. Sie lässt sich allerdings noch gut in den star- ken Emotionen der Bezugsperso- nen erkennen, wenn das Kind zum ersten Mal frei geht – es handelt sich um eine der ersten großen Be- stätigungen, dass die Entwicklung des Kindes gut verläuft.

Das Kleinkind im Spiegel

Um den kognitiven Prozess des Er- kennens des Spiegelbildes als ein Bild des eigenen Gesichts mit der expliziten Feststellung „Das bin

ich!“ abzuschließen, müssen beim Kleinkind mehrere Entdeckungen zusammenlaufen. Es muss ein Ver- ständnis der formalen und funk- tionalen Eigenschaften des Objekts Spiegel erwerben; es muss ein Ver- ständnis der Beziehung zwischen dem reflektierten Bild und den gleichzeitig im Raum befindlichen physischen und sozialen Objekten entwickeln; es muss auf geeignete Weise den realen Raum vom vir- tuellen Raum unterscheiden und die reflektierten Bilder in diese Raumverhältnissen einordnen. Es handelt sich dabei um kognitive Er- rungenschaften, die sich fortschrei- tend durch differenzierte, aber zugleich untereinander vernetzte Prozesse realisieren.

Boulanger-Balleyguier (1967) hat das Verhalten von dreißig Klein- kindern vor dem Spiegel — von der Geburt bis zum Alter von zwei Jahren — Monat für Monat unter- sucht. Sie stellte fest, dass die Er- forschung des Spiegels schon früh beginnen kann und bereits im Alter von 4 Monaten eine visuelle Auf- merksamkeit für die Bilder, die der Spiegel reflektiert, vorhanden ist;

ab 6 Monaten wird auch die taktile Exploration systematisch, anfangs sind diese beiden Komponenten jedoch nicht miteinander verbun- den. Im Alter von etwa 8 Monaten entwickelt sich das Interesse an den Veränderungen, die das reflek- tierte Bild erfährt, wenn der Spie- gel weg- oder näherbewegt wird, oder jedenfalls, wenn er bewegt wird. Darüber hinaus treten zwei weitere interessante Verhaltens- weisen auf: 1) das abwechselnde Betrachten des reflektierten Bildes und der realen Person (der Mutter oder der Forscherin); 2) die Suche hinter dem Spiegel, d.h. die mit dem virtuellen Raum verbundene

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Illusion räumlicher Tiefe.4 Die Tie- fenillusion bleibt auch nach dem 2.

Lebensjahr bestehen, wie verschie- dene Verhaltensweisen zeigen: den Spiegel auf den Kopf stellen und

4 Offenkundig handelt es sich um ein Verhalten, das mit der Entwicklung der Tiefenwahrnehmung einhergehen kann.

5 Weiterführend zu den mit der Thematik des virtuellen Raumes verbundenen Aspekten siehe Fontaine 1996.

die undurchsichtige Oberfläche er- kunden; der Versuch, das Objekt hinter dem Spiegel oder durch die reflektierende Oberfläche anzufas- sen; manchmal die Mutter hinter dem Spiegel zu suchen (wenn der Spiegel groß genug ist und nicht an der Wand hängt). Es handelt sich dabei um Verhaltensweisen des Erforschens der Eigenschaften des virtuellen Raums, ein Prozess, der sich notwendigerweise mit dem des Erkennens der reflektierten Bil- der überschneidet.5

Der Umgang mit dem Spiegelbild wird immer aktiver und die Koordi- nation zwischen visueller und takti- ler Erforschung zeigt sich in einem immer systematischeren Verglei- chen zwischen dem virtuellen Bild und dem realen Objekt: Das Klein- kind wendet sich nicht nur dem realen Objekt zu, von dem es das reflektierte Bild sieht; es setzt sich mit realen Gegenständen oder Per- sonen in Verhaltensweisen ausein- ander, die sich abwechselnd dem Spiegel und dem realen Raum zu- wenden. In dieser experimentellen Situation, die durch die Nähe eines Elternteils und ein fortschreitendes Lernen gekennzeichnet ist, beginnt die Erkundung mit dem Spiegelbild von vertrauten Personen; im Alter von 15-16 Monaten scheint dies ab- geschlossen zu sein (ab diesem Al- ter sucht das Kind nicht mehr nach Übereinstimmungen zwischen die- sen als realen Personen und ihrem virtuellen Bild). Im weiteren Verlauf wendet sich sein Forschungsver- fahren der Suche nach Überein- stimmungen zwischen anderen Personen (z.B. der Forscherin) und deren Spiegelbild zu.

Das zweite Jahr ist dem Experimen- tieren mit Übereinstimmungen zwi-

schen Teilen des eigenen Körpers und deren Abbildern gewidmet.

Schon gegen Ende des ersten Le- bensjahres streckt das Kleinkind immer öfter seine Hand zum Spie- gel, bewegt sie und beobachtet den Effekt im reflektierten Bild. Mit fünfzehn Monaten scheint die Be- obachtung mit der Hand und über die Hand abgeschlossen zu sein und das Kleinkind widmet sich anderen Körperteilen, seiner Kleidung, sei- nen Spielsachen, die es in der Hand hält, auch den Grimassen, die es mit seinem Gesicht schneidet. Schließ- lich, nachdem es das reflektierte Bild der Mutter eingeordnet hat und auch die Übereinstimmungen zwischen dem reflektierten Bild fremder Personen und diesen als realen Personen untersucht wor- den ist, wendet das Kleinkind sei- nen Blick abwechselnd dem Spie- gelbild seines eigenen Gesichts und einer realen fremden Person zu.

Im Alter von etwa achtzehn Mo- naten tritt die sogenannte Vermei- dungsreaktion auf. Zu dieser Zeit ist das eigene Gesicht, das der Spiegel zeigt, gut differenziert von allen an- deren gerade vorhandenen Gesich- tern, seien diese nun vertraut oder nicht. Regungslos schaut das Klein- kind nun das Gesicht an, das ihm entgegenblickt; mehrmals wendet es den Blick ab und dann wieder dem Spiegel zu. Sein Gesichtsaus- druck wirkt dabei ernst, verwirrt, manchmal bestürzt.

Das Erkennen des eigenen Spiegel- bildes nach einigen Monaten ist demnach nur der Abschluss eines längeren Erkenntnisweges, auf dem das Kleinkind die speziellen Eigen- heiten der reflektierenden Ober- flächen wie auch die Übereinstim- mungen zwischen realen Objekten

© www.youtube.com/watch?v=KadxPBfu4os

"Confused Baby looks behind mirror"

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und Personen und deren Spiegel- bildern erforscht. Es handelt sich dabei nicht um einen linearen und plötzlichen Übergang – die Vermei- dungsreaktion kann über mehrere Monate anhalten. Man muss die Phase der Beunruhigung verstehen, die der Zuordnung des Gesichts im Spiegel zu sich selbst vorausgeht, dieses Gesichts, das das Kleinkind keiner anderen Person der realen Welt zuordnen kann.

Die Zwillings-Studien

Um eine Erklärung für die Vermei- dungsreaktion zu finden, hat Zazzo (1997) mit Paaren von eineiigen und zweieiigen Zwillingen experi- mentiert.

Setzt man das Kleinkind seinem eigenen Zwilling oder einem ihm nicht bekannten Gleichaltrigen durch eine Glasscheibe getrennt gegenüber, so zeigt es abwechselnd soziales Spielverhalten und Des- interesse: Die beiden Kleinkinder tauschen ein Lächeln aus, berühren sich und küssen sich durch das Glas.

Wird die Glasscheibe schließlich entfernt, begrüßen sich die beiden oder umarmen sich freudig.

Mit dem eigenen Spiegelbild kon- frontiert folgen bei eineiigen wie auch zweieiigen Zwillingen be- stimmte Verhaltensweisen regel- mäßig aufeinander, ähnlich wie bei allen anderen Kleinkindern.

Vor dem zehnten Monat trifft man das soziale Spiel und das Spielen mit dem Spiegelbild der Hand viel öfter und intensiver an als in der Situation mit der Glasscheibe. Im Alter zwischen dem zehnten und achtzehnten Monat sind die Ver- haltensweisen durch soziale Spiele

6 Angesichts der Asymmetrie des Gesichts gilt es in der Realität die Spiegelumkehr zu berücksichtigen, die das reflektierte Bild in gewisser Weise verschieden zum realen wiedergibt. Diesem Einwand kann das Faktum entgegengehalten werden, das aus Forschungen über die Entwicklung des Sich- selbst-Erkennens im Spiegel bei Kleinkindern beruht, die älter als 3 Jahre sind; diesen zufolge werden die Differenzen, die dem Spiegel gezollt sind, erst zu diesem Zeitpunkt der Entwicklung relevant; siehe Zazzo 1997 und Fontaine 1976.

und Spiele der "manuellen Nach- ahmung" gekennzeichnet. Im Alter zwischen dem achtzehnten Monat und zwei Jahren tritt die Vermei- dungsreaktion auf. Deren Charak- teristikum ist eine bewegungslose und perplexe Haltung und eine Mi- mik der Verwirrung, während der Blick abwechselnd vom Bild abge- wendet und bei der Rückkehr zum Spiegelbild auf die Region der Au- gen gerichtet wird.

Um zu überprüfen, ob das Kleinkind tatsächlich sich selbst im Spiegel erkennt, malt man ihm unbemerkt mit einer harmlosen Farbe einen roten Fleck auf die Wange. Das Kind, das sich selbst erkennt, führt seine Hand zum Gesicht, um sich den Fleck abzuwischen – und nicht zum Spiegelbild wie in den vorhe- rigen Phasen. Der früheste Erfolg beim Gesichtsfleckentest wurde im Alter von 17 Monaten festgestellt, der späteste im Alter von 27 Mo- naten. Dieses Zeitintervall bleibt auch unter variierten Versuchsbe- dingungen als Ergebnis konstant.

Die Überprüfung des Erkennens mit Hilfe der Frage an das Kleinkind

"Wer ist das?" gelingt später, wurde aber von Fontane nur in einer klei- neren Stichprobe systematisch ein- gesetzt. Man muss bis zum 36. Le- bensmonat warten, bis alle Kinder, die zuvor den Fleckentest bestan- den haben, auf diese Frage ohne das geringste Zögern mit ihrem Namen oder mit „Ich“ antworten.

Die Diskrepanz zwischen dem Er- folg im Fleckentest und der verba- len Antwort scheint nicht mit dem Entwicklungsquotienten zusam- menzuhängen, sondern zeugt nach Ansicht der Autoren von der Fragili- tät der visuellen Selbst-Kenntnis bei kleinen Kindern.

Die Bedeutung der Vermeidungsreaktion

Eineiige und zweieiige Zwillinge un- terscheiden sich in ihrem Verhalten weder im Glasscheiben-Experiment noch im Spiegel-Experiment unter- einander oder von anderen Klein- kindern. Allerdings sehen beide Zwillinge in der Glasscheiben-Situ- ation die vertraute Figur ihres Zwil- lings; in der Spiegelsituation hinge- gen werden nur die heterozygoten Zwillinge mit einem für sie visuell ungewohnten und damit frem- den Bild konfrontiert, während die homozygoten Zwillinge mit einem vertrauten Bild konfrontiert wer- den, da ihr gespiegeltes Bild dem bekannten des eineiigen Zwillings entspricht.6

Da auch eineiige Zwillinge die Ver- meidungsreaktion zeigen, kann die- se nicht als Reaktion auf die Fremd- artigkeit des Bildes eines nicht bekannten Gleichaltrigen erklärt werden, zumal in der Glasscheiben- Situation angesichts anderer Kin- der, die tatsächlich unbekannt sind, weder die Zwillinge noch die Einzel- kleinkinder diesen gegenüber eine Vermeidungsreaktion zeigen. Es ist nicht die Fremdartigkeit, auf die es ankommt, meint Zazzo, sondern es ist die Synchronität, die das Kind gleichzeitig anzieht und abstößt, eine Wirkung, die an den Mythos der Medusa erinnert. Das Spiegel- Kind ist in einer Weise präsent, dass es perfekt "reagiert", in einer stän- digen Rückkopplung; das Kind hin- ter der Glasscheibe hingegen agiert auf seine eigene Weise: auf beiden Seiten kommuniziert man, bricht den Kontakt ab, findet wieder zuei- nander. (Zazzo 1997, 36)

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In diesem Alter kennt das Klein- kind sein Gesicht genau und weiß auch, wie die verschiedenen Teile heißen; es bezeichnet die analogen Teile der angetroffenen Gesichter mit den gleichen Namen: im All- tag öffnet es seinen Mund, um zu essen, sei es nachahmend, sei es auf verbale Aufforderung; es hat seine Nasenlöcher aus praktischer Notwendigkeit oder spielerisch er- kundet und wurde aufgefordert, seinen Finger aus der Nase zu neh- men; es hat sich die Augen gerieben und weiß, welche Art Öffnungen zur Welt sie sind. Angesichts der bereits durchlaufenen Fortschritte im Umgang mit den Übereinstim- mungen zwischen jenen Gegeben- heiten, die ihm im virtuellen Raum begegnen, mit jenen, die ihm im realen Raum begegnen, scheint es ein Leichtes, nunmehr das visuelle Bild seines Gesichts in die Gesamt- heit des bereits erworbenen Wis- sens einzuordnen. Das Kind erfährt das menschliche Gesicht jedoch in Beziehungssituationen, in einem interaktiven Austausch, bei dem das Innehalten und das Kommuni- zieren sich abwechseln; es wird an- genommen, dass diese dialogischen Übergänge zu Beginn des zweiten Lebenshalbjahres bereits gefestigt sind, während das nicht in dieser Weise reagierende Gesicht im Spie- gel immer wieder eine Quelle der Störung und Irritation ist.

Wir haben bereits erwähnt, dass der hier betrachtete Entwicklungs- prozess sehr komplex ist und die Einbeziehung mehrerer Bereiche erfordert. Die jeweils erreichten Niveaus an Wissen über Personen und in der präverbalen Kommuni- kation erlauben es, zu spezifizieren, welche bereits gefestigten Kompe- tenzen das Kleinkind einzusetzen hat, wenn es mit dem virtuellen Bild seines Gesichtes konfrontiert ist: Tatsächlich entspricht dieses

nicht einer Objekt-Person der rea- len Welt und verhält sich auch nicht in einer korrekten kommunikativen Weise, die den Erwartungen ent- spricht. Das virtuelle Abbild des eigenen Gesichts mit seiner perfek- ten Synchronität widerspricht viel- mehr den gefestigten Erwartungen an ein dialogisches Verhalten, das sich durch den Wechsel der Aktivi- tät der beiden Seiten auszeichnet, wie das vom echten Altersgenossen in der Glasscheiben-Situation auch respektiert wird. Außerdem ist die präverbale kommunikative Kom- petenz, über die das Kind im Alter von 18 Monaten verfügt, bereits sehr ausgeprägt; es erkennt soziale Objekte als mit Intentionalität aus- gestattet, was sich am deutlichsten an deren Mimik zeigt.

Die Personen als mit Intentionali- tät begabte „Objekte“

Zwischen dem Ende des ersten Le- bensjahres und dem ersten Halb- jahr des zweiten zeigt das Kleinkind eine Reihe signifikanter Verhaltens- weisen nicht nur im Bereich der nonverbalen Kommunikation, son- dern auch in der Entwicklung seines Wissens darüber, was eine Person ausmacht. Es sind dies Verhaltens- weisen, die sich an menschliche Wesen richten, mit denen man sich die Aufmerksamkeit für Dinge oder Ereignisse teilt: anderen et- was geben; etwas zeigen; auf etwas hinweisen in einem Wechsel des Blickes vom Zielobjekt zum Erwach- senen, der einbezogen werden soll;

mit dem Blick um Hilfe bitten, um Sachen zu bekommen; an einem Versteckspiel teilnehmen; häusli- che und sonst übliche Aktivitäten imitieren; die Erwachsenen necken (vgl. Hobson 1993, Camaioni 1995).

Die Phänomene der gemeinsamen Aufmerksamkeit – oder der visu- ellen Ko-Orientierung oder der ge-

teilten Aufmerksamkeit – belegen, dass das Aufmerksamkeitszentrum einer anderen Person wahrgenom- men wird und dass es möglich ist, ebendiese Erfahrung des anderen zu teilen; es gibt folglich das Wissen um den anderen und um dessen Verhaltens-Ausrichtung hinsicht- lich der äußeren Umwelt. Und auch hier wieder belegt die Fähigkeit, vor dem Aktivwerden in neuen Si- tuationen den Ausdruck wichtiger Personen zu prüfen – in der Fach- sprache: den sozialen Bezug her- zustellen –, dass das Kleinkind die Bedeutung des Gesichtsausdrucks der anderen Person im gerade ge- gebenen Zusammenhang erfasst.

So weicht das Kind, das auf allen Vieren krabbelt, normalerweise ei- nem angedeuteten „Abgrund“ aus, aber mit 12 Monaten überquert es ihn, um zu seiner Mutter zu gehen, wenn diese einen positiven, beruhi- genden Gesichtsausdruck zeigt.

Schon gegen Ende seines ersten Le- bensjahres behandelt das Kleinkind die ihm begegnenden Menschen als mit Erfahrungen begabt, die mit den eigenen übereinstimmen oder davon abweichen können. Um das herauszufinden, sucht es den Blick des anderen. Dieser soziale Bezug zeugt also davon, dass ein Objekt oder Ereignis für einen selbst und für andere je nach Situation unter- schiedliche Bedeutungen haben kann. Mit anderen Worten, am Ende des ersten Jahres gibt es ein vorläufiges Verständnis der Natur einer Person als einem Wesen, das mit Intentionalität ausgestattet ist, eine notwendige, wenn auch noch nicht hinreichende Bedingung für die Entwicklung einer reflektieren- den Selbsterkenntnis.

Die Untersuchungen mit Kleinkin- dern, die von Geburt an blind sind, zeigen einige signifikante Verzöge- rungen auf, die belegen, wie be-

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deutend die visuelle Wahrnehmung für die Beziehung zwischen dem Kleinkind und der Bezugsperson ist;

es zeigen sich bei diesen Kindern Verzögerungen im Verständnis der Emotionen, im Auftreten des sym- bolischen Spiels und im Gebrauch der Personalpronomen. Das blind geborene Kleinkind hat darüber hi- naus Schwierigkeiten, das Erleben einer anderen Person zu begreifen:

Mit dem Fehlen der Face-to-Face- Kommunikation und der weiteren Stadien der präverbalen Kommu- nikation, vor allem vermittels des Blicks, wird in dieser Entwicklungs- phase das Verständnis der emo- tionalen Reaktionen anderer Per- sonen erschwert; es kann dem Blick anderer Personen nicht folgen und damit die Ziele ihres Handelns nicht identifizieren, es kann nicht anhand der Zentrierung ihrer Aufmerksam- keit Aufschluss über ihre Gefühle und Interessen gewinnen; dies alles sind jedoch Ereignisse, die dem So- zialbezug zugrunde liegen. Das Feh- len der visuellen Ko-Orientierung beeinträchtigt nicht nur die präver- bale Kommunikation, es schränkt auch das Erkennen von Unterschie- den und Abstimmungsmöglichkei- ten zwischen den psychologischen Perspektiven des Kindes und jener der Bezugsperson ein.

Daraus können wir schließen, dass das Kind, wenn es im Alter von 18 Monaten mit seinem eigenen Spiegelbild konfrontiert wird, sich einem Gesicht gegenüber findet, das nicht nur in seinen physiogno- mischen Aspekten neu ist, sondern zugleich ein Gesicht ist, das sich in völlig anderer Weise verhält als das aller anderer Menschen, mit denen es in Beziehung steht: Der Ausdruck dieses Gesichts ist aufmerksam und fixiert; er ist nicht dialogisch sondern imitierend; ihm fehlen die Hinweise, die man braucht, um sich an den Absichten, Erwartungen und

Gefühlen der anderen zu orientie- ren. Köstlich drückt das die Karika- tur von F. Tonucci aus (enthalten in Zazzo 1997), die ein kleines Mäd- chen zeigt, das mit ihrem Schatten konfrontiert die Frage stellt: Wer ist ich? Die Gleichzeitigkeit der Begeg- nung mit der Außenwelt und des Er- kennens von sich selbst, die Gleich- zeitigkeit des Sich-selbst-Aneignens und des Sich-als-fremd-Vorfindens, passen perfekt zur Vermeidungsre- aktion angesichts des eigenen Spie- gelbildes.

Die Trotzphase

Es gibt noch einen weiteren Punkt, den es zu untersuchen gilt: Wie sieht das Selbsterleben des Klein- kindes in der Entwicklungsphase aus, in der oppositionelle Verhal- tensweisen auftreten (in der ita- lienischen Literatur wird dafür auch der Begriff negativismo verwendet, in der deutschsprachigen der Be- griff Trotz und in der angelsächsi- schen negativism). Reaktionen die- ser Art treten im gleichen Zeitraum auf wie die Vermeidungsreaktion.

Man versteht sie als Reaktion auf eine Erfahrung, die ebenfalls im Wi- derspruch zu den Erwartungen des

Kleinkindes bezüglich einer vertrau- ten wichtigen Bezugsperson steht.

Eine solche Diskrepanz wird dann erlebt, wenn die neue Autonomie, die mit dem sicheren aufrechten Gehen erreicht wird, von wichtigen Bezugspersonen, die eben noch eine wichtige Stütze waren, behin- dert wird.

Mit dem Begriff der "Opposition"

(des Trotzes) bezeichnet man in der Fachliteratur wie auch in der pädagogischen Tradition Verhal- tensweisen, für die eine bestimmte zeitliche Entwicklung typisch sind:

Sie treten plötzlich im Alter von etwa 18 Monaten auf, wenn das Kind bereits zügig aufrecht läuft, erreichen ihre maximale Intensi- tät im Alter von etwa 22 Monaten und verschwinden ebenso schnell wieder im Alter von 30 Monaten, mit dem Beginn der verbalen Kom- munikation. Das Kind, das bis zu diesem Moment gut an die Wün- sche der Erwachsenen angepasst war, verwandelt sich in ein Kind, das sich dem Willen der Eltern ver- weigert. Diese sind verunsichert durch die Unvorhersehbarkeit der Situationen, in der dieses Verhalten auftritt, durch die Schwierigkeit,

© Zachary Kadolph (Unsplash)

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die Gründe dafür zu erkennen und durch die Intensität der somato- psychischen Ausprägung des kind- lichen Verhaltens (das sich etwa zu Boden wirft, ohne Rücksicht darauf, dass es sich verletzen kann; oder das so laut und so lange weint, dass es Schwierigkeiten hat, genug Luft zu bekommen). Das Trotzverhalten kann vielfältige Formen annehmen, aber die Charakteristik ist typisch:

Der Kontakt zur Umgebung geht verloren; auch wenn es sich nur um ein paar Minuten handelt, in die- ser Zeit ist das Kleinkind unbeein- flussbar, man kann nicht mit ihm in Kontakt treten. Die Reaktionsweise ist an sich dysfunktional, sie steht in keinem angemessenen Verhält- nis zu den Wünschen, die das Kind tatsächlich realisieren könnte und sie hört auch nicht auf, wenn der Erwachsene seinerseits von seinen Wünschen Abstand nimmt. Erst bei älteren Kindern können negativisti- sche Verhaltensweisen beobachtet werden, bei denen es um bestimm- te Ziele geht. Es handelt sich dabei jedoch um eine nachträgliche Inst- rumentalisierung dieser Reaktions- weise, wenn die Eltern, beeindruckt von der Heftigkeit der Reaktion des Kindes, von ihren Forderungen an das Kind systematisch Abstand neh- men und versuchen, ihm angeneh- mere Alternativen anzubieten, um es zu beschwichtigen.

Über einen Zeitraum von zwei Jah- ren und acht Monaten hat Kemmler in Familien und Institutionen eine Reihe von Beobachtungen gesam- melt. Insgesamt erfasste sie mit ih- rer Untersuchung 488 Episoden von Trotz in der Familie. 88,5% der Epi- soden betrafen Konflikte zwischen den Kleinkindern und wichtigen er- wachsenen Bezugspersonen sowie anderen älteren Kindern. In den von Kleinkindern dieses Alters besuch- ten Institutionen hingegen trat typi- sches Trotzverhalten weniger häu-

fig und nur mit geringerer Intensität auf (Kemmler 1957; Metzger 1964).

Zusammenfassend lassen sich die folgenden typischen Merkmale die- ses Verhaltens anführen:

1. Die ökologischen Bedingungen für das Auftreten des Trotzver- haltens sind sehr spezifisch: eine wichtige erwachsene Bezugsperson muss einer vom Kind bereits spon- tan begonnenen Handlung ein Hin- dernis entgegensetzen, das diese Handlung unterbricht (Hindernisse, die von Objekten, Gleichaltrigen oder fremden Erwachsenen kom- men, lösen keine solchen Trotzreak- tionen aus); es ist daher auch nicht möglich, sie anhand von Hindernis- sen zu beobachten, die in Test- oder simulierten Situationen eingesetzt werden.

2. Die höchste Wahrscheinlichkeit für die Auslösung von Trotzreak- tionen ist mit Hindernissen verbun- den, die sich dem Körper des Klein- kindes und seiner freien Bewegung entgegenstellen.

3. Der Kontaktverlust ist massiv und betrifft nicht nur das vom Kind angestrebte Ziel (das das ursprüng- liche Bedürfnis befriedigen würde), sondern auch und vor allem den frustrierenden Erwachsenen, selbst wenn dieser von seinen Wünschen Abstand nimmt.

4. Die emotionale Beteiligung be- zieht auch in ganzheitlicher Weise die neurovegetativen Funktionen mit ein, womit auch die neuro- biologischen Tiefenstrukturen in- volviert sind, die die Homöostase regulieren – ein verkörpertes Erle- ben, das für die ersten Lebensjahre typisch ist. Da die Verbindung zum ursprünglich verfolgten Ziel schein- bar bedeutungslos geworden ist, ist es notwendig, ein anderes Bedürf-

nis zu identifizieren, das sich vom ursprünglichen unterscheidet. Mit anderen Worten, das vom Erwach- senen errichtete Hindernis hat sei- ne Bedeutung nicht (oder nicht nur) als Hindernis auf dem Weg zum ur- sprünglichen Ziel, sondern auch für ein anderes Bedürfnis, das auf indi- rekte Weise frustriert wird.

5. Die zeitliche Ausdehnung des Er- lebten vergrößert sich im Vergleich zu den vorangegangenen Phasen.

Der mentale Prozess, der der Trotz- reaktion zugrunde liegt, beginnt mit dem Vorhaben der ursprünglichen Aktion, die das Kleinkind begonnen hat. Er schließt das Bewusstsein um die Möglichkeit mit ein, diese Hand- lung selbständig zu Ende zu brin- gen, und das Bewusstsein um die Hindernisse, die eine signifikante Person dem entgegengestellt hat.

Von dem für die vorherigen Pha- sen charakteristischen mentalen Prozess (in dem das Kind von sei- nen Vorhaben leicht abzulenken ist und sich auch leicht von seinen er- wachsenen Bezugspersonen trös- ten lässt) bleiben auf jeden Fall die beiden ersten Komponenten aktiv:

a) das Erleben des Bedürfnisses, aus dem die Handlung entspringt und b) das motorische Vorhaben, mit dem das Bedürfnisziel erreicht wer- den soll. Für die Frustration müssen neue Gründe hinzukommen: Von der wichtigen Bezugsperson kör- perlich gehindert zu werden, die eben noch Vermittlerin zwischen dem Kind und der Außenwelt war, und diese nun unzugänglich macht.

Das Kind ist dabei, sich eines an- deren Maßstabes der Unterschei- dung/Trennung zwischen sich und dem Anderen bewusst zu werden.

6. Die Tatsache, dass sich die Trotz- reaktion zu einem Instrument der

„Erpressung“ des Erwachsenen entwickeln kann, führt zu der An- nahme, dass sich in einem kurzen

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© Kevin Gent (Unsplash)

Zeitraum – im Laufe von etwa 6 Monaten – der mentale Prozess erweitert und nun auch die Reak- tionen des Erwachsenen auf die auffälligen Reaktionen des Kindes beinhaltet. Diese letzteren werden nun vom Kind instrumentalisiert, was mit einer Rückkehr zum anfäng- lichen Vorhaben einhergehen kann.

Mit anderen Worten, das Kleinkind lernt, dass es mit den Trotzreak- tionen den sekundären Gewinn er- zielen kann, den Erwachsenen von dessen Forderungen abzubringen.

Zusammenfassend: Das typische Trotzverhalten ist in dieser Entwick- lungsphase immer eine Reaktion auf eine Handlung — im weitesten Sinn —, mit der die relevante Um- welt das Kleinkind in einem bereits aus eigenem Antrieb begonnenen Vorhaben einschränkt, das in fast allen Fällen in einer körperlichen Aktivität besteht. Die Reaktion des Kleinkindes ist eine, die seine ge- samte Person erfasst und sowohl affektiven wie auch dramatischen Charakter hat, mit einer ausdrucks- starken Haltung der weitgehenden Verweigerung von sozialen Kon- takten. Um das Trotzverhalten von Ungehorsam, Aggressivität und kompetitivem Spiel zu unterschei- den, sind folgende Aspekte wichtig:

die spezifische Situation, die Art der Manifestation, die Rolle des Er- wachsenen und die Art und Weise, in der sich die Reaktion schließlich auflöst.

Kemmler zufolge erlebt das Klein- kind aufgrund des sich bei ihm entwickelnden Ich-Gefühls den Eingriff des Erwachsenen, der sich seinen Wünschen entgegenstellt, als Gefährdung seiner Autonomie.

Wegen der affektiven Labilität der Situation reagiert es auf diesen Konflikt mit Oppositionsverhalten.

Das Selbst wird erfahren als Ver-

ankerungspunkt des eigenen Han- delns, nicht nur in der unmittel- baren Handlung selbst wie in den vorherigen Phasen, sondern auch in der Konkretisierung der Ergebnis- se dieses Handelns. Das zeigt sich auch in der Zwangsläufigkeit, mit der der andere als Gegner erlebt wird, der sich zur Instanz erklärt, die Wunscherfüllung des Kindes zu unterbrechen – eine Erfahrung, die ein gewisses Niveau an Ichbewusst- sein voraussetzt, wie die deutsche Autorin feststellt.

Aufgrund dieser Befunde können wir auf das Vorhandensein eines vorläufigen Selbst-Bewusstseins am Ende der Oppositionsphase schlie- ßen: auf einem höheren Niveau der Sonderung und Abgrenzung von den Anforderungen der erwachse- nen Bezugspersonen im familiären Umfeld und auch des Festhaltens an den eigenen inneren affektiven Zuständen, die durch Tröstungs- versuche der Erwachsenen nicht mehr so leicht zu überwinden sind.

In dieser Zeit erscheint auch das

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Schlussfolgerungen

Wenn wir den mentalen Prozess, der im zweiten Halbjahr des zwei- ten Lebensjahres das Erleben des Kindes angesichts seines Spiegel- bildes charakterisiert, im globalen Bezugsrahmen der Entwicklungs- prozesse dieses Alters betrachten, können wir sehen, dass das visuel- le Erkennen nur einen Teil der ge- machten Entdeckungen ausmacht.

Auf der kognitiven Seite müssen wir beachten, dass sich ein solches Erkennen einreiht in vielfältige an- dere Prozesse der Feststellung von Übereinstimmungen zwischen Ob-

jekten, die im realen Raum ange- troffen wurden, und solchen, die im virtuellen Raum als Bild-Objek- te angetroffen werden: Das eigene Spiegelbild zu erkennen zeigt auch ein Wissen um die Existenz von virtuellen Räumen. Auf der kom- munikativen Seite verlangt die Ent- deckung des visuellen Aspekts des Selbst, insbesondere des eigenen Gesichtsausdrucks, der unter an- derem auf die eigene Innerlichkeit verweist, die Auseinandersetzung mit einer davon unterschiedenen Expressivität in der Beziehungser- fahrung mit dem Gegenüber. Diese ist eine unentbehrliche Vorausset- zung dafür, um sich selbst als von seinem Gegenüber unterschieden zu erkennen. Auf der Beziehungs- Seite schließlich markiert die neue Ebene der Sonderung / Individua- tion gegenüber den erwachsenen

Bezugspersonen, wie sie sich in der Trotzreaktion zeigt, den Übergang vom bloßen Geschehen der Sonde- rung zum Bewusstsein der Sonde- rung.

Die Organisation dieser Erfahrun- gen in ein kohärentes Ganzes mün- det in ein Niveau des Bewusstseins, das man meines Erachtens mit dem Auftreten des Bewusstseins der eigenen Individualität (Besonder- heitsbewusstsein) der allgemeinen Psychologie gleichsetzen kann. Na- türlich ist dies ein Bewusstsein in progress, wie alle Felder, die hier berücksichtigt wurden, vom eige- nen Spiegelbild (Zazzo 1997; Mou- noud & Vinter 1981), zum realen Raum (Lurçat 1976), bis hin zum vir- tuellen Raum (Fontaine1996).

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