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Altorientalische Schöpfungsmythen

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STEFAN M . MAUL

Altorientalische Schöpfungsmythen

Betrachtet man die akkadischen ( d . h . die assyrisch-babylonischen) Begriffe, die „ V e r g a n ­ genes" und „ Z u k ü n f t i g e s " bezeichnen, nicht nur als Wortentsprechungen zu den j e w e i l s zugeordneten deutschen Begriffen, ist eine zunächst erstaunliche Entdeckung zu machen.

Ein B l i c k a u f die Etymologie der Zeitbegriffe wie „früher": päna, pän; pänänu; päni; pänü oder „frühere Zeit, Vergangenheit": pänätu; päriltu, pari, zeigt, daß diese Begriffe zu ak- kadischem pänum, „Vorderseite", im Plural pänü „ G e s i c h t " gehören. D i e sumerischen Entsprechungen zu den akkadischen Zeitbegriffen der Vergangenheit sind mit dem W o r t igi gebildet, das „ A u g e " , „ G e s i c h t " und dann auch „Vorderseite" bedeutet. In den akkadi­

schen und sumerischen Zeitbegriffen der Vergangenheit wird das zugrundeliegende W o r t

„Vorderseite" gebraucht im Sinne von „etwas, das vor dem Betrachter / im Angesicht des Betrachters liegt". Ä h n l i c h e s ist auch für die Begriffe, die Zukünftiges bezeichnen, zu beobachten. A k k a d i s c h e s (w)arka, (w)arkänu(m), (w)arki in der Bedeutung „später, da­

nach", (w)arkü(m) in der Bedeutung „zukünftig" und (w)arkitu(m), „Späteres, spätere Zeit, Z u k u n f t " gehören zu d e m Wort (w)arkatu(m), „Rückseite, Hinteres". A u c h die entspre­

chenden sumerischen Begriffe (eger; murgu; bar) bedeuten ursprünglich „Hinteres" und

„Rückseite". Obgleich dieses für das Verständnis der mesopotamischen Kultur höchst w i c h ­ tige Problem der Eigenbegrifflichkeit hier nicht näher betrachtet werden soll, wird doch deutlich, daß für einen Babylonier die Vergangenheit vor ihm, ihm „ i m A n g e s i c h t " daliegt, wohingegen das K o m m e n d e , Zukünftige (warkltum), das ist, was er als hinter sich, in sei­

nem „ R ü c k e n " liegend betrachtet. In der Gedankenwelt unserer eigenen modernen Gesell­

schaft wird j e d o c h das Umgekehrte als selbstverständlich hingenommen. Fest glauben wir, daß unser B l i c k nach vorn gerichtet ist, wenn wir „in die Zukunft schauen". U n d kein Z w e i ­ fel erschüttert unsere Überzeugung, daß die Vergangenheit in unserem Rücken, also hinter uns liegt. W ä h r e n d wir „der Zukunft zugewandt" auf der Zeitachse nach vorne schreiten, bewegten sich die Mesopotamier zwar ebenso wie wir auf dieser A c h s e in Richtung auf die Zukunft fort, ihr Blick war dabei jedoch in die Vergangenheit gerichtet. Sie bewegten sich gewissermaßen mit dem „ R ü c k e n " nach vorn, rückwärts gehend, in die Zukunft. Ohne das hier gewählte Bild überstrapazieren zu wollen, liegt nahe, daraus zu folgern, daß das , A u -

Originalveröffentlichung in: Reinhard Brandt, Steffen Schmidt (Hg.), Mythos und Mythologie, Berlin, 2004, S. 43-53

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genmerk' der mesopotamischen Kultur in die Vergangenheit und damit letztlich a u f den Urpunkt allen Seins gerichtet ist.

In der Tat ist das Interesse der mesopotamischen Kultur an der eigenen Vergangenheit allgegenwärtig: So ließen z. B . die babylonischen und assyrischen K ö n i g e des ersten vor­

christlichen Jts. ihre Inschriften in einer Kunstsprache verfassen, die sich an der altertüm­

lichen, als klassisch empfundenen akkadischen Sprache des beginnenden 2. Jts. v. Chr.

orientierte. D i e offiziellen Inschriften der neubabylonischen K ö n i g e aus d e m 6. Jh. v. Chr.

wurden darüber hinaus sogar häufig mit sehr archaischen Keilschriftzeichenformen nieder­

geschrieben, die im Alltagsleben etwa 2000 Jahre zuvor in Gebrauch waren. D i e Schreiber legten - w i e moderne A s s y r i o l o g e n - paläographische Zeichenlisten an und fertigten T o n ­ tafelfaksimiles, die so gelungen erscheinen, daß sich in der Gegenwart mancher A s s y r i o l o g e über das wahre Alter des D o k u m e n t e s täuschen ließ. Der hochgelehrte neuassyrische K ö n i g Assurbanipal ( 6 6 8 - 6 2 7 v. Chr.) rühmte sich gar, Inschriften „aus der Zeit vor der Sintflut"1

entziffern z u können. D i e w o h l älteste Sprache der mesopotamischen Kulturen, das mit keiner bekannten Sprache verwandte Sumerische, galt noch u m die Zeitenwende - 2000 Jahre, nachdem es als gesprochene Sprache aufgehört hatte zu existieren - als heilige Spra­

che, in der man die Götter anredete. U n d Texte, die bereits im 3. Jt. v. Chr. entstanden, waren noch im 1. vorchristlichen Jahrhundert wesentlicher Bestandteil des Götterkultes.

Interesse an der Vergangenheit manifestierte sich j e d o c h keineswegs nur in der V e r w e n ­ dung v o n Sprache und Schrift, sondern betraf auch die materielle Kultur: Überraschend erscheint d e m modernen Leser die in neubabylonischen Königsinschriften keineswegs sel­

ten anzutreffende Schilderung, daß im Auftrage des K ö n i g s in den Tempelbezirken der wichtigen Städte Babyloniens großflächige archäologische Ausgrabungen unternommen wurden.2 D i e Reste der Fundamente v o n uralten, oft seit langem vergessenen Kulteinrich­

tungen wollten die Babylonier freilegen, u m „den ursprünglichen Zustand wiederherstellen"

zu können, ohne dabei auch nur einen „Finger breit" v o n d e m alten, uranfänglichen Plan

„abzuweichen".

Unsere eingangs geäußerte und nur auf der Betrachtung der akkadischen Zeitbegriffe fu­

ßende Vermutung, das , A u g e n m e r k ' der mesopotamischen Kultur sei in die Vergangenheit und damit letztlich auf den Urpunkt allen Seins gerichtet, findet auch in zahlreichen keil­

schriftlichen Bauinschriften eine glänzende Bestätigung. D e n n in diesen Texten betonen die königlichen Bauherren immer wieder ihre A b s i c h t , in dem jeweiligen N e u b a u Verhältnisse aus „den Tagen der E w i g k e i t " wiedererstehen z u lassen. In die gleiche Richtung weist auch die für solche Bauberichte kennzeichnende (akkadische) W e n d u n g „ana asrisu turru". In den Wörterbüchern wird sie zwar sachlich richtig, eigenbegrifflich aber eher unscharf mit

„wiederherstellen" oder „restaurieren" wiedergegeben. Wörtlich übersetzt bedeutet sie „(ei­

ne Sache) an den jeweils für sie vorgesehenen / an den ihr (seit jeher) zugewiesenen Platz zurückführen". In dieser Formulierung spiegelt sich die mesopotamische Vorstellung, daß

V g l . M . S t r e c k 1916, B d . II, 2 5 6 , T o n t a f e l i n s c h r i f t L 4 , K o l . I, Z . 18 (abmsa läm abübi).

~ H i e r z u v g l . G . G o o s e n s 1948.

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alle Dinge im K o s m o s über einen festen, unverrückbaren Platz verfügten, den die Götter ihnen im Schöpfungsakt auf ewig zugewiesen hatten.

Ein B l i c k in die zahlreichen mythischen Texte Mesopotamiens zeigt sehr rasch, daß auch sämtliche kulturellen Errungenschaften - sei es die Baukunst oder die Kunst der Schreiber, sei es das W i s s e n der Handwerker oder das der Ärzte und Beschwörer - als Weisheit des Gottes Ea angesehen wurden, die dieser den Menschen zum A n b e g i n n der Zeiten offenbart hatte. N o c h im 3. Jh. v. Chr. hielt Berossos, ein Marduk-Priester, der mit seinem griechisch­

sprachigen W e r k Babyloniaka3 der hellenistischen W e l t Geschichte und Kultur des alten Zweistromlandes nahebringen wollte, ein solches Selbstverständnis der babylonischen K u l ­ tur für wesentlich: Ein fischgestaltiges W e s e n (aus keilschriftlichen Texten wissen wir, daß es als eine Erscheinungsform des Weisheitsgottes Ea galt) sei, so Berossos, im ersten Jahre der Welt, also unmittelbar nach Erschaffung v o n H i m m e l , Erde und Menschen, aus dem persischen G o l f gestiegen und habe „die Menschen die Schriftkunde und die mannigfaltigen Verfahrensweisen der Künste, die Bildungen von Städten und die Gründungen von T e m ­ peln gelehrt".4 Ein erst jüngst bekannt gewordener M y t h o s aus dem frühen 2. vorchristli­

chen Jh.5 bestätigt die Nachricht des Berossos, daß man in Babylonien auch die Gründung eines Tempels auf göttliches Wirken zurückführte. Im Mittelpunkt dieses M y t h o s steht die Urgeschichte des Eanna, des Haupttempels der südmesopotamischen Stadt Uruk. Dieser (tatsächlich existierende, sichtbare) Tempel galt, obgleich hundertfach restauriert, dem T e x t zufolge in seinem Ursprung keineswegs als Menschenwerk. Vielmehr habe der H i m m e l s ­ gott A n , in der Urzeit v o n seiner Tochter Inanna-Ischtar gezwungen, seinen himmlischen Palast freigegeben und zur Erde herabgelassen, damit dieser nunmehr der Göttin als irdische Wohnstätte dienen könne.

Spätestens an dieser Stelle wird offenbar, daß in einem mesopotamischen Tempel mythi­

scher R a u m ( b z w . Handlungsschauplatz des M y t h o s ) und realer R a u m ineinander fließen, j a untrennbar miteinander verschmolzen sind. D i e zuvor erwähnten Ausgrabungen, die die neubabylonischen K ö n i g e veranstalteten, hatten eindeutig z u m Ziele, den uranfänglichen göttlichen Plan eines Tempels, der seinerseits als Teil des großen Weltschöpfungsaktes galt, frei v o n allen historischen Verfälschungen zu ermitteln, damit der Tempel in seiner reinsten Form und uranfänglichen Frische wiedererstehen konnte. Der K ö n i g machte so in seinem Wirken als Bauherr das K ö n i g t u m z u m Teil dieser uranfänglichen Ordnung und seine Per­

son zu deren Vollstrecker.

Altorientalische Tempelstrukturen sind, soweit durch Grabungstätigkeit erschlossen, bis­

lang nur beschrieben, aber kaum gedeutet worden.6 A l l e i n aufgrund des archäologischen Befundes wird dies auch nicht möglich sein. Verschränkt man j e d o c h die Informationen aus keilschriftlichen Tempelbeschreibungen mit den archäologischen Befunden und weiteren Texten wie B a u - und Weihinschriften, Ritualbeschreibungen und Mythen, besteht eine gute

3 Siehe P. Schnabel 1923 und S. M Burstein 1978.

4 Vgl. P. Schnabel 1923, 253.

5 J . J . van Dijk 1998, 9ff.

6 Vgl. zusammenfassend: E. Heinrich 1982.

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C h a n c e , das , W e s e n ' eines T e m p e l s und seine B e d e u t u n g für die Gesellschaft z u erfassen.

Für eine solche Untersuchung bietet sich der T e m p e l des M a r d u k in B a b y l o n ganz b e s o n ­ ders an. Z u m einen, da er zumindest in seinem architektonischen A u f b a u vergleichsweise gut dokumentiert ist, z u m anderen, da er als , H e r z ' des b a b y l o n i s c h e n Reiches Gegenstand vielfältiger T e x t z e u g n i s s e ist.

D i e Kulttopographie B a b y l o n s kann o h n e das b a b y l o n i s c h e W e l t s c h ö p f u n g s e p o s , das Enu­

ma elisch1, nicht verstanden werden. D i e s e s b a b y l o n i s c h e ,Nationalgedicht' schildert, w i e sich die j u n g e n , das L e b e n verkörpernden Götter gegen die alten Kräfte der b e w e g u n g s l o ­ sen U n o r d n u n g , die K r ä f t e des C h a o s , a u f w a r f e n . D i e alten Götter ertrugen die U n r u h e der j u n g e n nicht u n d w o l l t e n sie vernichten. K e i n e r außer M a r d u k w e i ß Rat. Unter d e m V e r ­

sprechen, ihn - sofern er erfolgreich ist - a u f e w i g z u ihrem K ö n i g z u berufen, statten die j u n g e n Götter M a r d u k mit den G e w a l t e n eines Diktators aus, u n d M a r d u k gelingt es, seine Gegenspielerin, die große Urmutter T i a m a t , z u besiegen. W i e einen Fisch spaltet er sie in z w e i Hälften. A u s der einen formt er den H i m m e l , aus der anderen die Erde. Er erschafft Gestirne, Flüsse und B e r g e u n d erwählt inmitten der Erde B a b y l o n z u seinem W o h n o r t . Dort w i r d n a c h seiner W e i s u n g der M e n s c h erschaffen, u m die anderen Götter v o n ihren A r b e i t e n z u entlasten. D i e s e nun erkennen M a r d u k a u f e w i g als ihren K ö n i g an und errich­

ten i h m z u m D a n k seinen W o h n s i t z , den M a r d u k - T e m p e l Esagil und die Stadt B a b y l o n , die als wahre Heimstatt aller Götter gilt.

Ort und Gestalt des T e m p e l s des M a r d u k w a r e n laut Enuma elisch freilich nicht zufällig gewählt. A n d e m Ort, v o n d e m letztlich alles L e b e n ausgegangen war, dort, w o M a r d u k geboren u n d der M e n s c h erschaffen w u r d e , bauten die Götter ihrem K ö n i g sein Haus. D i e s , so w i r d in Enuma elisch eindringlich betont, sei geschaffen als irdisches A b b i l d des darüber a m H i m m e l liegenden Palastes der h i m m l i s c h e n Götter u n d ebenso als A b b i l d des Palastes der in der Erde beheimateten Götter, der seinerseits unter Esagil, d e m Palast des M a r d u k , liege. Jeder der drei k o s m i s c h e n Bereiche, der H i m m e l , die Erdoberfläche und die Erde, wird dieser V o r s t e l l u n g z u f o l g e v o n e i n e m Götterpalast beherrscht. A l l e drei Paläste bilden eine vertikale A c h s e , in deren Z e n t r u m B a b y l o n mit d e m T e m p e l M a r d u k s liegt. A u s d r ü c k ­ lich wird dieser T e m p e l als Stütze u n d als V e r b i n d u n g des in der Erde befindlichen G r u n d ­ wasserhorizontes apsü m i t d e m H i m m e l bezeichnet. D a s H e i l i g t u m Esagil u n d die Stadt B a b y l o n liegen also in der Mitte der vertikalen k o s m i s c h e n A c h s e und verbinden diese mit der irdisch-gegenwärtigen W e l t . Sie sind (nach Enuma elisch) der Ort, an d e m M a r d u k bei der F o r m u n g der W e l t aus d e m L e i b e der toten T i a m a t den S c h w a n z der drachengestaltig gedachten erschlagenen Urmutter an der W e l t e n a c h s e befestigte, u m so mit ihrem Unterleib den H i m m e l festzukeilen und seinem S c h ö p f u n g s w e r k e w i g e D a u e r z u verleihen. D i e s e axis mundi n a h m für den Besucher des alten B a b y l o n s sichtbare Gestalt an in d e m siebenstufigen T e m p e l t u r m , der den N a m e n E - t e m e n - a n - k i trug, das bedeutet „ H a u s , (das das) Fundament

Vgl. die jüngsten Übersetzungen von B. R. Foster 1993, Bd. I, 351-402 und W. G. Lambert 1994, jeweils mit weiterführender Literatur.

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v o n H i m m e l und Erde (ist)" (siehe A b b . 1). D i e V e r k n ü p f u n g von K o s m o s und irdischer Realität spiegelt sich w o h l auch im Bauplan des Esagil (siehe A b b . 2). Archäologen haben sehr wohl bemerkt, daß der Innenhof des ansonsten sehr regelhaften Gebäudes nicht etwa rechteckig, sondern leicht trapezförmig ist. N i m m t man die in Enuma elisch gemachten A n g a b e n ernst, ist die sicherlich nicht unbeabsichtigte Trapezform des Hofes zu erklären.

Das Esagil sei - so heißt es in dem großen babylonischen Schöpfungsmythos - ein A b b i l d des himmlischen Götterpalastes. A l s dieser galt j e d o c h das als Sternbild Pegasus am H i m ­ mel stehende Trapez, das d e m Esagil seine Form verlieh.

A u c h auf der horizontalen, irdischen Ebene befand sich Esagil im Zentrum der Welt.

D e n n alle Götter, w o auch immer sie verehrt wurden, so Enuma elisch, betrachteten das Esagil, das Haus ihres Retters, auf den sie ewige Treue schworen, als ihren tatsächlichen Kultort. U n d in der Tat wurden all diese Götter im Esagil verehrt: unter der Prämisse frei­

lich, die der Dichter des Enuma elisch den Göttern in den M u n d legte: „ A u c h wenn die Menschen irgendeinen anderen Gott verehren sollten, ist Marduk der Gott eines jeden v o n uns!"

Der babylonische Zeitgenosse nahm die A n l a g e des M a r d u k - T e m p e l s j e d o c h nicht nur als steingewordenes und v o n den Göttern geschaffenes Bild der Weltenordnung wahr. In d e m Tempel selbst verschwammen für ihn Gegenwart und mythische Zeit. Trophäen und Reliquien des uranfänglichen Götterkampfes, der nach Marduks Sieg zur Erschaffung der gegenwärtigen Welt geführt hatte, konnte er dort leibhaftig bestaunen: Nach seinem Sieg über Tiamat hatte Marduk „Bilder" der 11 Ungeheuer der Tiamat aufgestellt, die er über­

wältigt hatte; w i e es im Enuma elisch heißt: „als Zeichen, daß man es nie vergesse". Diese v o n Marduk selbst noch vor der Erschaffung des Menschen gefertigten Skulpturen waren in dem historischen Bauwerk Esagils sichtbar. A u c h die W a f f e n , mit denen Marduk seine Gegner in der Gigantomachie besiegt, die Schicksalstafel, die er dem überwältigten Gott genommen hatte, und viele andere Objekte und Stätten, die in der V o r w e l t eine wichtige Rolle auf d e m W e g zur v o n Marduk geschaffenen gegenwärtigen Welt gespielt hatten, waren im historischen B a b y l o n sichtbar gegenwärtig.

Besondere Verehrung genoß ein aus Lehmziegeln gemauertes Podest, das im V o r h o f des Tempels stand und von den Babyloniern parak slmäti, „Sockel der Schicksalsentscheidun­

gen", genannt wurde. W i e die meisten Kulteinrichtungen in mesopotamischen T e m p e l n trägt auch dieser „Kultsockel der Schicksalsentscheidungen" einen sumerischen Namen, der du6-kü lautet. Dies bedeutet wörtlich, „reiner" oder auch „heiliger Hügel". Der „heilige H ü g e l " ist uns bereits aus den ältesten mesopotamischen kosmogonischen Vorstellungen w o h l vertraut. M i t ihm verbinden sich recht urtümliche Vorstellungen v o n der Weltentste­

hung. A u s den vorzeitlichen Urwassern, so glaubte man, habe sich zu A n b e g i n n der W e l t der Urhügel, eben jener „heilige Hügel", erhoben, und aus ihm sei wie aus einer Keimzelle alles Weitere entstanden. In der noch ungeordneten W e l t war er der Ursprung alles geordne­

ten Seins und somit der ,Nabel der W e l t ' . In dem gemauerten Podest auf dem V o r h o f des Tempels, d e m mythischen Urhügel, stülpte sich gewissermaßen die Vorwelt, der Uranfang

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allen Seins und aller Zeit, ein P o l der Zeiten, sichtbar und real in die G e g e n w a r t des b a b y l o­

nischen M e n s c h e n .

In den Ritualen des Neujahrsfestes, den bedeutsamsten öffentlichen Ritualen B a b y l o n i - ens, die z u Frühlingsbeginn in B a b y l o n stattfanden, k a m d e m parak slmäti eine besondere Stellung zu. Im R a h m e n des Neujahrsfestes w u r d e n alljährlich der K a m p f des M a r d u k ge­

gen die K r ä f t e des C h a o s , der triumphale Sieg des Gottes u n d der ordnende S c h ö p f u n g s a k t nachgelebt. E b e n s o w i e in d e m soeben k u r z z u s a m m e n g e f a ß t e n M y t h o s Enuma elisch be­

richtet, k a m e n zu d i e s e m A n l a ß alljährlich die Götter des L a n d e s in B a b y l o n z u s a m m e n . Ihre Kultbilder reisten in feierlich ausgerichteten Prozessionen aus verschiedenen Städten B a b y l o n i e n s z u diesem Ereignis an. A u f d e m „ U r h ü g e l " genannten Podest versammelten sich diese Götter, u m ihre G e w a l t an den G ö t t e r k ö n i g M a r d u k abzugeben. So legitimiert konnte dieser dann ( w i e im M y t h o s beschrieben) gegen seine große Gegenspielerin T i a m a t und die K r ä f t e z u Felde ziehen, die die W e l t in i h r e m Bestand bedrohen.

Eine feierliche P r o z e s s i o n v o n d e m „ K u l t s o c k e l der Schicksalsentscheidungen" in das außerhalb der Stadt gelegene Neujahrsfesthaus u n d das G e s c h e h e n im Neujahrsfesthaus selbst sind v o n den B a b y l o n i e r n als rituelle Reaktualisierung des i m Enuma elisch geschil­

derten A u s z u g s und K a m p f e s des M a r d u k gegen T i a m a t s o w i e seines Sieges über sie ver­

standen w o r d e n . A u f d e m W e g ins Neujahrsfesthaus w u r d e M a r d u k v o n den „Göttern des H i m m e l s u n d der E r d e " und v o m K ö n i g B a b y l o n s begleitet. D e r im M y t h o s beschriebenen triumphalen R ü c k k e h r des M a r d u k , nach der ihn die Götter in ihrer V e r s a m m l u n g endgültig z u m K ö n i g erhoben, entsprach i m Ritual des Neujahrsfestes die R ü c k k e h r des K u l t b i l d e s des M a r d u k z u m Esagil. D i e s e sehr feierliche Prozession fand ihren rituellen H ö h e p u n k t und A b s c h l u ß in einer erneuten V e r s a m m l u n g der Götterbilder a u f d e m „ K u l t s o c k e l der Schicksalsentscheidungen" (parak slmäti): E i n e klare A n a l o g i e z u der G ö t t e r v e r s a m m l u n g im M y t h o s . Eine der wichtigsten Informationen über dieses G e s c h e h e n liefert eine B a u ­ inschrift N e b u k a d n e z a r s II. ( 6 0 4 - 5 6 2 v. Chr.):

„du6-kü [ . . . ] der , K u l t s o c k e l der Schicksalsentscheidungen' (parak slmäti), a u f d e m im Neujahrsfest z u m Jahresanfang a m 8. (und) 11. T a g e L u g a l d i m m e r a n k i a (= M a r d u k ) , der Herr der Götter, verweilt, a u f d e m die Götter des H i m m e l s und der Erde i h m demütig a u f w a r ­ ten, indem sie knien, und a u f d e m sie v o r ihm stehen und ein Schicksal ewiger T a g e , das Schicksal meines Lebens festsetzen - diesen K u l t s o c k e l , den Kultsockel des K ö n i g t u m s [ . . . ] , des Fürsten M a r d u k , ( [ . . . ] verkleidete ich mit G o l d ) . "8

Sehr deutlich erkennen w i r an diesem Zitat, daß a u f d e m „ U r h ü g e l " nicht nur die Erhe­

bung M a r d u k s z u m K ö n i g der Götter und sein ordnendes S c h ö p f u n g s w e r k nachgelebt w u r ­ de, sondern daß auch der b a b y l o n i s c h e K ö n i g selbst an d i e s e m zentralen Ereignis m a ß g e b ­ lich teilhatte. So w i e i m M y t h o s M a r d u k z u m G ö t t e r k ö n i g erhoben wurde und das Schicksal der W e l t bestimmte, indem er die S c h ö p f u n g einrichtete, so wurde im Neujahrsfest der amtierende K ö n i g v o n M a r d u k und den Göttern in seinem A m t bestätigt und sein Schicksal für das k o m m e n d e Jahr bestimmt.

Siehe S. Langdon 1912, 126.

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A L T O R I E N T A L I S C H E SCHöPFUNGSMYTHEN 4 9

Der K ö n i g hatte zuvor seine Insignien abzulegen, umfangreiche Bußrituale durchzufüh­

ren und seine Vergehen dadurch zu sühnen, daß ihn ein Priester ins Gesicht schlug „bis die Tränen fließen". Dann betrat er das Podest, den „Kultsockel der Schicksale". Für einen A u g e n b l i c k stand er gemeinsam mit d e m göttlichen Herrn der W e l t auf dem Urhügel, der K e i m z e l l e allen Seins, dem Pol v o n R a u m und Zeit. Marduk, als K ö n i g der Götter, und der irdische K ö n i g , als K ö n i g der Menschen, wurden in diesem Ritual in enger A n a l o g i e anein­

ander gebunden, und für einen M o m e n t scheinen Vorzeit und Gegenwart, Götterkönig und irdischer K ö n i g im Punkt des Uranfangs ineinander zu fließen. A u s der Hand der Götter erhielt der babylonische K ö n i g dann die Herrschaftszeichen, die eigentlich die der Götter, aber nun seine eigenen waren. Dieses Ereignis ist der Höhepunkt des babylonischen N e u ­ jahrsfestes. A u s dem dort vollzogenen Ritualgeschehen dürfte der K ö n i g in erheblichem

M a ß e seine politische und theologische Legitimität bezogen haben. Durch den rituellen A k t a u f dem (mythischen und doch realen) Urhügel wurde der amtierende K ö n i g z u m Teil der klaren und frischen Ordnung des Uranfangs, der - w i e aufgezeigt - das Ideal der Ordnung für die Mesopotamier darstellte. W i e eingangs vermutet, zeigt sich hier sehr klar, daß das Idealbild der Gesellschaft und des Staatswesens, die Utopie der Mesopotamier, stets in der Urvergangenheit und nicht in der Zukunft angesiedelt war. Dementsprechend bestand die A u f g a b e eines K ö n i g s darin, die von den Göttern in der Schöpfung geschaffene, geordnete W e l t z u bewahren. Reformen werden daher in Mesopotamien grundsätzlich als das Wieder­

herstellen der (im Laufe der Zeit brüchig gewordenen) Ordnung des Uranfangs begriffen.

D i e zentripetalen Kräfte v o n Weltenachse und Urhügel haben das zentrale babylonische K ö n i g t u m nicht nur begünstigt, sondern gehören zu dessen prägenden Elementen. Staat und K ö n i g t u m verstanden sich - wie in den Ritualen des Neujahrsfestes sinnfällig gezeigt - als Teil der kosmischen Ordnung, die sich den Menschen in der axis mundi offenbarte.

Entsprechend ist auch die Anlage der Königsstadt B a b y l o n als ein A b b i l d der geordneten W e l t anzusehen, die sich der Unordnung des Außen, der Welt des Feindes entgegenstellte.

Es ist nicht zufällig, daß mehrere Stadtteile Babylons die Namen der wichtigsten m e s o p o - tamischen Kultzentren tragen. Mit der Absicht, die Stadt zu einem A b b i l d des K o s m o s zu gestalten, wurden mit großem A u f w a n d fremdartige Pflanzen und auch Tiere in den Gärten des Palastes und der Stadt heimisch gemacht. A u c h die systematische, sicherheitspolitisch nicht ganz ungefährliche Ansiedlung deportierter fremder Völkerschaften in der K ö n i g s ­ stadt mag neben rein wirtschaftlichen Gründen ebenfalls diesem Z w e c k gedient haben. D i e Stadt in ihrer A n l a g e feierte so den Götterkönig und den irdischen K ö n i g Babylons als Her­

ren der Welt.

D i e Kraft der Weltenachse von B a b y l o n war so signifikant, daß sie Gegenstand einer bi­

blischen Parabel geworden ist. Dort, in Genesis 1 1 : 1 - 9 , ist die Entstehung der ersten Stadt der (biblischen) Weltgeschichte geschildert: „ A u f , sprachen die Menschen, „bauen wir uns eine Stadt und einen T u r m mit der Spitze bis zum H i m m e l , und machen wir uns damit einen N a m e n , dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen". Der Turm, die axis mundi, gilt hier als die Kraft, die das Gemeinwesen zusammenhält.

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Die Geschichte Babylons lehrt uns, wie zutreffend diese Einschätzung ist. Im 7. Jh.

v. Chr. versuchte ein assyrischer König, den Weltherrschaftsanspruch Babylons dadurch endgültig zu brechen, daß er die Tempelanlage Babylons und namentlich den Tempelturm, das Sinnbild der kosmischen Achse, schleifen und das Kultbild Marduks nach Assyrien verschleppen ließ. Zwar wurden später die Tempel Babylons prächtiger als je zuvor wieder aufgebaut. Aber als die persischen Achämenidenkönige die Herrschaft über Mesopotamien übernahmen, kamen sie nur anfänglich den Pflichten des babylonischen Königtums nach und nahmen am Neujahrsfest in Babylon teil. Als Babylonien dann nach und nach aus dem Zentrum der Herrschaft rückte, gingen gefährliche Aufstände von Babylon aus, mit dem Ziel, das alte Königtum in Babylon wiederzuerrichten. Xerxes ließ daraufhin den stein­

gewordenen Weltherrschaftsanspruch, Stufenturm und Tempel des Marduk, erneut schlei­

fen. Alexander schließlich hat die machtpolitische Kraft, die in der kosmischen Einbindung des babylonischen Königtums liegt, sehr wohl erkannt. Er wollte Babylon, ganz im Sinne der uralten Traditionen, zu der Hauptstadt seines Weltreiches machen, und in seinem Auf­

trage sollte das Esagil nach alten Plänen wiedererstehen. Der frühe Tod Alexanders hat dies verhindert. Und so verlor Babylon - ohne die Weltenachse - rasch an Bedeutung und geriet in Vergessenheit.

In den kosmischen Entwürfen der mittelalterlichen sogenannten T-förmigen Landkarten, die Jerusalem als Zentrum des irdischen Heilsgeschehens in den Mittelpunkt der Welt set­

zen, finden die babylonischen Vorstellungen der Weltenachse eine würdige Nachfolgerin.

So wie in Babylon Weltenachse und Urhügel in die reale Welt hineinragten, konnten die

Pilger dort unter der Stätte, an der Christus starb und die Menschheit endgültig erlöste, das

Grab des Adam, den Uranfang menschlichen Seins, betrachten.

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A B c n L r a

Abb. 2

Lageplan des Marduk-Heiligtums Esagil in Babylon mit dem Tempelturm E-temen-an-ki

(aus: F. Wetzel, F. H. Weissbach, Das Hauptheiligtum des Marduk in Babylon, Esagila und Etemenanki, W V D O G 59 (1938), Tafel 2)

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ALTORIENTALISCHE SCHöPFUNGSMYTHEN

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Literatur

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Referenzen

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