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Archiv "PRÜFUNG VON ARZNEIMITTELN IN DER DISKUSSION (VI): Kontrollierte Versuche und ärztliche Ethik" (23.11.1978)

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Academic year: 2022

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Seit einigen Monaten wird in der Bundesrepublik die Frage der Straf- barkeit kontrollierter Versuche dis- kutiert, ausgelöst durch eine juristi- sche Untersuchung des Strafrecht- lers Fincke (1). Der Statistiker Koller (2) zum Beispiel sieht darin einen Angriff auf den Fortschritt der Medi- zin. Er unterstellt Fincke mangelnde Kenntnis der statistischen Grundla- gen kontrollierter Versuche, woraus sich die Unhaltbarkeit der juristi- schen Konsequenzen ergebe. Es läßt sich aber zeigen, daß Koller grundlegende Irrtümer unterlaufen sind (3). Der Strafrechtler Samson (4) ist in zahlreichen Punkten ande- rer Ansicht als Fincke, schreibt aber zusammenfassend: „Ein Blick in medizinische Fachzeitschriften macht in erschreckendem Maße deutlich, daß auch den Prüfärzten die strafrechtlichen Grenzen ihrer Tätigkeit derzeit noch völlig unbe- kannt sind". — Kümmell und Burk- hardt (5) haben unlängst anhand ei- nes konkreten Falles die Problema- tik verdeutlicht. In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, ei- ne realistische Darstellung der ethi- schen Problematik unter Berück- sichtigung der wichtigsten Literatur zu geben. Damit soll auch eine Grundlage für weitere, sachlich fun-

dierte juristische Untersuchungen geschaffen werden.

Sir Austin Bradford Hill, einem Pio- nier bei der Einführung kontrollier- ter Versuche, verdanken wir eine er- ste zusammenfassende Darstellung der ethischen Fragen (6). Hill be- ginnt mit einem nach seiner Mei- nung ethisch unbedenklichen Bei- spiel. Es sollte die Wirksamkeit von Streptomycin bei Lungentuberkulo- se geprüft werden. Der Versuch be- gann im Jahre 1946, zu einer Zeit, als das Mittel in England nur begrenzt zur Verfügung stand. Es konnten al- so nicht alle Patienten in den Genuß des Mittels kommen. Das für die Pla- nung und Durchführung des Ver- suchs verantwortliche Komitee hielt in dieser Lage die Zufallszuteilung des Medikamentes im Rahmen eines kontrollierten Versuches nicht nur für vertretbar, sondern es wurde der Verzicht auf eine solche Studie, also der Verzicht auf den damit verbun- denen Erkenntnisgewinn für un- ethisch gehalten.

Wenn die zu vergleichenden Medi- kamente ohne Schwierigkeiten er- hältlich sind, entfällt dieser Recht- fertigungsgrund. Hill vertritt nun die bis heute dominierende Ansicht, daß Kranke, zum Beispiel der depressive

Patient, darf vom Arzt erwarten, daß er weder als „Mediziner" die Psy- chotherapie vernachlässigt, noch als „Psychotherapeut" die somati- schen Aspekte verkennt.

Wenn es neben der Gebietsbezeich- nung Psychiatrie und den Zusatzbe- zeichnungen Psychotherapie bzw.

Psychoanalyse einer weiteren Ge- bietsbezeichnung bedarf, dann ge- wiß für psychosomatische Medizin.

Die psychosomatische Medizin ist ein großes Gebiet: es ist wissen- schaftlich noch wenig bearbeitet, findet in der Lehre großes Interesse und eröffnet vor allem in der Kran- kenversorgung viele Möglichkeiten

— also ein aussichtsreiches Fach.

Viele psychotherapeutisch tätige Ärzte möchten heute nicht mehr scharfe Grenzen zwischen den Fä- chern ziehen, in denen Psychothera- pie angewandt wird, und auch nicht zwischen der Ausbildung nach den Regeln psychoanalytischer Fachge- sellschaften und anderen Weiterbil- dungsgängen. Wichtiger als die Art der Wissensvermittlung sind die er- worbenen Fähigkeiten und die kli- nisch-therapeutische Erfahrung.

Nicht nur psychiatrische Kliniken, sondern in jüngerer Zeit auch psy- chotherapeutische Gesellschaften pflegen die systematische Weiterbil- dung für das Teilgebiet Psychothe- rapie.

Angesichts des Psychotherapiebe- darfs kommt es weniger auf Abgren- zungen von Krankheitsgruppen, Weiterbildungsgängen und Fachge- bieten an, sondern auf vermehrte Anstrengungen, wenn auch von ver- schiedenen Positionen ausgehend.

Anschrift der Verfasser:

Privatdozent Dr. med. Horst Mester Professor Dr. med. Rainer Tölle Psychiatrische und Nervenklinik der Universität

Roxeler Straße 131 4400 Münster

PRÜFUNG VON ARZNEIMITTELN IN DER DISKUSSION (VI)

Kontrollierte Versuche und ärztliche Ethik

Rainer Burkhardt

Bei der gegenwärtigen Diskussion um eine mögliche Strafbarkeit kontrollierter Versuche werde die ethische Problematik nicht genü- gend berücksichtigt, meinte der Autor des nachstehenden Diskus- sionsbeitrags. Der Hinweis auf „international anerkannte Regeln" sei kein Argument, dieser Diskussion auszuweichen. Der Autor unter- nimmt den Versuch, eine realistische Darstellung der ethischen Fra- gen zu geben. Im Rahmen unserer Folge „Prüfung von Arzneimitteln in der Diskussion" sind bisher Beiträge in den Heften 18, 19, 21, und 40, 43 sowie 44/1978 erschienen.

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in diesem Fall nur solche Patienten in den Versuch aufgenommen wer- den können, bei denen der Arzt die zu vergleichenden Behandlungsver- fahren als gleichwertig beurteilt:

„Dadurch, daß wir bestimmte Pa- tienten von der Teilnahme an dem Versuch ausschließen, kann die All- gemeingültigkeit des Versuchser- gebnisses eingeschränkt werden.

Aus ethischen Gründen muß dies je- doch . . . in Kauf genommen wer- den" (6).

Man beachte, daß bei Hill nicht ge- nerell von Gleichwertigkeit der Be- handlungsverfahren als Vorausset- zung für die Durchführung eines kontrollierten Versuches die Rede ist, sondern daß nach seiner Mei- nung der behandelnde Arzt sich bei jedem einzelnen Patienten fragen muß, ob er in diesem konkreten Fal- le hinsichtlich der Anwendung der Verfahren unentschieden ist. Nur unter dieser Voraussetzung wäre ei- ne Zufallszuteilung vertretbar. Es handelt sich also um ein ethisch be- dingtes Aufnahme- bzw. Ausschluß- kriterium. Nach allen Vorinformatio- nen müssen die Medikamente als gleichwertig erscheinen; das Nicht- wissen kann sich also nur auf die Frage beziehen, ob sich bei genaue- rer Untersuchung nicht doch ein Un- terschied zwischen den zu verglei- chenden Verfahren ergibt.

Hill postuliert also ein ärztliches Ur- teil als Aufnahme- bzw. Ausschluß- kriterium für einen kontrollierten Versuch. Diese Ansicht findet sich in der Literatur immer wieder. So schreiben Shaw und Chalmers (7) im Zusammenhang mit ethischen Pro- blemen bei multizentrischen Versu- chen: „Patienten, die nicht von allen beteiligten Ärzten ohne Zögern jeder der Versuchsbehandlungen zuge- teilt werden könnten, sollten nicht aufgenommen werden. Es ist ethisch unangemessen und wissen- schaftlich nicht wünschenswert, daß ein Arzt Patienten aufnimmt, die ein anderer Arzt nicht aufnehmen wür- de." Die von Hill formulierte Ansicht wird hier also dahingehend ver- schärft, daß bei Uneinigkeit der be- teiligten Ärzte der betroffene Patient nicht am Versuch teilnehmen kann.

Je deutlicher sich die Behandlungen oder Medikamente für die ärztliche Beurteilung unterscheiden, desto schwieriger ist es, Patienten zu fin- den, für die ärztliche Indifferenz be- steht. Wenn ein neues Medikament als ein außerordentlicher Therapie- fortschritt beurteilt wird, kann es sein, daß man keine Ärzte findet, die eine bisher übliche Therapie mit der neuen Therapie für gleichwertig hal- ten; folglich können dann keine kontrollierten Versuche durchge- führt werden. In der Tat ist der größ- te Teil unserer Medikamente ohne

kontrollierte Versuche eingeführt worden. „Viele der anerkanntesten Mittel — einschließlich Morphium, Digitalis, Aspirin, Insulin, Penicillin und Kortikosteroide — wurden auf der Basis von ,historischen Kontrol- len' eingeführt" (8), und zwar auch zu einer Zeit, als der kontrollierte Versuch in der Medizin bereits ein- gesetzt wurde.

Nimmt man zu den Äußerungen in der Literatur noch die in Tokio revi- dierte Deklaration von Helsinki so- wie den Internationalen Codex für ärztliche Ethik hinzu, so kann als international anerkannt gelten, daß die ärztliche Indifferenz bezüglich der zu vergleichenden Behand- lungsverfahren eine unabdingbare Voraussetzung für die Teilnahme von Patienten an randomisierten Versuchen darstellt. (Eine philoso- phische Interpretation der Deklara- tion von Helsinki findet sich bei Lau- enstein [9] .)

Unterschiedliches Patienten-Verhalten

Damit aber nicht genug. Erfahrungs- gemäß sprechen die Patienten auf die Behandlungen unterschiedlich an. Der Arzt ist daher vielfach ge- zwungen, die Therapie zu wechseln.

Im Interesse der Patienten muß dies auch in kontrollierten Versuchen möglich sein. „Obwohl die Möglich- keit, Patienten aus dem Versuch zu nehmen, die Analyse der Daten er- heblich erschweren kann, ist sie doch eine unabdingbare Vorausset- zung für ethisch geführte Versuche"

(10). Auch daran kann angesichts

der internationalen Vereinbarungen kein Zweifel bestehen.

Nun besteht aber noch ein weiteres Problem. Selbst wenn zu Beginn des Versuches die Medikamente als weitgehend gleichwertig beurteilt werden, so kann sich das unter dem Eindruck der im Versuch anfallen- den Behandlungsergebnisse än- dern. Die Patienten stehen ja in aller Regel zu Beginn des Versuches nicht vollständig zur Verfügung, sondern sie werden sequentiell so in den Versuch aufgenommen, wie sie in der Klinik anfallen. Je mehr Pa- tienten bereits aufgenommen wor- den sind, desto mehr Teilergebnisse aus der laufenden Studie liegen vor.

Da der Arzt bei jedem weiteren Pa- tienten, der für die Aufnahme in den laufenden Versuch in Frage kommt, ein Urteil bilden muß und sich das Urteil nur auf die bis zu diesem Zeit- punkt vorliegenden Informationen stützen kann, ist es sachgemäß, daß er für seine Urteilsbildung auch die bis zu dem jeweiligen Zeitpunkt vor- liegenden Versuchsergebnisse mit verwendet. Dann ist zu erwarten, daß er in zunehmendem Maße Pa- tienten ablehnen und schließlich die Aufnahme weiterer Patienten in den Versuch überhaupt verweigern wird, nämlich in dem Maße, in dem er auf- grund der neuen Informationen eine Überlegenheit einer bestimmten Be- handlung annehmen muß.

Hier hat man es mit einer Modifika- tion des ärztlichen Urteils aufgrund neuer Erfahrungen während des laufenden Versuches zu tun. Bei se- quentiellen oder mehrstufigen Ver- suchsplänen gibt es dazu eine stati- stische Entsprechung. Wenn sich die Behandlungen tatsächlich unter- scheiden, so wird sich dies in einem Trend ausdrücken, der bei sequen- tiellen bzw. mehrstufigen Verfahren statistisch überprüft werden darf.

Gegen Ende des Versuches entsteht bei sequentiellen Studien eine Si- tuation, auf die Lellouch und Schwartz (11) hingewiesen haben: je näher der Trend an die Signifikanz- grenze kommt, desto schwieriger

wird es, für die weiteren Versuchs-

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paare Gleichwertigkeit anzuneh- men.

Damit kommen wir schon zum Kern des Problems. Lellouch und Schwartz (11) haben es bereits 1971 klar formuliert: es konkurrieren im kontrollierten Versuch Individual- und Sozialethik. Insofern der Ver- uch dazu dient, die zweckmäßigste Behandlung weiterer Patienten zu bestimmen, ist er sozialethisch orientiert. Demgegenüber vertreten der Internationale Codex für ärztli- che Ethik und die Deklaration von Helsinki den Standpunkt der Indivi- dualethik Sie verpflichten den Arzt zu der Therapie, die er jeweils für optimal hält. Es ist die individual- ethische Haltung, die Hill (6) veran- laßt, nur solche Patienten für einen Versuch zu akzeptieren, bei denen ärztliche Indifferenz in bezug auf die Testpräparate besteht. Und auch By- ar (10) läßt sich von dem individual- ethischen Gesichtspunkt leiten, wenn er fordert, die Patienten, deren Interesse gefährdet erscheint, aus laufenden Versuchen herauszuneh- men. In diesen Situationen wird also der lndividualethik der Vorrang ein- geräumt.

Es ist nun schwer zu verstehen, wie unter diesen Umständen überhaupt noch ein Versuch signifikant ausge- hen kann. Während des Zeitraumes der Aufnahme von Patienten ist der Arzt zur Urteilsbildung verpflichtet, in die er selbstverständlich seine weiteren Informationen einbeziehen wird. Ein zunehmender Trend der Ergebnisse wird es ihm zunehmend unmöglich machen, seine Indiffe- renz beizubehalten. Aber selbst wenn die Patientenaufnahme abge- schlossen ist, der Versuch wegen längerer Beobachtungszeit aber noch weiterläuft, wird es ihm bei ei- nem Trend zunehmend schwerfal- len, das Interesse seiner Patienten nicht bedroht zu sehen, die Patien- ten also im Versuch zu belassen.

Kollision möglich

Es kann also eine Kollision zwischen der Individualethik des Arztes und der Kollektivethik, die implizit im

Versuch enthalten ist, entstehen. Im Konfliktfalle hätte die Individualethik den Vorrang. Es hängt von der ärztli- chen Einschätzung der Situation ab, ob ein Konfliktfall entsteht. Bei Ver- suchen mit fester Stichprobengröße darf man annehmen, daß die Kon- fliktgefahr um so größer wird, je stärker der Trend ist, der sich im Versuch zeigt. Die Problemlage bei sequentiellen Versuchen wurde be- reits besprochen. Problemlos wird man nur solche Versuche zu Ende führen können, bei denen sich kein Trend zeigt: dann bereitet die Auf- rechterhaltung der ärztlichen Indif- ferenz keine Schwierigkeiten.

Es sind tatsächlich immer wieder kontrollierte Versuche aus indivi- dualethischen Gesichtspunkten ab- gebrochen worden. (Bei Meier [12]

findet sich eine lesenswerte Diskus- sion des „ethischen Dilemmas" mit konkreten Beispielen.) In diesem Zu- sammenhang muß nun aber noch ein weiterer Gesichtspunkt hinzuge- fügt werden.

Aus methodischen, dai-nit letztlich wieder sozialethischen Gesichts- punkten ist es häufig wünschens- wert, kontrollierte Therapiestudien doppelblind durchzuführen. Der Arzt, der sich an einem solchen Ver- such beteiligt, kann keine Informa- tionen über die Behandlungserfolge gewinnen, da er die Ergebnisse, die er natürlich sieht, nicht zuordnen kann. Er bleibt, was die Versuchser- gebnisse anbetrifft, daher zwangs- läufig auf dem Kenntnisstand, den er zu Beginn des Versuches hatte. Bei multizentrischen Studien erfährt der Arzt, wenn nicht besondere Vorkeh- rungen getroffen sind oder er sich nicht selbst darum bemüht, in der Regel die Zwischenergebnisse der anderen Kliniken nicht, selbst wenn der Versuch nichtblind oder ein- fachblind durchgeführt wurde.

Es lag nun nahe, diese Situation im Interesse einer leichteren Durch- führbarkeit kontrollierter Versuche zu nutzen. Chalmers et al. (13) be- schreiben die Lage folgenderma- ßen: „Der einzig bekannte Weg, dem ethischen und wissenschaftlichen Problem zu entgehen, besteht darin,

die Studien so anzulegen, daß die Ergebnisse den betreuenden Ärzten unbekannt bleiben, und sie zu glei- cher Zeit sorgfältig von ,peers` über- wachen lassen, die dem Versuchs- leiter raten können, wann die Studie abzubrechen ist. Dieses Entschei- dungs- oder Beratungsgremium muß von Beginn der Studie beteiligt und ermächtigt sein, das Ende der Studie bekanntzugeben, wenn näm- lich ein vernünftiges Ergebnis er- reicht wurde. Dieses von dem For- scher gewählte Verfahren, das ethi- sche Dilemma und das wissen- schaftliche Handicap, die durch die Kenntnis der Trends entstehen, zu handhaben, sollte dem Patienten als Teil der Aufklärung über den Ver- such erklärt werden, so daß sich sei- ne Einwilligung auch darauf be- zieht."

Im Gegensatz zu den bereits bespro- chenen Konfliktsituationen, die ein- deutig zugunsten der Individualethik entschieden wurden, wird also diese Konfliktsituation durch „ethische Blindheit" der behandelnden Ärzte und Verlagerung der Verantwortung in ein übergeordnetes Gremium ge- löst und durch die Zustimmung der Patienten zu diesem Verfahren zu legitimieren versucht., Der Konflikt muß nun in diesem Gremium ausge- tragen werden. Dabei hat zunächst nicht die lndividualethik Priorität, sondern man läßt unter sozialethi- schen Gesichtspunkten den Ver- such so lange laufen, bis „a reason- able conclusion has been reached"

(so die Originalfassung von Chal- mers et al. [13]), sei es nun in Form eines statistisch signifikanten Er- gebnisses, sei es aufgrund intuitiver Beurteilung der aufgelaufenen Re- sultate. Erst dann wird der Versuch für beendet erklärt.

Durch die Schaffung dieser „adviso- ry boards" in Verbindung mit der Zustimmung der Patienten wird also die Sozialethik in das ärztliche Han- deln eingeführt. Würde man auf die- se Konstruktion verzichten, bestün- den kaum noch Aussichten, kontrol- lierte Versuche zu einem signifikan- ten Ende zu bringen oder jedenfalls die Versuche so weit zu führen, daß echte Schlußfolgerungen hinsicht-

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lich der Überlegenheit einer der Be- handlungsverfahren gezogen wer- den können. Es könnten dann nur noch solche Versuche regulär zu Ende geführt werden, bei denen sich kein Trend zugunsten eines Verfah- rens ergibt.

Gefahrenpunkte

Die Erkenntnis, daß kontrollierte Versuche ständig Gefahr laufen, ei- nen sozialethischen Charakter anzu- nehmen, also die Gefahr, daß Ver- suchspatienten im Interesse der bestmöglichen Behandlung zukünf- tiger Patienten schlechter behan- delt, bei Letalitätsvergleichen „ge- opfert" werden, hat einige Statisti- ker dazu veranlaßt, Verfahren zu entwickeln, mit deren Hilfe die Zahl der Patienten, die mit dem schlech- teren Medikament behandelt wer- den, möglichst klein gehalten wer- den kann. Es muß betont werden, daß diese Verfahren sich in der Pra- xis noch nicht durchsetzen konnten, was in Anbetracht ihrer vereinfa- chenden Modellannahmen auch nicht verwunderlich ist. Sie haben jedoch den Vorteil, daß der sozial- ethische Charakter kontrollierter Versuche bis in die Formeln hinein sichtbar wird.

Ein derartiges Modell wurde 1963 von Colton (14) vorgestellt. Es wird angenommen, daß N Patienten in- nerhalb eines Zeitraumes zu behan- deln sind. Mit 2n Patienten, die ei- nen Teil der N Patienten darstellen, wird ein kontrollierter Versuch durchgeführt. n Patienten erhalten eine herkömmliche Therapie, weite- re n Patienten ein neues Medika- ment. Nach Abschluß des Versuches wird entschieden, welches der bei- den Medikamente den verbleiben- den N-2n Patienten gegeben werden soll. Der zu erwartende Verlust für alle N Patienten ist in dem Modell:

Erw. Verlust = C • 8 • {n + (N-2n) • P (schl. Med.)}

wobei C und 8 Proportionalitätsfak- toren sind und P (schl. Med.) die Wahrscheinlichkeit bedeutet, nach Versuchsabschluß das schlechtere Medikament auszuwählen.

Es soll nun der Stichprobenumfang 2n so festgelegt werden, daß sich insgesamt, also für die N Patienten ein möglichst niedriger Verlust er- gibt. Genau das aber ist sozialethi- sches Verhalten.

In einer Arbeit von Zelen (15) wird der sozialethische Charakter klar ausgesprochen: „Neuerdings haben sich Statistiker theoretisch mit eini- gen der mathematischen Probleme beschäftigt, die durch die Anwen- dung statistischer Verfahren bei kontrollierten Versuchen entstehen.

Der leitende Gedanke für die mei- sten der neueren Techniken ist ethi- scher Natur, nämlich den Versuch nicht länger als nötig auszudehnen, da ein Versuch, der ungerechtfertigt lange geführt wird, zu einer übermä- ßig großen Zahl von Patienten führt, denen die schlechtere Therapie zu- teil wird. Dieses ethische Prinzip hat die Entwicklung von statistischen Techniken angeregt, die zum Ziel haben, einen Versuch zum frühesten Zeitpunkt zu beenden, an dem eine Entscheidung, welche Therapie die bessere ist . , getroffen werden kann."

Mit Hilfe der von Zelen beschriebe- nen Regel ist es möglich, die Zahl der Versuchspatienten, die das schlechtere Medikament bekom- men, kleiner zu halten als die Zahl der Patienten, die das bessere Mittel erhalten. — Einen Überblick über die Entwicklung bis 1974 gibt Weinstein (16). Gehan und Freireich (17) schla- gen im gleichen Jahr vor, in be- stimmten Fällen auf randomisierte Kontrollen überhaupt zu verzichten.

Pocock (18) stellt 1976 ein Verfahren vor, das historische Kontrollen in ei- nen Versuch, der auch randomisier- te Kontrollen enthält, einbeziehen kann. Die Konfliktsituation ist also auch in der statistischen Literatur offensichtlich. Sie wird ganz über- wiegend zugunsten der sozialethi- schen Haltung entschieden, wobei man versucht, die dabei auftreten- den Benachteiligungen von Ver- suchspatienten so klein wie möglich zu halten.

Einer der wenigen Ansätze, auch das individualethische Verhalten in

die Modellüberlegungen einzube- ziehen, findet sich in der bereits zi- tierten Arbeit von Lellouch und Schwartz (11). Eigene Untersuchun- gen, die an anderer Stelle veröffent- licht werden, haben gezeigt, daß da- bei Fehlentscheidungen auftreten können. Aus der Möglichkeit von Fehlentscheidungen ergibt sich die Notwendigkeit des ärztlichen Erfah- rungsaustausches. Das Modell führt damit auf ein ärztliches Verhalten, das vor der Einführung kontrollierter Versuche ausschließlich die medizi- nische Entwicklung bestimmte und das auch jetzt noch notwendiger- weise vorherrscht.

Da kontrollierte Versuche nicht von selbst allgemeingültige Wahrheiten produzieren, sondern auf ihren Wert und ihre Verallgemeinerungsfähig- keit hin beurteilt werden müssen, ist es nämlich nötig, sie in den Erfah- rungsaustausch einzubeziehen, ins- besondere dann, wenn sich die Er- gebnisse verschiedener Versuche widersprechen. Nach Überla (19) verläßt man sich in dieser Situation meist auf den gesunden Menschen- verstand.

Internationale Dimension

Die bisherigen Erörterungen hatten insofern internationalen Charakter, als sie für alle Länder der Welt gel- ten, die sich den genannten interna- tionalen Vereinbarungen ange- schlossen haben und in denen wis- senschaftliche Forschung in dem hier gemeinten Sinne betrieben wird. In der Bundesrepublik werden seit einem Jahr mögliche strafrecht- liche Konsequenzen kontrollierter Versuche diskutiert. Zuvor hat es im- mer wieder warnende Stimmen ge- geben. So hatte zum Beispiel Kienle (20) im Rahmen vorwiegend medizi- nisch orientierter Untersuchungen die Frage der Rechtswidrigkeit an- gesprochen, und zwar im Zusam- menhang mit dem damaligen Regie- rungsentwurf für das inzwischen in Kraft getretene neue Arzneimittelge- setz. „Wenn nun vom Staat ,klini- sche Versuche' am Patienten ver- langt werden — die damit ,Versuche

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am Menschen' sind —, so postuliert er eine Aufopferungspflicht des Pa- tienten für die Allgemeinheit. Diese Aufopferungspflicht wurde bislang nur geltend gemacht bei Impfung usw., wenn das Individuum durch eine Erkrankung die Allgemeinheit gefährden kann. Eine Aufopferungs- pflicht... für den Nutzen anderer Menschen ist verfassungsrechtlich nicht verankert."

Es kann kein Zweifel daran beste- hen, daß die sozialethische Haltung einen Aufopferungsanspruch an einzelne Individuen stellt. Wenn Kienle also von Aufopferungspflicht spricht, so bezieht er sich auf das, was wir bisher als Sozialethik be- zeichnet haben. Jede Regulierung des Arzneimittelmarktes, die die Durchführung kontrollierter Versu- che zu einer conditio sine qua non macht, ist zwangsläufig sozial- ethisch orientiert und impliziert die

„Aufopferung" einzelner Patienten.

In der endgültigen Fassung des neu- en AMG 1976 in der Bundesrepublik wird der kontrollierte Versuch auch nicht mehr gefordert. Es wird zwar nach wie vor ein Wirksamkeitsnach- weis verlangt, dieser ist jedoch nach dem Ausschußbericht „entschei- dungstheoretisch anzugehen". „Un- geachtet eines fehlenden wissen- schaftlichen Beweises müssen gleichwohl schon diese Erfahrun- gen je nach Lage des Einzelfalles die Basis für eine Zulassung bilden"

(21).

Die bisherigen Ausführungen haben eindeutig eine Interessenkollision von Individual- und Sozialethik bei kontrollierten Versuchen ergeben.

Das Ergebnis von Fincke (1) bezieht sich nun ausschließlich auf normale Behandlungsverträge, in denen der Arzt die von ihm für optimal gehalte- ne Therapie schuldet, denen zufolge er also zu individualethischem Ver- halten verpflichtet ist. Nach Fincke gibt es jedoch noch eine andere Möglichkeit.

Wenn der Arzt aufgrund des Ver- suchsplanes ein Mittel geben muß, das er nicht mehr für optimal halten kann, so kann dies nach Fincke (22)

auf der Basis einer anderen Ver- tragsgestaltung geschehen. Fincke hält — im Gegensatz zu anderen Juri- sten — beispielsweise die Einwilli- gung in Lebensgefährdung für juri- stisch unbedenklich. Es wäre also in diesem Fall kein Behandlungsver- trag, sondern ein Versuchsvertrag abzuschließen, der beinhaltet, daß der Arzt nur die Therapie schuldet, die sich aus dem Versuchsplan er- gibt. Solche Verträge werden aus praktischen Erwägungen (ohne den hier entwickelten theoretischen Hin- tergrund) bereits gehandhabt. Re- novanz (23) zum Beispiel nennt sie Experimentierverträge. Vielleicht könnte auch die schriftliche Zustim- mung des Patienten zu der Advisory- board-Konstru ktion als Zustimmung zu einem solchen „Versuchsver- trag" interpretiert werden.

Konflikt

nicht ausgeräumt

Auf diese Weise wäre zwar die sozialethische medizinische For- schung juristisch abgesichert, der Konflikt mit der in Tokio revidierten Deklaration von Helsinki bliebe je- doch bestehen. Wegen des zu er- wartenden erheblichen Rückganges verfügbarer Patienten wäre sie fer- ner bei weitem nicht mehr in dem Umfange zu betreiben wie bisher.

Gegenwärtig gibt es Ärzte, die nur dann von der Wirksamkeit eines Me- dikamentes überzeugt sind, wenn sie in kontrollierten Versuchen de- monstriert werden konnte.

Es gibt ferner Arzneimittelzulas- sungsbehörden, die die Vorlage kontrollierter Versuche zwingend vorschreiben. In den Fällen, in de- nen der Strafbarkeitsvorwurf zutrifft, in denen aber nicht genügend Pa- tienten im Rahmen von Versuchs- verträgen gewonnen werden kön- nen, entsteht dann eine gegenwärtig unlösbare Konfliktsituation: werden kontrollierte Versuche durchge- führt, setzen sich die Beteiligten der Anklage wegen Menschenversu- chen aus. Werden sie nicht durchge- führt, wird der Vorwurf erhoben, Arzneimittel von zweifelhaftem Wert

auf den Markt zu bringen bzw. die Zulassung wird schlicht verweigert.

Da kein Zweifel an der Priorität der juristischen Gesichtspunkte beste- hen kann, kann in diesen Fällen ein Ausweg nur mit neuen Methoden der Arznei m ittelbeu rtei lung gefu n- den werden.

Auf jeden Fall ergibt sich aus der neuen Rechtslage durch die §§ 40 und 41 AMG und aus der Tatsache, daß immer wieder Studien veröffent- licht werden, die ethisch fragwürdig sind, die Notwendigkeit, bei der Pla- nung und Durchführung klinischer Versuche die juristischen Gesichts- punkte umfassend zu berücksichti- gen.

Literatur beim Verfasser

Anschrift des Verfassers:

Rainer Burkhardt Institut für

klinische Pharmakologie Gemeinnütziges

Gemeinschaftskrankenhaus Beckweg 4

5804 Herdecke/Ruhr

ZITAT

Attraktives Serviceangebot

„Vielen Wahlleistungen fehlt es heute noch an der genü- genden Attraktivität. Wenn manche Krankenhäuser über den 35 Prozent betra- genden Mindestzuschlag für ein Einbettzimmer und 15 Prozent für ein Zweibettzim- mer hinausgehen, dann muß sich das auch in der Qualität des zusätzlichen Services niederschlagen, den die Pa- tienten bezahlen müssen."

Dr. jur. Christoph Uleer, Di- rektor des Verbandes der privaten Krankenversiche- rung e. V., Köln

Referenzen

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