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Diskursive HerrschaftWie sich Traditionen, Normen und Wahrheiteneinbrennen

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D i sku rsi ve H errsch a ft

Wi e si ch Tradi ti on en , N orm en u n d Wah rh ei ten ei n bren n en

Disku rs, Kategorien, Erwartu ngen, Standards: Die H errsch aft im Kopf Der allm ächtige M arkt u nd die institu tionelle H errsch aft (vor allem der Staat u nd von ih m legitim ierte I n stitu tion en) sind direkt sicht- u nd spü rbar. Doch damit sind die vielen B eh err- sch u n gen , den en M ensch en au sgesetzt sind, bei weitem n icht vollständig erfasst. Aller- dings sind alle weiteren Form en schwieriger erken nbar, weil u nterschwelliger. Sie verklei- den sich als sch einbar eigen e M einu ng oder sind gar nicht spü rbar. Eine dieser versch leier- ten B eh errsch u ngsform en ist die Steu eru ng des Denkens, Wertens u n d der eigenen I denti- tät du rch Disku rse, Deu tu ngen u nd Erwartu n gsh altu ngen.

Du rch gesellsch aftlich e Zu richtu ng (Erzieh u n g, Erwartu ngsh altu ngen, Ansch au u ng gesell- sch aftlich er P raxis als „ N ormalität” ), Sprach e, gerichtete Komm u nikation u nd die P ropa- gieru n g u nd Du rch setzu ng statt Vereinbaru ng von Stan dards (tech n isch e N ormen, „ das m ach en alle so” oder „ so ist das nu n m al“, Verh altenskodex u sw. ) entsteh en Fremdbestim- m u ng u nd u ntersch iedlich es Wertigkeitsempfin den zwisch en M ensch en. Alle werden in ih - rem Leben fü r eine bestimmte soziale „ Rolle“ beeinflu sst, d. h . „ konstru iert“ : Frau en ge- genü ber M ännern, Ju gendlich e gegenü ber Erwach sen en , M en sch en oh n e Absch lu ss ge- genü ber solch en mit akadem isch em Grad, Arme gegen ü ber Reich en, Arbeitneh merI nn en gegenü ber ArbeitgeberI nnen oder Selbständigen, sog. B eh inderte gegenü ber „ Gesu n- den“, N ichtdeu tsch e gegenü ber Deu tsch en (u n d jeweils u m gekeh rt). Diese u nd viele Un- tersch iede bestü n den au ch dann, wenn M ensch en frei aller sonstigen H errsch aftsverh ält- n isse wären. Das ist nicht Sch u ld der M ensch en oder ih rer Zu sammensch lü sse, aber n ichtsdestotrotz der Fall. Es ist au ch nicht einh eitlich , denn die oben genannten Personen- kreise sind keine einh eitlich en Gru ppen − aber in der Tendenz sin d sie gesellsch aftlich

„ konstru iert“, d. h . ih nen wird ü ber Jah re u nd Jah rzeh nte eine gesellsch aftlich e Rolle, Er- wartu n gsh altu n g u nd ein Selbstwertgefü h l vermittelt. I nnerh alb dessen leben sie „ fu nktio- n al“ in den realen Gesellsch aftsverh ältnissen , d. h . sie empfin den ih re Position als richtig fü r sich selbst, neh men sie desh alb nicht m eh r als konstru iert wah r u n d weh ren sich nicht ge- gen diese. Das Konstru kt ist zu r „ M atrix“ ih res Lebens geworden , oh ne dass ih nen das be- wu sst ist oder die eigene Rolle bewu sst gewäh lt wu rde.

Au s Fou cau l t, Mich el (1 991 ): „D ie Ordn u n g d es D isku rses“

Der Diskurs − dies lehrt uns immer wieder die Geschichte − ist auch nicht bloß das, was die Kämpfe oder die Systeme der Beherrschung in Sprache übersetzt: er ist dasjenige, wo- rum und womit man kämpft; er ist die Macht, derer man sich zu bemächtigen sucht. (S. 11 ) Dieser Wille zur Wahrheit stützt sich, ebenso wie die übrigen Ausschließungssysteme, auf eine institutionelle Basis: er wird zugleich verstärkt und ständig erneuert von einem ganzen Geflecht von Praktiken wie vor allem natürlich der Pädagogik, dem System der Bücher, der Verlage und der Bibliotheken, den gelehrten Gesellschaften einstmals und den Laborato- rien heute. Gründlicher noch abgesichert wird er zweifellos durch die Art und Weise in der das Wissen in einer Gesellschaft eingesetzt wird. Es sei hier nur symbolisch an das alte grie- chische Prinzip erinnert: dass die Arithmetik in den demokratischen Städten betrieben wer- den kann, da in ihre Gleichheitsbeziehungen belehrt werden; dass aber die Geometrie nur in den Oligarchien unterrichtet werden darf, da sie die Proportionen der Ungleichheit auf- zeigt. (S. 1 5 f. )

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Au s Ch ristoph Sp eh r, 1 999: „D ie Al ien s sin d u n ter u n s“, Siedl er Verl a g Mü n ch en (S. 43+ 51 f) Das Individuum kann auch sich selbst nicht ohne weiteres trauen. Es wird nicht nur ge- täuscht (wovon die Demokraten ausgehen); es ist nicht nur Träger falschen Bewußtseins als Spiegelung falscher gesellschaftlicher Verhältnisse (wovon die Marxisten ausgehen). Es hat selbst teil an allen starken wie dunklen Kräften der Geschichte, kollektiven wie unbewußten Prozessen; es produziert sie selbst, und es ist mit seiner Aufgabe, all dies zu intergrieren, häufig überlastet. . . .

Man kann den Kapitalismus nicht verstehen, wenn man nur die Industrieländer analysiert.

In ähnlicher Weise kann man das Patriarchat nicht verstehen, wenn man nur die Männer und ihre Interessen analysiert. Und man kann die Aliens nicht verstehen, wenn man nicht auch uns analysiert.

Alle Herrschaftsbeziehungen sind fatale Symbiosen. Ihre Auflösung erfordert auch von den Beherrschten, sich zu verändern. . . .

Herrschaft ist, wie Foucault herausgearbeitet hat, nicht einfach Unterdrückung. Sie ist schöpferisch. Sie ordnet die Verhältnisse, sie bringt Beziehungen und Identitäten hervor, sie ist kreativ. . . . Wir sind keine Steine; wir können nicht ohne irgendeine soziale Form, ohne irgendeine psychische Verfassung, ohne irgendein gesellschaftliches Verhältnis existieren.

Herrschaft realisiert eine Möglichkeit von uns; und solange wir keine andere finden, kön- nen wir nur dienen oder untergehen.

Au s Wil k, M, 1 999: „Ma ch t, H errsch aft, E m an zipation“. Trotzdem Verl ag Grafen au Im Unterschied zur leicht zu identifizierenden „alten“ pyramidalzentralistischen Herrschafts- struktur, „haben wir es bei der „modernen Form staatlicher Herrschaft“ mit einem System von Machtzirkulation zu tun, die sich der Wahrnehmung eher entzieht, indem sie Konfron- tation meidet und nicht auf-, sondern durch die Menschen hindurchwirkt. Auch „durch uns“

wirkt ein Staatssystem, das den gesamten sozialen Körper mit einem Funktionsgeflecht der Macht zu durchziehen sucht, das die Menschen integrativ okkupiert, Identifizierungsebenen schafft und den gesellschaftlichen Mainstream als Autoregulativ nutzt, und sich so Zugang geschaffen hat zu den Prägungsebenen von Werten und Glücksgefühlen“. . . . (S. 22) Für den/die Unterdrückte innerhalb der klassischen Hierarchie ist der eigene Standpunkt spürbarer, und es stellt sich, wenn überhaupt, sehr schnell das Problem der Möglichkeit zum und zur Wahl der Mittel des Widerstands. Unter den integrierenden Bedingungen des modernen Staats steht an erster Stelle das Problem der Entwicklung eines Gespürs für den schwer wahrnehmbaren „privilegierten Freiheitsverlust“. Dieser unterdrückt nicht mittels Ge- walt, sondern er bietet an: Die Teilnahme am Konsens, die Möglichkeit sozialen Aufstiegs und sozialer Sicherheit. Die Anpassung ins Regelwerk und die Übernahme der Herrschafts- konzeption erfolgt auf dieser Grundlage freiwillig und automatisch. . . . (S. 24)

Die Systeme flächiger Herrschaftstruktur. die weniger hierarchisch auf, sondern durch den Menschen hindurch wirken. entmündigen durch Integration und durch einbindende „Teil- kompetenz“. (S. 47)

Der Disku rs formt das, was als normal betrachtet wird. Er trennt in I nnen u nd Au ßen, dazu - geh örend u nd das An dere, Frem de oder sogar B edroh lich e. Er ist die Ordnu ng im Den- ken . Das macht ih n so wirkmächtig. Er kommt als h arm los wirken de M einu ng h erü ber, die ja sch einbar alle oder zu mindest viele M en sch en ru ndh eru m au ch h aben. Der Disku rs ist das Selbstverständlich e im Denken, er bedarf keines Einsatzes direkter M achtm ittel. Wenn das Denken einer fremdbestim mten Ordnu ng u nterworfen wird, können die offensichtli- ch en Waffen der Ordnu ng ru h en. Kein M ensch m u ss u nterworfen werden, u m das zu den- ken u n d so zu h andeln, wie der Disku rs steht.

Au s Ch ristoph Sp eh r, 1 999: „D ie Al ien s sin d u n ter u n s“, Siedl er Mü n ch en (S. 1 54+ 2 2 8+ 2 57) Welche Lösungen sich für ein Problem durchsetzen, hängt wesentlich davon ab, was über- haupt als Problem gesehen und wie es interpretiert wird; genau das macht einen Diskurs aus. „Entwicklung“ ist zum Beispiel ein Diskurs, der auf den Sachverhalt ungleicher Lebens-

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chancen in der Welt antwortet und das Problem in einer bestimmten Weise definiert, näm- lich als ungenügende Entwicklung. Erfolgreiche Diskurse kann man nicht rein repressiv durchsetzuen, sie müssen auch Anknüpfungen für die Erfahrungen und Interessen der Be- herrschten und der KritikerInnen bieten. Dafür bietet die repressive Toleranz ideale Voraus- setzungen. Öffentliche Kritik ist zulässig und ermöglicht es, potentielle Rohrkrepierer schnell vom Markt zu nehmen; die ungleiche Verteilung der Ressourcen gerantiert wiederum, dass die Ausgestaltung des Diskurses in eine Richtung geht, die den herrschenden Interessen ent- gegenkommt. . . .

Es gibt keinen Ort außerhalb der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit. Welche Ge- schichte erzählt wird, hat mit Macht zu tun. Die Macht legt fest, was wahr ist. Sie bestimmt nicht nur die Lösungen, sie formuliert auch die Fragen und definiert die Probleme.

Deshalb besagt die Abwesenheit sichtbarer Gewalt nicht, dass die Zustände herrschaftsfrei wären. Jene furchtbaren Familien, in denen die Kinder der Autorität der Eltern folgen,

„ohne dass man sie je hätte zwingen müssen“, sind typische Beispiele. . . .

Die Diskurse sind keine reine Theorie. Sie sind eine Praxis. Sie leiten heute das Handeln in- ternationaler Institutionen und nationaler Regierungen. Eine Menge Geld fließt in einspre- chende Programme der Umsetzung und der Öffentlichkeitsarbeit. Der intellektuelle An- spruch ist dabei bemerkenswert gering. Man strengt sich nicht besonders an, den neuen Diskursen mehr als Stammtischniveau zu verschaffen. Das ist auch nicht nötig. Die Post- Entwicklungs-Diskurse siegen durch Masse: durch die Anzahl ihrer Flugblätter und Publika- tionen; durch die Beharrlichkeit, mit der ihre Fragestellungen zur besten Sendezeit wieder- holt werden; durch das Geld, mit dem sie sozialen Bewegungen das Angebot zum Mitma- chen versüßen.

Au s Gol d h a gen , D an iel J. (1 996): „H itl ers wil l ige Vol l strecker“ (S. 85)

Man muss sich das kognitive, kulturelle und teils sogar das politische Leben einer Gesell- schaft wie ein „Gespräch“ vorstellen.

Alles was wir über die gesellschaftliche Wirklichkeit wissen, ist dem Strom dieser ununter- brochenen „Gespräche“ entnommen, die diese Realität konstituieren. Wie könnte es auch anders sein, da Menschen niemals auf eine andere Weise etwas hören oder erfahren? Mit Ausnahme weniger, außergewöhnlich origineller Leute sehen die einzelnen die Welt auf eine Art, die mit dem „Gespräch“ ihrer Gesellschaft im Einklang steht.

Au s H a rdt, M. /N egri, A, 2002 : „E m pire“. Cam p u s Verl ag F ran kfu rt (S. 1 02 )

Die Moderne setzte an die Stelle der traditionellen Transzendenz der Befehlsgewalt die Transzendenz der Ordnungsfunktion.

Ein en ger Zu samm enh ang besteht zwisch en Wah rh eit, N orm alität u nd Dis- ku rs. Denn die Einteilu ng von wah r u nd falsch ist eine Ordnu ngsfu nktion des Denkens. Was als wah r em pfu nden wird, u nterliegt aber der disku rsiven B eein- flu ssu ng. Die Wirku ng ist enorm : Die Überzeu gu n gskraft, wenn etwas als wah r gilt, ist u ngleich h öh er als die ein es Polizeiknü ppels.

Disku rse m ü ssen nicht gezielt wertender N atu r sein. Es gibt viele Vorstellu n gen von der Welt, die als Allgem eingu t das Denken u nd das gesellsch aftlich e Wesen prägen , oh ne dass jeman d benennen könnte, au f was sie beru h en au ßer ih rer ständigen Verwendu ng u n d da- m it Akzeptanz als gegeben e Tatsach e, qu asi einer sozial geformten N atu r. Gesch lechter u nd Rassen waren das ü ber lange Zeit, bis sie in neu erer Zeit als Kategorien allm äh lich in Frage gestellt werden.

I n der modern en P hysik wird sch on länger darü ber n ach gedacht, ob die Zeit ein e I llu sion ist. Sie wäre eine wirku ngsvolle, weil nicht n u r ü berall vorh andene, sondern fü r das ge- samte Denken der M ensch en prägende, weil der M ensch Erlebnisse u nd Erwartu ngen in der Regel au f einer gedachten Zeitleiste einordnet. So erh ält die Zeit eine zentrale Stellu ng in der Wah rneh mu ng von Welt, die sich im Kopf bildet.

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Meh r zu Wah rh eit und

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Diskurs unter www.

projektwerkstatt.de/

dem okratie/

popul _diskurs. htm l

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D i sku rssteu eru n g

Disku rse sind eng verbu nden m it direkten u nd marktförm igen H errsch aftsform en . Denn sie sin d ü ber diese beeinflu ssbar − ü ber B ildu ng, M edien, Streu u ng gezielter I nform atio- nen sowie ü ber Wissen sch aft. Gerade letztere h at viel dazu beigetragen, biologistisch e N or- m en zu sch affen. Dass Frau en gefü h lsbetonter sin d, dass Schwarze sportlich er, aber wen i- ger intelligent sind, dass M inderjäh rige n icht m ü ndig sin d, wer als beh indert gilt − all das h at seinen H intergru nd in wissensch aftlich en Disku rsen u nd deren ständigen Weitertragen im Alltag. Die I nstitu tionen der H errsch aft nu tzen die Disku rse u nd beeinflu ssen sie ü ber ih re h erau sgeh obenen M öglich keiten . B eispiele der letzten Jah re sind die h u manitären Kriege (weitgeh end gelu ngen er Disku rs), der Woh lstan d du rch globale M ärkte (in großen Teilen gesch eitert, weil P roteste Gegendisku rse sch u fen) oder das Gu te an der Dem okratie ein sch ließlich der Versch leieru ng ih rer H errsch aftsförm igkeit (weitgeh end gelu ngen).

Au s Gron em eyer, M. (1 988): „D ie Mach t der B ed ü rfn isse“, Rororo-Verl ag

Die Macht hat sich modernisiert in unseren Breiten. Sie hat ihre Plumpheit, Dreistigkeit, Roh- heit, das Barbarische abgelegt. Eine Macht, die sich terroristisch gebärdet, mit Gewalt her- umfuchtelt, trägt den Makel, hoffnungslos altmodisch zu sein, nicht auf dem laufenden, nicht up to date. Auch hier gibt es ein Nord-Süd-Gefälle. Elegante Machtausübung ist ein Privileg der „Ersten Welt“. Diktatur, Tyrannei, grelle Ausbeutung, die schäbigen Gestalten der Macht, bleiben den armen Ländern vorbehalten.

E rich F rom m (1 990): „D ie F u rch t vor der F reih eit“, dtv in Mü n ch en (S. 87)

In einer jeden Gesellschaft bestimmt der Geist, der in den mächtigsten Gruppen dieser Ge- sellschaft herrscht, den Gesamtgeist. Das kommt zum Teil daher, dass diese Gruppen das gesamte Bildungssystem unter ihrer Kontrolle haben − die Schulen, die Kirche, die Presse und das Theater -, wodurch sie die ganze Bevölkerung mit ihren eigenen Ideen durchträn- ken. Außerdem genießen diese mächtigen Gruppen ein solches Ansehen, dass die unteren Schichten nur allzu bereit sind, ihre Wertbegriffe zu übernehmen, sie nachzuahmen und sich mit ihnen psychologisch zu identifizieren.

Au s Fou ca u l t, Mich el (1 991 ): „D ie Ord n u n g d es D isku rses“ (S. 1 1 )

Ich setze voraus, dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrol- liert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird − und zwar durch gewisse Prozeduren, de- ren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unbere- chenbare Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umge- hen.

Au s Fou ca u l t, Mich ael (1 977): „D ispositive der Mach t“, Merve Verl ag B erl in (S. 51 ) Nicht die Veränderung des „Bewußtseins“ der Menschen oder dessen, was in ihrem Kopf steckt, ist das Problem, sondern die Veränderung des politischen, ökonomischen und institu- tionellen Systems der Produktion von Wahrheit. Es geht nicht darum, die Wahrheit von jeg- lichem Machtsystem zu befreien − das wäre ein Hirngespinst, denn die Wahrheit selbst ist Macht − sondern darum, die Macht der Wahrheit von den Formen gesellschaftlicher und kultureller Hegenomie zu lösen, innerhalb derer sie gegenwärtig wirksam ist.

Disku rse als Legitim ation von H errsch aft

Ob die Au sbeu tu ng am Arbeitsplatz, die u n gleich e Verteilu n g von Reichtu m u nd P rodu k- tionsmitteln, P rivilegien oder institu tionelle M acht − imm er brau cht H errsch en ein en Legi- timationsh intergru nd, u m dau erh aft besteh en zu könn en. Dieser wird ü ber Disku rse ge- sch affen . Sie reden u n s ein, dass oh ne au toritäre Ordnu n g n u r Ch aos u nd Gewalt h err- sch en wü rde, dass Gott M änner u nd Frau en fü r u ntersch iedlich e Rollen gesch affen h at, dass die weiße Rasse existiert u nd ü berlegen ist u sw.

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Von Gesetzen u ntersch ieden sich Disku rse du rch ih re intensive Verankeru ng qu er du rch die ganze Gesellsch aft. Alle P rivilegierten singen das Lied von der gu ten B egrü ndu n g fü r ih ren Statu s, aber selbst viele der Unterprivilegierten glau ben an den h öh eren Sin n ih res h erabgestu ften Daseins. Sie geben ih re Überzeu gu n gen in sozialer Zu richtu ng via Erzie- h u ng, Religionen, Ritu ale oder einfach en Gespräch en im Alltag weiter.

Als B egriff des H erstellens entweder . . .

• eines Zu samm en h anges der Zu geh örigkeit zu einer n icht-sozial abgegrenzten Gru ppe von M ensch en (z. B. n ach biologisch em Gesch lecht, Alter, H au tfarbe, Größe, Woh nsitz, H erku nft, Abstamm u ng) u nd beh au pteten sozialen Eigenartigkeiten oder

• eines Zu samm en h anges der Zu geh örigkeit zu einer sozial abgegrenzten Gru ppe von M ensch en (z. B. nach Religionszu geh örigkeit, B ildu ngsgrad, Sprach e, B eru f, Titel) u nd beh au pteten, allgem einen (d. h . ü ber das soziale Abgrenzu ngsmerkm al h inau s- geh enden) sozialen Eigenartigkeiten

wird oft „ Konstru ktion“ verwendet, wobei au ch dieser − wie beim Disku rs − einsch ließlich einer kontinu ierlich en Weitergabe dieses kon stru ierten Zu sam-

menh anges (z. B. ü ber Generationen, Sprach e, Tradition en, Gesetze u n d N ormen − bewu sst u n d u nbewu sst) gemeint ist. Das Dem askieren des du rch Konstru ktion entstandenen Disku rses h eißt dann Dekonstru ieren, die gesellsch aftspolitisch e Th eorie dazu „ Dekon stru ktivismu s“.

B ei spi el e fü r D i sku rssteu eru n g

B etrachten wir ein paar B eispiele, wie Disku rse gesteu ert werden u nd wirken. Sie mach en deu tlich , wie tief sie in u nser Leben h ineinwirken. M ensch en sind weitgeh end Gefan gene von N orm en , Deu tu n gen u n d verm eintlich en Wah rh eiten.

Rassen und Rassism u s

Jah rh u nderte wu rde allen M ensch en eingetrichtert, dass M ensch en nach ih rer H au tfarbe in Rassen einteilbar seien u nd solch e Rassen eine u ntersch iedlich e biologisch e Au sstattu ng h ätten. Sch on die Au swah l des Untersch eidu ngskriteriu ms zeigte eine seltsame Willkü r- lich keit. Waru m nicht die Oh rläppch enlänge oder die Au genfarbe? H aare oder Körper- länge wären au ch M erkm ale, sogar ziem lich au ffällige. N ein, es wu rde die H au tfarbe. Wil- deste Speku lationen gedieh en au f der B asis dieser Gru ndannah m e, wenn z. B. Ru dolf Stei- n er die rötlich e H au tfarbe der Ureinwoh n erI n nen in N ordamerika dadu rch erklärte, dass sie eigentlich schwarze H au t h ätten, aber dort nicht gen ü gend Son ne abbekämen. Fasch isti- sch es Denken steigerte die Abgrenzu ngsbedü rfnisse. Wissensch aftlerI nnen im N ationalso- zialism u s verm aßen Kopfform en u n d andere Körperteile. Sie bewiesen dam it, dass au ch Wissensch aft im mer h errsch enden I nteressen u nd den zentralen Disku rsen folgt. Und sie prägt. Denn der Rassism u s bzw. die vorgesch altete I dee, dass es ü berh au pt abgrenzbare Rasse gäbe, ist eben ein klassisch er Disku rs. Unh interfragt wird die Sach e als wah r gen om- m en u nd au s u n zäh ligen Köpfen an u nzäh ligen Stellen imm er wieder beh au ptet. Es ist ganz selbstverstän dlich , in Rassen u n d rassistisch zu denken. So fu nktion ieren Disku rse.

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Definitionen von

„ Dekonstruktion“ unter www. projektwerkstatt.de/

debatte/konstruk/definit. htm

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Gesch lechter

Sie glau ben , es gibt zwei Gesch lechter? Dan n sind sie vom Disku rs ordentlich beeinflu sst.

Fragen Sie bei N eu geborenen au ch , ob es ein M ädch en oder ein Ju n ge ist? Dann stricken Sie selbst am Disku rs m it. Den n weder gibt es zwei Gesch lechter in dieser Eindeu tigkeit noch ist die Einteilu ng in zwei Gesch lechter in der gesamten M ensch h eit ü blich .

Das Erste ist ganz anders. Es gibt alle möglich en Übergangsform en u nd Abweich u ngen zwisch en den im B iologiebu ch zu m Standard erklärten Du alismu s M an n − Frau . Die zwei Sch u bladen werden nicht nu r disku rsiv du rch gesetzt, sondern au ch mit bru taler Sch nippe- lei. Wer sich erdreistet, m it nicht eindeu tigen prim ären Gesch lechtsm erkmalen au f die Welt zu kommen, landet sch n ell au f dem Operationstisch . M eist wird, weil tech nisch einfach er, dann ein M ädch en zu rechtgesch nippelt. Der Eingriff erfolgt − in dem Alter erwartu n gsge- m äß − oh n e Einverständnis der betroffenen Person . M it dem Ersch einen au f der Welt u n d dem Zu ordn en zu einem Gesch lecht beginnt die Zu richtu ng des N eu ankömm lings − im- m er su btil, meist aber au ch ganz platt ü ber Farben , H aartracht, Ansprach e, Au swah l des Spielzeu gs u sw. „Versagt“ das Elternh au s in der Sch u bladen bildu ng, sorgen Kindergarten, Sch u le u n d meh r fü r eindeu tige Gesch lechts- u n d darau s folgen de Rollen zu weisu ngen.

Ob in Formu laren fü r B ah nCards oder H andys − im mer m u ss fein säu berlich angekreu zt werden , welch em Gesch lecht die Person zu geordn et wu rde, au ch wenn das fü r die kon- krete Sach e u nwichtig ist. Wer bei Compu terformu laren keine eindeu tige An -

gabe m acht, wird im binären Code der M asch ine barsch zu rü ckgewiesen:

„ B itte fü llen Sie . . . vollständig au s“.

Krim inalität u nd Strafe

Kriminalitätsfu rcht wird gemacht. Wer sich die M assenware „ Krimi“ ansch au t oder in au fla- genlech zen den M edien blättert, findet M ord u nd Totsch lag mit u nbekannten TäterI nnen.

Die wichtigsten Angstm ach er B ild-Zeitu ng u nd Aktenzeich en XY zeigen , wie viele N ach - ah m erI nnen au ch , du nkle P lätze u nd Gän ge, fremde M en sch en (M änner) u nd ü ble Ge- walttaten oh n e jeglich e Vorah nu ng. Das m acht An gst: M ord u nd Totsch lag lau ern ü berall.

N ach einer Untersu ch u ng des kriminologisch en Forsch u ngsin stitu ts N iedersach sen glau - ben die M ensch en in Deu tsch lan d, dass die Zah l der M orde zwisch en 1 993 u nd 2003 u m 27% zu gen omm en h at u nd die Zah l der Sexu alm orde u m 260% gestiegen sei.

M it solch er Angst lässt sich Politik mach en . Doch mit der Realität h at sie wenig zu tu n. Lau t Kriminalitätsstatistiken geht die Zah l der M orde seit Jah ren zu rü ck, bei den registrierten Se- xu alm orden u n d Sexu almordversu ch en san k die Zah l zwisch en 1 981 u nd 2004 von 81 au f 26 Fälle. Doch nicht nu r bei den Zah len dominiert der Disku rs der Angst. Sch limmer noch sieht es bei den Orten, Opfern u nd TäterI nnen der Gewaltanwendu ng au s. Die findet näm lich kau m in den du nklen Ecken , am u n ü bersichtlich en Waldrand oder in der sch u m- m erigen B ah nu nterfü h ru ng statt, sondern nu r h alb versteckt gen au da, wo M en sch en M acht ü berein ander h aben: I n Familien, Arztpraxen, H eimen u nd natü rlich bei Polizei, Ar- m ee u n d im Gefängn is. 80% der Fälle von sexu ellem M issbrau ch im eu ropäisch en Rau m finden in Familien oder im B ekannten kreis statt. 5% der An zeigen bei den Sexu alstraftaten betreffen die Fälle mit M ord, die in den M edien gern e gehypt werden. Doch selbst von die- sen spektaku lären Fällen finden zwei Drittel in der Familie u n d engerem B ekanntenkreis statt. Sie tu n das seh r oft u nter den Au gen Dritter, Vierter, Fü nfter, die alle wegseh en u n d

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Kritik des Zwei- Gesch l echter-Diskurses unter www.

gender-troubl e.de.vu

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schweigen. Gewalt u nd Krim inalität sind der Alltag in den miefigen Kernen der B ü rgerlich - keit. Doch gefälschte Zah len u nd die M ärch enstu n den in Zeitu ngen u nd Fernseh en sch af- fen eine Angst vor Fremden, vor u nü berwachten Räu m en u nd öffnen H erz u nd Verstan d fü r die totale Kontrolle der Gesellsch aft. Deren tatsäch lich en I nteressen brau ch en nicht m eh r gen annt werden, wenn die M ensch en au s verfü h rter Angst sie selbst h erbeiseh nen.

Dieser M anipu lation , die ein großer Disku rs ist, weil die verfälsch enden I nformationen von den Opfern der An gstmach e ständig selbst u n d in voller Überzeu gu n g weiterverbreitet wer- den, folgt n och eine zweite. Den n selbst wenn es stimmen wü rde, dass Krim in alität zu - n im mt u nd vor allem u nter Frem den bzw. in der Fremde stattfin det, wü rden die M ittel, die u ns als Arznei versch rieben werden, n icht h elfen. Den n Strafe sch ü tzt nicht vor Gewalt, sondern erzeu gt diese. Kinder, die m issbrau cht werden, tu n dies h äu figer später au ch selbst. Wer zwecks „ Erzieh u ng“ geprü gelt wu rde, neigt selbst h äu figer zu gewaltförm igem Verh alten. Die Spitze gewaltförmiger Unterwerfu n g stellen Gefängnisse dar. Und au ch sie verh in dern Gewalt nicht, sondern erzeu gen diese − im Kn ast u nd du rch die Zerstöru ng des sozialen Umfeldes der Gefangenen au ch fü r deren späteres Leben au ßerh alb der M au - ern. Wer Opfer von Gewalt wird, h at von einer Videoü berwach u n g h erzlich wen ig − au ßer der h öh eren Gewissh eit, dass irgendwan n lange danach eine andere Person als m u tmaßli- ch eR TäterI n au ch richtig sch lecht beh an delt u nd mensch vom Opfer zu r Zeu gI n m u tiert u nd in die M ü h len der Ju stiz gerät − eine meist fü rchterlich e, au f jeden Fall aber oh n mäch - tige Rolle.

Au s „Wie sich er sin d wir?“, in : F R , 1 1 . 9. 2 009 (S. 1 0f. )

Ein fataler Dreiklang befördert den Ruf nach steter Strafverschärfung, und der hat wenig zu tun mit realer Kriminalität oder gar mit Terror. Mord und Totschlag bilden in der Statistik 0,1

Prozent aller Fälle; in der über Medien wahrgenommenen Welt ist jede zweite Straf- tat ein Gewaltverbrechen. So werden über Krimis und Nachrichten die Ängste der Bürger geschürt, die Politik wähnt sich zum Handeln genötigt, also zu Härte, wo-

rauf die Medien in ihrer Mehrheit bei jedem neuen, spektakulären Fall dringen.

N ach h altigkeit

Als die Umweltbewegu n g, vorm als getragen vor allem au s ein er Fü lle an B a- sisgru ppen u nd B ü rgerI nn en initiativen, Ende der 80er Jah re ih ren Zenit ü bersch ritt, h atte das viele Ursach en. Die eh emaligen P rotestkreise h atten ih re bü rgerlich en Karrieren be- gonnen, Papi Staat fü tterte die Verbandszentralen m it M illionen, was vielfach zu h andzah - m en Spitzenfu n ktionärI nnen u nd zu r Verlageru ng von H andlu ngsmacht in die Apparate fü h rte. Das erh öhte die B erech en barkeit von P rotest u nd sch u f Abh ängigkeit, n ach dem der Wandel vollzogen u nd die h andlu ngsmächtigen Teile der Verbände nicht meh r oh ne die Staats- u nd I n du striegelder ü berleben konnten. Parallel verän derten sich die I nh alte. Die alte I dee eines Umweltsch u tzes, verbu nden m it der Kritik an Lu xu s, Wach stu m u n d Roh - stoffau sbeu tu n g, m u tierte zu einem kapitalismu skompatiblen M odell eines begrü nten P ro- fits u n d Kon zerndasein s, genannt N ach h altigkeit. N icht alles was, verloren ging, war ein eman zipatorisch er Verlu st, denn mit der N ach h altigkeitszeit en dete die Dom in anz konser- vativer bis rechter Ökologieideen. Der rechte Öko H erbert Gru h l verschwand in der B e- deu tu n gslosigkeit. Gefü ttert m it den Staatsmillionen wu rde der neu e B egriff N ach h altigkeit gepredigt. Ökon omie u n d Ökologie sollten n u n gleich berechtigt sein , was die m odern i- sierten Umweltsch ü tzerI n nen als Fortsch ritt begriffen. Offenbar h atten sie vergessen, dass

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E xtra-Seiten zu ge-

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m achter Krim inal itäts- furcht und Al ternativen zur Strafe: www.

wel t-oh ne-strafe.de.vu

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vorh er das P rimat der Ökologie vor der Ökonom ie ih r Leitsatz war. Das Trom melfeu er des N ach h altigkeits-Disku rses lief ü ber alle Kanäle: M edien, Fördergelder, B ildu ng u nd Politik.

Vom Kampfjet der B u ndesweh r bis zu m B ildu ngsbü rgerI nnenh au sh alt mit zwei Ökostrom- betriebenen M ikrowellen u n d drei H ybridantriebsau tos ist h eu te alles nach h altig. Gesteigert als „ Green N ew Deal“ dient der Umweltsch u tz h eu te sogar als B egleitm u sik fü r neu e Wirt- sch aftsau fschwu n gph antasien. Der Disku rs vernichtet also nicht n u r I n h alte, sondern sorgt dafü r, das der Verlu st als Gewinn em pfu nden wird.

Als Detail am Rande sei au f die Umweltkonferen z von Rio 1 992 h in gewiesen. Sie brachte die Agenda 21 h ervor, das Leitwerk der N ach h altigkeitsdebatte in den 90er Jah ren. Als die Konferenz dam als zu ende gin g, sprach en Greenpeace, Gorbatsch ow u nd andere M edien- stars der seichten Ökoth eorien von einem Feh lsch lag. Die Fördermillionen plu s reich lich P ropaganda m achten au s Rio aber ein ige Jah re später einen Welterfolg. Die Agen da 21 , das geradezu widerlich e Absch lu ssdoku ment mit sein en Lobeshym nen au f Atom kraft, Gentech nik u nd Dom in anz der I ndu strieländer au f der Welt, m u tierte zu r Leitku ltu ridee − gelesen h atte es offenbar niem and. Rio u n d Agenda 21 waren perfekte Disku rse. Da der Urspru ng noch nach zu lesen ist, könnten sie leicht enttarnt werden . Dass es

nicht gesch ieht, zeigt den Zu stand von Umweltbewegu ng. Sie sind nichts als ein e kritiksch eu e, gekau fte B egleitfolklore des kapitalistisch en Du rch marsch es.

Bevölkeru ngsexplosion

„ Ungebrem stes Wach stu m“ ist noch ein eh er h armloser B egriff, wenn die B evölkeru ngs- zah len besch rieben werden. „ Explosion“ oder „ exponentielles Wach stu m“ sind seit Jah ren gebräu ch lich . M ath ematisch meint das ein Wach stu m , dessen Ku rve im mer steiler verläu ft.

Untermalt wird es mit M en sch enm assen au f großform atigen Fotos. Die Welt sch eint ku rz vor dem Untergang. N icht Atom kraftwerke, rü cksichtslose Wirtsch aftsformen u n d m achför- m ig du rch gesetzte Stoffflü sse sind die Ursach e, sondern die M ensch en . Unter dem Vor- wand, die Welt zu retten, starten B evölkeru ngskontrollprogramm e − doch bei genau erer B etrachtu ng ist alles wirr, widersprü ch lich u nd von H errsch aftsan sprü ch en geleitet.

Sch on die Zah len sin d falsch . Die B evölkeru ng wäch st nicht imm er sch neller oder expo- nentiell, sondern die Ku rve flacht sich seit Jah ren ab. Die Gesamtm enge steigt zwar noch imm er, aber ein En de ist abzu seh en. Zu m zweiten zeigen die B ilder von M ensch enmassen bevorzu gt du nkelh äu tige M en sch en. Wissen Sie, welch es der am dü nnsten besiedelte Kontinent ist? Es ist Afrika. Genau die dort lebenden M en sch en sind aber biopolitisch en Überlegu n gen au sgesetzt. Es geht offensichtlich nicht u m die B esch ränku ng der B evölke- ru ng, sondern u m bestim mte M en sch en, die sich nicht vermeh ren sollen − damit meh r fü r andere ü brigbleibt? Und wenn von diesen P rivilegierten m al ein paar weniger werden, dann wird plötzlich nach B evölkeru n gswach stu m geru fen. Dass in Deu tsch land, einem der dichtest besiedelten Länder der Welt, die B evölkeru ng leicht zu rü ckgeht, fü h rt zu großen Sorgen. Über dü nner besiedelte Gebiete h errscht dagegen Au fregu ng, wenn sie steigt.

Der Disku rs der B evölkeru ngsexplosion erzeu gt B ilder, die m it dem tat- säch lich en Gesch eh en nichts zu tu n h aben. Aber sie sind nü tzlich fü r bestim mte Politiken , die n ichts als H errsch aftsau sü bu n g sind, aber u n- ter dem Deckmantel der Weltrettu ng versteckt werden.

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Kritik der N ach - h al tigkeit auf www.

projektwerkstatt.de/

aes/nach _kritik. htm l

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I nfoseite zum Diskurs um das Bevöl kerungswach stum www. projektwerkstatt.de/aes/

bevoel kerungswach stum . htm l

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Wissensch aft, Sach lich keit u nd Objektivität

„ Sach lich bleiben“, „ m an mu ss das objektiv seh en“, „ wissen sch aftlich geseh en ist das so u nd so“ − solch e u nd äh nlich e Form u lieru n gen laden M ein u ngen m it Wichtigkeit au f. Au s der politisch en Au seinandersetzu n g wird ein religiöses Gezerre. Denn die B eh au ptu ng, et- was sei desh alb richtiger, weil es „ wissensch aftlich“ oder „ sach lich“ sei, h at den gleich en Geh alt wie die B eh au ptu ng, etwas sei „ vom Volk gewollt“ oder „ Gottes Wort“. Denn wenn es Wah rh eit nicht gibt, dann gibt es au ch kein „ wissensch aftlich wah r“. Regelm äßig erzeu - gen Wissensch aftlerI nnen soviele Wah rh eiten , wie sie gu t dotierte Arbeitsau fträge erh alten u nd ih ren GeldgeberI nn en ein zu m H onorar passendes Ergebnis liefern. Das m u ss nicht einmal m it Fälsch u ngen einh ergeh en , sondern folgt bereits au s einem voreingen omm en en B lick au f das Gesch eh en. Doch der Disku rs von Sach lich keit u nd Objektivität verleiht dem ExpertI n nentu m Flü gel. Titel u nd frem dwortreich e Worth ü lsen steigern den Eindru ck, den Wissensch aft h interlässt. N u r die ständigen Streitlin ien zwisch en den versch iedenen I nter- essen u n d GeldgeberI nnen folgenden Forsch erI nn en neh men der Wissen sch aftsgläu big- keit etwas seiner Wirku ng.

Au s Kap pl er, Ma rc (2 006): „E m an zipa tion du rch Pa rtizip ation ?“, Marbu rg (S. 2 2 )

Jegliche Wissenschaft mit emanzipatorischem Anspruch, Kritik an der etablierten Ordnung und damit Kritik an der politischen Ökonomie ist gesellschaftlich positioniert. Damit legt sie allerdings zugleich ihr erkenntnisleitendes Interesse offen und verfällt nicht einem uneinlös- baren Glauben an eine objektive Wissenschaft, die außerhalb der Gesellschaft stehe. Ge- rade umgekehrt, nur durch das Eingeständnis und die Reflexion ihrer gesellschaftlichen Po- sitioniertheit und deren Offenlegung, besteht überhaupt die Möglichkeit sich einer objekti- veren Sichtweise zu nähern. So steht in der ,Dialektik der Aufklärung' über die Kritische Theorie: „Ihr Element ist die Freiheit, ihr Thema die Unterdrückung“.

Sozialrassism u s von H artz I V bis Sarrazin

Febru ar 201 0 im kalten Deu tsch land. Die FDP, Partei der B esserverdien enden u n d M arkt- gläu bigen, ist m al wieder an der (B u ndes-)Regieru n g. Da fällt dann au f, dass ih re politi- sch en Kon zepte Un sinn sind. Folge: Fallende Umfragewerte. Kn app ein h albes Jah r nach der B u ndestagswah l wü rden die (N eo-)Liberalen gerade n och die H älfte der Stim men be- komm en wie zu r Wah l. Au f der N ot will FDP -B oss Westerwelle eine Tu gend mach en u n d m u tiert zu m deu tsch en H aider: Er sch im pft au f die Empfän ger von Sozialleistu n gen. Dabei zeigt er kalku liertes Gesch ick: Er sch ü rt N eid bei denen, die kau m m eh r verdienen als die H artz-I V-Em pfängerI nnen. Der Ch ef der Partei, die mit ih rem Widerstand gegen M indest- löh n e, Gru ndein kom men u n d einer Politik der Umverteilu n g von u nten nach oben beson- ders sch u ldig ist an den Du m pinglöh nen ü berall, erdreistet sich , sich zu m Fü rsprech er ju st seiner Opfer zu m ach en u nd ih nen zu erklären, dass Sch u ld an ih rer M isere die sind, de- n en es noch sch lechter geht. Das Du m me: Seine Polem ik verfängt. Denn sie trägt alle Zü ge gesteu erter Disku rse: Au s dem B au ch h erau s, an starke Gefü h le (h ier: N eid) appellie- ren, Ängste u n d M iseren au sn u tzen u nd dann die Opfer gegenseitig au sspielen. Zu dem werden politisch e Analysen verkü rzt. Die B eh au ptu ng, H artz-I V-Em pfängerI nnen h ätten ir- gendwas mit den sich au sbreiten den N iedriglöh n en zu tu n, ist so stu mpf wie die B eh au p- tu ng, Deu tsch land wü rde du rch Au sländerI nnen bedroht. Doch Disku rse ü berzeu gen nicht du rch sch arfe Analytik, sondern im Gegenteil mü ssen sie, u m erfolgreich zu sein, dem H ang zu r Vereinfach u n g entgegenkomm en. Das sch ont den Kopf − u nd Den ken ist fü r M en sch en, die darau f zu gerichtet sind, einfach als Rädch en im System zu fu nktionieren,

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nicht zu viele Fragen zu stellen, nicht so genau h inzu sch au en u nd sich weiter fremdbestim- m en zu lassen statt selbst zu organ isieren , immer anstrengend. Eiskalt h aben Westerwelle

& Co. das au sgenu tzt. Der Teilerfolg trat ein , obwoh l die Dü m mlich keit der Au ssagen schwer zu ü bertreffen war.

Oder doch? Denn nicht lan ge danach trat ein B u ndesbänker u nd eh em aliger Fin anzsena- tor der rot-roten (! ) B erliner Regieru ng in die Öffentlich keit. Er warnte vor dem Untergang Deu tsch lands u nd verstieg sich bei den Versu ch en, dafü r Grü nde an zu fü h ren , in derart ab- su rde Th esen, dass eigentlich an ku rzes Au flach en, die Verarbeitu ng der kru den B eh au p- tu ngen in m anch mittelmäßigem Kabarett u nd ansonsten das besch ämte Vergessen einer solch trau rigen Figu r wie Th ilo Sarrazin selbst in der n icht gerade besonders sch arfsinn igen Gesellsch aft in Deu tsch land h ätten folgen mü ssen. Doch weit gefeh lt: Um die Veröffentli- ch u ng von Sarrazin wu rden Disku rse gesponn en , die die Wu cht dieses M achtmittels ein- dru cksvoll zeich neten . Das sei nicht am dem wirren Gefasel von Ju dengenen u nd anderen B u ch „ inh alten“ gezeigt, sondern an der B eh au ptu n g, die Kritik an Sarrazin sei M au lkorb, Zensu r u nd das Ende der freien M einu ngsäu ßeru n g. Ein Großteil der M ensch en h at das tatsäch lich so au ch geglau bt u n d Sarrazin , in h eimlich er Zu stimm u ng zu sein er fasch istoi- den I deologie oder in tiefer Überzeu gu n g des Kampfes fü r M einu n gsfreih eit, in LeserI n- nenbriefen, Veran staltu ngen oder I nternetch ats verteidigt. Dabei h atte niem and von denen ü berseh en, dass Sarrazins B u ch eine M illion en au flage erreichte, er vor gefü llten H allen, in Talksh ows u nd au f allen Radiokan älen seinen N on sens verkü nden du rfte. Als Ein sch rän- ku ng der M einu n gsfreih eit wu rde also nicht kritisiert, dass Sarrazin nicht meh r reden du rfte (das war erken nbar ganz anders), sondern dass er kritisiert werden du rfte. Unter dem Deck- m antel des Weh klagens ü ber eine vermeintlich e Zensu r von Sarrazin („ das wird m an woh l noch sagen dü rfen„ ) wu rde tatsäch lich ein M au lkorb fü r die Kritik an Sarrazin an gestrebt.

M it Erfolg, denn kau m jemand wagte sich noch , den fasch istoiden Volkstribu n anzu grei- fen .

Das also zeich n et Disku rse au s. Den M ensch en wird beigebracht, was sie als wah r em pfin- den, was normal ist. Von allen Seiten, selbst au s den eigenen Freu ndeskreisen, dringen u n- au fh örlich die I nformationen in den eigenen Kopf, setzen sich dort fest, brenn en sich ein.

Die Wah rneh m u ng ein er fremden, steu ernden I nform ation geht verloren (wenn sie jemals da war), das Au fgenommene wird zu m Wah ren , dann Eigenen u n d so au ch weitergege- ben. Disku rse sind selbsttragend. Sie können beeinflu sst u nd initiiert, aber nicht zentral ge- steu ert werden. Sie sin d genau desh alb so wirkmächtig, weil sie qu asi au s allen Ritzen zir- pen.

Gerechtigkeit

Gerechtigkeit ist ein e m oralisch e N orm . An ders als der disku rsive Ansch ein (du rch den h errsch aftsförm igen Gebrau ch erzeu gter Ansch ein) ist Gerechtigkeit kom plett inh altsleer, wird bei B enu tzu n g aber regelmäßig disku rsiv mit einem h inter dem B egriff versteckten I n- h alt gefü llt. Dieser versteckte I nh alt ist dan n das jeweilige I nteresse. Die moralisch e Au fla- du ng mit dem B egriff der Gerechtigkeit soll zu sätzlich e Argu mente ü berflü ssig u nd die ei- genen I nteressen du rch setzu ngsstärker m ach en. So lassen sich völlig gegenteilige Au ssa- gen jeweils als gerecht darstellen :

• Wer meh r sch u ftet, soll dafü r au ch beloh nt werden .

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• Alle M ensch en sollen gleichviel zu m Leben h aben.

• Alle M ensch en sollen soviel zu m Leben h aben , wie sie benötigen.

Die drei Sätze bezeich nen jeweils eine Form der Gerechtigkeit. Keiner der I nh alte sch eint ir- gendwie u n gerecht. Die Gerechtigkeit ist aber jeweils mit einem anderen I nteresse gefü llt, das im Satz n icht selbst au sgesproch en wird. I nsofern ist Gerechtigkeit eine N orm, deren konkreter I nh alt versteckt werden kann h inter der N orm . Als N orm aber ist Gerechtigkeit imm er h errsch aftsförm ig, weil sie einen u n iversellen M aßstab, eine M oral darstellt.

Au s B ookch in , Mu rray (1 992 ): „D ie N eu gestal tu n g d er Gesel l sch aft“, Trotzd em -Verl ag in Gra fen au (S. 88 ff. )

Gleich zu Beginn möchte ich eine sehr wichtige Unterscheidung treffen: nämlich zwischen Freiheitsidealen und dem Begriff von Gerechtigkeit. Diese beiden Wörter werden so aus- tauschbar gebraucht, dass sie fast als synonym erscheinen. Gerechtigkeit unterscheidet sich jedoch grundlegend von Freiheit, und es ist wichtig, das eine von dem anderen zu trennen.

Im Laufe der Geschichte haben beide zu sehr unterschiedlichen Kämpfen geführt und bis zum heutigen Tag radikal verschiedene Forderungen an die jeweiligen Machthaber und Re- gierungssysteme gerichtet. Wenn wir zwischen bloßen Reformen und grundlegenden Ver- änderungen der Gesellschaft unterscheiden, so geht es dabei großenteils bei den einen um Forderungen nach Gerechtigkeit, bei den anderen aber um Freiheit − so eng beide Ideale in instabilen sozialen Perioden auch miteinander verwoben sein mochten.

Gerechtigkeit ist die Forderung nach Gleichheit, nach „Fairneß“ und einem Anteil an den Erträgen des Lebens, zu denen man selbst einen Beitrag leistet. Mit den Worten Thomas Jeffersons ist sie auf der Grundlage des Äquivalenzprinzips „gleich und exakt . . .“ Diese fai- re, äquivalente, anteilsmäßige Behandlung, die einem sozial, juristisch und materiell im Austausch für die eigene eingebrachte Leistung zuteil wird, wird traditionell durch Justitia, die römische Göttin, dargestellt, die mit einer Hand die Waage und mit der anderen das Schwert hält und deren Augen verbunden sind. Zusammengenommen bezeugt die Ausstat- tung der Justitia die Quantifizierung von Rechtsgütern, die auf beide Waagschalen verteilt werden können; die Macht der Gewalt, die in der Form des Schwertes hinter ihrem Urteil steht (unter den Bedingungen der „Zivilisation“ wurde das Schwert zum Äquivalent des Staates), und die „Objektivität“ ihres Richtens, die sich durch die verbundenen Augen aus- drückt.

Au s „D ie Gerech tigkeitsl ü cke“, in : taz, 1 2.1 0. 2 01 0 (S. 1 2 )

Wenn die FDP jetzt vorschlägt, dass Besserverdienende kein Elterngeld mehr bekommen sollen, klingt das zunächst nach einer gerechten Idee: Warum sollen Menschen, die so viel Geld verdienen, dass sie es kaum ausgeben können, zusätzlich noch etwas bekommen, nur weil sie ein Kind kriegen? Und wiederum jene, die jeden Cent mehr dringend brauchen, nämlich Hartz-IV-EmpfängerInnen und -AufstockerInnen, gar nichts mehr beziehungsweise nur ein paar Euro?

Trotzdem: Gerecht im Sinne des Gleichheitsgebots im Artikel 3 des Grundgesetzes ist der FDP-Vorschlag nicht. Menschen mit den gleichen Voraussetzungen, in diesem Fall der Ge- burt eines Kindes, dürfen bei familienpolitischen Sozialleistungen nicht unterschiedlich be- handelt werden.

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Rol l en u n d Zu ri ch tu n g

Das Ergebn is disku rsiver B eeinflu ssu ng sin d M ensch en, die N ormen u nd N orm alität, Wah res u nd Falsch es akzeptieren, die im Verständnis von Dazu geh ören u n d Au szu son- dern ü bereinstimmen − u nd die fü r sich bestimmte Rollen u nd Erwartu n gsh altu n gen ak- zeptieren. Sie m ü ssen n icht m eh r zu einem gewü nschten Verh alten gezwu ngen werden, sondern zeigen es von selbst. Sie glau ben sogar, sich so verh alten zu wollen.

Gru ppe Gegen bil d er (1 . Au fl a ge 2 000): „F reie Men sch en in F reien Verein ba ru n gen“, Sei- ten H ieb-Verl ag in Reiskirch en (S. 78f)

Tradierte Vorstellungen von Wertigkeiten, Erziehungsmuster zu immer wiederkehrenden gesellschaftlichen Rollen und Inhalte von Bildung, Medienbeeinflussung usw. führen zu nicht willkürlichen, sondern typischen und sich immer wieder reproduzierenden Mustern.

Für diese sozialen Konstruktionen gibt es sehr offensichtliche Beispiele. So beruht das Ge- fälle zwischen Männer und Frauen bei Lohnhöhen, bei der Präsenz in Führungspositionen oder beim Zugriff auf Geld, Eigentum usw. auf der immer wieder erneuerten sozialen Kon- struktionen von Wertigkeitsunterschieden. Zur Rechtfertigung solcher sozial konstruierten Wertigkeitsunterschiede wird die Verschiedenheit von Menschen herangezogen: seien es geschlechtliche, biologische, ethnische Unterschiede oder unterschiedliche Neigungen, Ver- haltensweisen oder sonstige Merkmale, die sich zur Zuschreibung von „Eigenschaften” eig- nen. Diese realen Verschiedenheiten werden zu homogenen „Eigenschaften” von Gruppen von Menschen umgedeutet, um sie als Rechtfertigung zur diskriminierenden Behandlung dieser Gruppen zu verwenden.

Rollenbildung und Wertigkeiten zwischen Männern und Frauen entstehen nicht durch das biologische Geschlecht, sondern aufgrund der allgegenwärtigen, von (fast) allen Menschen ständig reproduzierten Bilder und Erwartungshaltungen gegenüber den anderen Men- schen und sich selbst, z. B. in der elterlichen Erziehung und Beeinflussung, Schule, Arbeits- welt, Medien usw. „Mannsein” oder „Frausein” als gesellschaftliche Rolle, d. h. als soziales Geschlecht, ist folglich eine Zuweisung der Person zu diesem Geschlecht durch gesellschaft- liche Bedingungen. Dieser Prozeß reproduziert sich wegen der subjektiven Funktionalität, die diese Rollen für die Menschen im täglichen Überlebenskampf und für langfristige Per- spektiven zumindest aktuell haben, ständig selbst, so dass die Rollen von Generation zu Generation weitervermittelt werden und in fast allen Lebensfeldern vorkommen. Dadurch wirken sie so, also wären sie ein Naturgesetz. Den betroffenen Menschen kommt ihre ge- sellschaftliche Rolle wie eine Bestimmung vor, der sie nicht entgehen können und die sie an nachfolgende Generationen weitergeben.

Ähnlich wie diese soziale Konstruktion zwischen Männern und Frauen finden sich solche zwischen Alten und Jungen, sogenannten Behinderten und Nicht-Behinderten, In- und Aus- länderInnen, Menschen mit und ohne Ausbildung usw. Immer werden Wertigkeiten abge- leitet, die zu unterschiedlichen Möglichkeiten der eigenen Entfaltung und zu Herrschafts- verhältnissen führen.

Au s F rom m , E rich (1 990): „D ie F u rch t vor der F reih eit“, dtv in Mü n ch en (S. 90) Das „Selbst“, in dessen Interesse der moderne Mensch handelt, ist das gesellschaftliche Selbst, ein Selbst, das sich im wesentlichen mit der Rolle deckt, die der Betreffende nach dem, was die anderen von ihm erwarten, zu spielen hat und die in Wirklichkeit nur eine subjektive Tarnung seiner objektiven Funktion in der Gesellschaft ist.

Au s Möl l , Marc-P ierre: „Kon tin gen z, I ron ie u n d An a rch ie − D a s Lach en d es Mich el Fou - cau l t“

Das Gefängnis, wie es die bürgerliche Gesellschaft hervorgebracht hat, ist das Ideal der sich auf Fabriken, Schulen, Kasernen, Krankenhäuser etc. ausbreitenden Überwachungs- und Disziplinarmacht. Da der Prozeß der subjektkonstituierenden Disziplinierung unab- schließbar ist, nimmt er immer subtilere und intrikatere Formen der Dressur an, um die Menschen in immer gleichförmigere Denk- und Handlungsweisen zu pressen. Durch die

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räumliche Parzellierung, zeitliche Durchrationalisierung und normativ prüfende Sanktionie- rung etwa in der Schule werden die abgerichteten Körper in einen übergeordneten Funk- tionszusammenhang eingegliedert und auf die Tätigkeit anderer Körper abgestimmt. Der Disziplinierungsprozeß ist beendet, wenn der Schüler „einsichtig“ ist. Er wird solange mit Normvorstellungen und letztlich mit einem Selbstbild konfrontiert, in dessen L ichte er sein abweichendes Handeln nicht mehr wollen kann. Die subversive Struktur in der Pädagogik besteht mithin darin, den Zögling in der Gewißheit zu halten, tun zu dürfen, was er will, obwohl er nur wollen darf, von dem der Erzieher wünscht, dass er es tut. Die Pointe der pä- dagogischen Methode liegt darin, dass auch die inneren Instanzen dem Schüler nicht „ge- waltsam“ introjiziert werden. Vielmehr werden sie im Prozeß des Appellierens an diese in- neren Instanzen selbst erzeugt bzw. gestärkt. Ein vermeintlich Eigenes ist auch auf dieser Ebene der Subjektkonstitution nicht „gegeben“, sondern wird im pädagogischen Prozeß überhaupt erst provoziert, konditioniert und subjektiviert, so dass Pädagogik und selbst das Erlernen von Sprache und Begrifflichkeit das Denken systematisch normiert. Jedes Denksys- tem, das sich emphatisch auf die Totalität seines eigenen Wahrheitsfundaments beruft und institutionalisiert, arbeitet implizit einem Totalitarismus zu. Das gilt auch für die liberale De- mokratie.

Au s Fou cau l t, Mich el : „Ü berwa ch en u n d Stra fen“ (S. 2 85)

Die schöne Totalität des Individuums wird von unserer Gesellschaftsordnung nicht verstüm- melt, unterdrückt, entstellt; vielmehr wird das Individuum darin . . . sorgfältig fabriziert.

Das kan n seh r weit geh en. Der au f breiter gesellsch aftlich er Akzeptanz organisierte H olo- cau st h at es eindru cksvoll u nd ersch reckend gezeigt.

Au s Gol d h a gen , D an iel J. (1 996): „H itl ers wil l ige Vol l strecker“ (S. 85)

Wie andere Menschen mussten auch sie ständig entscheiden, wie sie sich verhalten, wie sie handeln sollten, und diese Entscheidungen brachten den Juden immer wieder neue Leiden und den Tod. Diese Entscheidungen aber trafen sie als Individuen, als mit ihrer Aufgabe einverstandene Mitglieder einer Gemeinschaft von Völkermördern, in der das Töten von Juden die Norm und oft genug Anlaß zum Feiern war.

Die Konstru ktion des Du rch sch nittlich en

Anpassu ng wird beloh nt, Abweich u ng bestraft. So form en Erzieh u ng, Sch u le, soziales Umfeld, M edien, M edizin u nd sch ließlich die Strafju stiz ein B edü rfnis, die eigene Persön- lich keit zu vernichten u n d zu m Teil des N ormalen u nd Du rch sch n ittlich en zu werden.

M oderne Compu ternetzwerke erm öglich en eine Verfeineru ng. N u n kön nen Persönlich - keitsmerkm ale erfasst u n d statistisch in riesigen M ensch engru ppen au sgewertet werden.

Die sich in virtu ellen Abbilder ih rer empfu nden en Persönlich keit in solch e N etze h ineinbe- gebenden Personen werden dann standardisiert in Verbindu n g gebracht. So mach en so- ziale N etzdien ste wie Facebook n ach Standards Vorsch läge fü r Freu ndI nnen u nd passende Kontakte, P rojekte u sw. Das Leben wird ver-du rch sch nittlicht.

Au s Len F ish er (2 01 0): „Schwarm in tel l igen z“, E ich born in F ra n kfu rt (S. 1 1 6)

Andere, wie Amazon, nutzen das Schwarmprinzip zur Verkaufsförderung: Die Kunden kön- nen einander Produkte empfehlen, und Amazon macht ihnen seinerseits Kaufvorschläge, die sich am Kaufverhalten anderer Kunden orientieren.

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Au fkl äru n g: D em aski eren al s Zi el

M en sch lich e Gesellsch aft ist im mer du rch zogen von N ormen, vor allem versch iedenen Disku rsen. Es ist nicht möglich , Disku rse dadu rch zu verh indern, dass sie verboten oder fü r nicht bindend erklärt werden . Letzteres sind sie im form alen Sinn sch on jetzt nicht. Aber Disku rse sind wirku ngsstark. Zu m einen drängt die Fü lle an alltäglich en I nform ationen je- den M ensch en zu r B ildu ng vereinfach ender B egriffe u nd verkü rzter Zu sam menh änge.

Zu m anderen gibt es kein Gerät, was I nform ationen, B ilder u n d Gesch ichten vom m it- schwingenden Geh alt an Wertu ngen reinigt. Alles, was an I nformation einsch ließlich Deu - tu ng du rch die Welt zieht, ist verbu nden mit bestimmten I deen oder I nteressen.

Die ein zige Ch ance ist die der ständigen Skepsis, also einer „ permanenten Kritik“, wie Fou - cau lt es bezeich nete. Die beeinflu ssenden Faktoren kön nen nicht au sgesch altet werden, aber ih nen kann ih r h egem onialer Ch arakter gen omm en werden. I nformationen, Traditio- nen, I dentitäten u nd m etaphysisch e M oral, an dere M ensch en oder Gru ppen dü rfen das ei- gene Denken n icht erobern. Wer sich nicht vereinnah men lassen will, m u ss sich nicht iso- lieren , son dern lernen, Fragen zu stellen, h inter die Ku lissen zu sch au en, m eh rere Qu ellen anzu zapfen u nd sich au s der großen Fü lle einer vielfältigen Gesellsch aft mit ih rem Wissen, ih ren M öglich keiten u nd ih ren u ntersch iedlich en B lickwinkeln n ach eigener Lu st u n d Überzeu gu ng zu bedienen.

Rein e Au fkläru ng ist desh alb zu wenig.

Au s Kan t, I m m an u el (1 784), „B ean twortu n g d er F ra ge: Wa s ist Au fkl äru n g“, zitiert in : Mas- sin g, Peter/B reit, Gotth ard (2 002 ): „D em okra tie-Th eorien“, Woch en sch au Verl a g Schwal - bach , L izen zau sgabe fü r d ie B u n deszen tra l e fü r pol itisch e B il d u n g, B on n (S. 1 2 9) Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.

Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbsiverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstan- des zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

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