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Präparierte Klänge und Stille im Werk von John Cage

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Akustische Gestalten und synthetische Klänge

Die identifizierbare akustische Gestalt von Klängen und Geräuschen beschäftigte John Cage ab 1937, als er in einem Gespräch mit Oskar Fischinger von des- sen Erlebnis mit einem Geräusch eines fallenden Schlüssels hörte.1 Der von Fischinger vermutete Iso- morphismus zwischen der Tongestalt eines akusti- schen Ereignisses und seiner sichtbaren grafischen Gestalt prägte Cages eigene Suche nach einer auf realen Schallereignissen basierenden Musik. In einem Interview mit Charles Amirkhanian in der Davies Sym- phony Hall (1983) sagte Cage, dass die Idee Fischin- gers in Verbindung mit seinen Experimenten stünde, Klaviere als Perkussionsinstrumente einzusetzen. Die mit unterschiedlichen fremdartigen Materialien präpa- rierten Klaviere halfen ihm in seinem Vorsatz, bekann- ten Instrumenten neue Töne und Klangfarben zu ent- locken.2

Dazu trugen sicherlich die auf der Basis eines foto- akustischen Verfahrens entwickelten Sonagramme bei. Sie wurden in den 1940er Jahren in den Bell La- boratories durch einen Sound Spectrograph erstellt und visualisierten gleichzeitig den Zeitverlauf und die Frequenzzusammensetzung eines Schallsignals. Da die Messung des Frequenzspektrums eines Schalls eine bestimmte Dauer voraussetzt, in der die Fre- quenzanordnung konstant bleibt, wurden bei der Er- stellung der Sonagramme schmale Frequenzbänder eingesetzt, welche jeweils einen Ausschnitt des Schallverlaufs als Schalldruckkurve wiedergaben.

Durch ihr Aufsummieren konnten sowohl der gesamte Schallverlauf als auch die Energieverteilung im Klang- spektrums registriert werden, die sich als Schwärzung unterschiedlichen Grades der im Raster der Frequenz- bänder aufgefangenen Frequenzmuster zeigte. In den Sonagrammen offenbarte sich eine Art mikroskopische Abbildung der Töne, die sich auf makrotonale Struktu-

ren übertragen lässt, wie dies die Komponisten des sogenannten „Spektralismus“ der 1970er Jahre taten.

Auf den Sonagrammen wurde sichtbar, dass die Teiltöne einer periodisch verlaufenden Schwingung, die akustisch mit der Tonhöhe korreliert, nicht eine kontinuierliche, sondern eine diskrete Anordnung auf- weisen. Das Spektrum der Klanggeräusche als ein Gemisch nichtperiodischer Schwingungen wies außer- dem einen ähnlichen Teiltonaufbau wie dieses der

„echten Töne“ auf, zeichnete sich aber durch eine we- sentlich größere Dichte der aufgezeichneten Fre- quenzkomponenten aus. Das Sonagramm enthüllte bereits eine Art musikalisches Formprinzip, da man darauf sowohl die Zusammensetzung des Schalls als auch seinen Verlauf beobachten konnte, bei dem sich die grafischen Muster seiner Formanten durch eine eventuelle Schallverstärkung veränderten. Als Klang- fotografie wies das Sonagramm gewisse Parallelen zu den „tönenden Ornamenten“ Fischingers auf, der an- nahm, dass seine „Klangbilder“ nicht grundsätzlich an- ders wären als jene, welche die Töne auf der opti- schen Tonspur des Films hinterlassen.

In dem Film Tönende Ornamente (ca. 1932) de- monstrierte Fischinger grafische Muster, die er mit Bleistift und Tusche gezeichnet, abfotografiert und di- rekt auf die für den Ton vorgesehene Lichttonspur ei- nes Filmstreifens kopiert hatte. Bei ihrer Projektion wurden die gezeichneten Muster gleichzeitig sichtbar und hörbar. Die Mehrheit der so produzierten Klänge war allerdings äußerst befremdlich, chaotisch und so wirr, dass die Filmtechniker, die mit Fischinger zusam- men arbeiteten, bei der Vorführung der ersten Se- quenzen des Films Angst um ihre Geräte gehabt ha- ben sollen:

„When Fischinger picked up the first reels of Sounding Ornaments from the lab and had them screened there on the lab’s projectors, the tech- nicians were shocked by the strange sounds and Lena Christolova

Präparierte Klänge und Stille im Werk von John Cage

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feared that further reels with this noise could ruin their machines.”3

Der Film wurde 1932 im Frankfurter Gloria-Palast als ein Beispiel synthetisch erzeugten Tons gezeigt – zu- sammen mit der Tönenden Handschrift Rudolf Pfen- ningers.4 Während aber Pfenninger an der Erstellung eines Katalogs sich wiederholender Muster von Tönen interessiert war, beschäftigte Fischinger eher die Be- ziehung zwischen abstrakten grafischen Formen und ihrer akustischen Entsprechung. Im Unterschied zu Pfenninger, der durch einen Oszilloskop erzeugte Vi- sualisierungen von Tönen in Einzelbildschaltung auf- nahm und anschließend Schablonen sich wiederho- lender Muster als eine Art „Tonschrift“ verfertigte, film- te Fischinger die Bewegung seiner grafischen Formen, da er ihre zeitliche „Gestalt“ herausfiltern wollte. Er be- trachtete sie als Ornamente, die aus dem Sprachmelo- dieempfinden der Völker stammen und möglicherwei- se Parallelen zum formalen Aufbau der Musik be- stimmter Kulturen haben.5

Streng betrachtet, erzeugte nur das Verfahren von Pfenninger echte synthetische Klänge, da anhand von seinem Schablonenkatalog Einzeltöne und Tongrup- pen beliebig reproduziert und neu gemischt werden konnten. Nichtsdestotrotz wurde Tönende Ornamente weiterhin 1933 bei der Internationalen Musikkonferenz während des Maifestivals in Florenz6 sowie im Mai und Dezember 1933 vor der London Film Society zusam- men mit Moholy-Nagy’s Tönendes ABC als ein Bei- spiel für synthetisch erzeugte Töne gezeigt.7 Obwohl Fischinger hauptsächlich an der synchronen Bewe- gung eines Repertoires abstrakter Grundformen und ihrer sonischen Re-Phänomenalisierung arbeitete, produzierten einige seiner visuellen Muster tatsächlich synthetische Töne, die mit alltäglichen Geräuschen identifiziert werden konnten:

„drawing designs and ornaments which pro- duced ,a-musical‘ sounds; he found, for ex- ample, that the pattern of concentric-wave circles which was often used in cartoon and si- lent film iconography to represent the ringing of a door or alarm bell actually produced a buzzing clang sound when drawn in long rows and pho- tographed on the soundtrack area.“8

Die übergreifenden Zusammenhänge der psychoakus- tischen Wahrnehmung solcher an sich unveränderba- ren Gestalten interessierten John Cage, da in seiner von Zeit und Rhythmus ausgehenden Kompositions- technik Klänge und Geräusche als gleichberechtigte Elemente behandelt wurden. Einerseits demonstrier- ten die Experimente Fischingers ein räumliches, der Malerei verwandtes Denken, anderseits zeigten sie Möglichkeiten auf, Klänge jeglicher Zusammensetzung zu konstruieren. Da das akustische Gedächtnis der Rezipienten nicht nur die Geräusche als solche, son- dern oft auch ihre Gestalt, ihre Quelle, bzw. die Ursa- che ihrer Entstehung identifizieren konnte, wollte Cage die durch die direkte Reproduktion von akustischen Erscheinungen gewonnenen Erkenntnisse bei der Strukturierung seiner Kompositionswerke einsetzen.

Ausschlaggebend für diesen Aspekt seines musikali- schen Schaffens waren die „String-Piano“-Techniken Henry Cowells, der durch ein von innen bespieltes Klavier fremdartige Geräusche produzieren konnte.

Bei Cowell hatte Cage zum ersten Mal die Möglichkeit, die Verhältnisse zwischen traditionellen Instrumental- klängen und ihren technisch bedingten Transformati- onsmöglichkeiten zu studieren. Seine Suche nach neuem Klangmaterial und das Erschließen neuer au- ßermusikalischer Hörbereiche, in welchen das Hören auf sich selbst und seine psychoakustischen Erfahrun- gen zurückgeworfen war, stand in enger Verbindung mit den mikro- und makrotonalen Besonderheiten der Klangfarbe. Wie in den Experimenten von Fischinger basiert ihre populärste Definition durch ANSI (Ameri- can National Standards Institute) auf ihrer akustischen Identifizierung: „Timbre is that attribute of auditory sen- sation in terms of which a subject can judge that two sounds similarly presented and having the same loud- ness and pitch are dissimilar“.9

Als grundlegende Komponente der Tonwahrneh- mung stellt die Klangfarbe ein Gemisch von einem Grundton und mehreren in ihrem Klangspektrum vor- handenen Partialtönen, die durch die Änderungen der Struktur ihrer Formanten manipuliert werden können.

Mit Hilfe der Formanten lässt sich z. B. erklären, warum die Klangfarbe mancher Instrumente zum Ver- wechseln ähnlich ist, aber auch warum die Klangfarbe als Gemisch nichtharmonischer Frequenzkomponen- ten eine relationale Kategorie bleibt, die einen Ver-

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gleich zwischen der aktuell wahrgenommenen akusti- schen Information und dem akustischen Gedächtnis der Rezipienten erfordert. Da das ganze Klangkontinu- um zwischen reinem Sinuston und Geräusch erst nach 1951 synthetisch erzeugt werden konnte, versuchte John Cage, diese noch nicht erschlossenen Klangwel- ten an seinem präparierten Klavier zu studieren, als dessen Vorläufer das „String-Piano“ von Henry Cowell gilt.

Präparierte Klangfarben

Neben einer ausgeklügelten Klavierclustertechnik hat- te Cowell, bei dem Cage 1933–34 Unterricht nahm, ein Verfahren entwickelt, die Saiten im Inneren des Klaviers zu bespielen. So wurden in The Aeolian Harp (1923) bestimmte Tasten niedergedrückt, ohne dass sie erklingen konnten, während die andere Hand des Klavierspielers an den Klaviersaiten zupfte und sie ab- wechselnd mit den Nägeln oder mit den Fingern be- rührte. Dadurch entstanden Klangfarbenmodulationen, die gelegentlich durch das Anreißen der Saiten jäh un- terbrochen wurden. In dem Klavierstück Banshee (1925) bewegte der Spieler seine Nägel, Finger oder die flache Hand über vorgezeichnete Punkte, dämpfte die Hälfte der Saite mit einem Finger, während die an- dere Hälfte mit anderen Fingern bearbeitet wurde.

Gleichzeitig drückte ein anderer Künstler das Dämp- fungspedal des Klaviers herunter. Das Klangerlebnis von Banshee wird von Fred Prieberg als „farbiges Rauschen, gläsernes Näseln, Geräusche wie vom An- schlag einer riesigen Eisenröhre, gleich einer Kreissä- ge, scharfes Heulen und Stöhnen“10 beschrieben.

Durch die Manipulation der Saiten wurden die für das Klavier üblichen Töne mit festgelegter Tonhöhe elimi- niert: Von einer Note zur anderen veränderte sich die Klangfarbe der Töne, die Varianten wurden so zahl- reich und fließend, dass sie in einer neuen Klangsyn- these verschmolzen. Bei wachsender Anschlagsstärke verlagerte sich das Intensitätsmaximum auf Teil- schwingungen höherer Ordnung, sodass die Klänge immer greller wurden, was in Kombination mit der Ei- genresonanz des Klaviers zu den von Prieberg gehör- ten gläsernen und metallenen Geräuschen führte. Je härter der Anschlag wurde, desto perkussiver klang das Klavier, was einen Widerspruch zur Verlängerung

der Ausklingdauer der Klänge durch das Drücken des Dämpfungspedals darstellte, und zum „scharfen Heu- len und Stöhnen“ führte.

Die fremdartigen Geräusche des „String-Pianos“

von Cowell kulminierten in Cages Arbeit an seinem ei- genen „präparierten Klavier“, bei dem die Präpara- tionsmaterialien nach Art (Holz, Metall, Plastik, Gum- mi, Filz), Form (Schrauben, Muttern, Münzen), oder nach Form und Material (Gummikeil, Bambuskeil, Gummistreifen) aufgelistet wurden. Besonders genau wurden die Stellen angegeben, an denen diese Mate- rialien befestigt werden sollten, ebenso die Kombina- tionen von verschiedenen Formen und Materialien.

Für Cage stellte dieses präparierte Klavier, bei dem er die Tonhöhe durch die Klangfarbe ersetzte, das ideale Instrument für die Realisierung der Kompositionstech- niken von Arnold Schönberg: „Atonal music was excel- lent in theory, but there were not atonal instruments to play it“, sagte er 1949 in einem Interview mit Time.11

Laut Paul van Emmerik behielt Cage zeitlebens die Prinzipien der reihentechnischen Kompositionsmetho- de Schönbergs bei, was an der Strukturierung seiner Tonansammlungen, Klangansammlungen, Sammlun- gen visueller und musikalischer Modelle durch die Pa- rameter „Material“, „räumliche Anordnung“, „Zeitstruk- turen“ und „Zufall“ erkennbar würde.12 Tatsächlich hatte Cage 1933 eine chromatische Kompositionsmethode aufgrund von zwei 25-Ton-Reihen entwickelt, die er 1934 dem Komponisten Adolph Weiss zeigte, der ihn auf den Unterricht mit Schönberg (1935–36) vorberei- tete. Ihr Ergebnis waren Permutationen in der Struktur, die die Techniken der seriellen Musik vorwegnahmen.

Cage berichtet über seine eigene Kompositionsmetho- de Folgendes:

„Es handelte sich dabei um eine sehr individuel- le Variante der Zwölftonmusik, für die ich die Tonreihe in Fragmente oder Motive einteilte.

Aber anstatt die Tonreihen wie die meisten Kom- ponisten zu variieren, hielt ich sie statisch, wobei ich unter Anwendung aller Transpositionen, Um- kehrungen und Rückläufe usw. mosaikartige Ar- rangements herstellen konnte und die Tonreihe selbst fast nie als solche auftauchte. Außerdem setzte ich die Abwesenheit jedes dieser Motive mit dessen Anwesenheit in Beziehung. Dadurch

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konnte ich ein Fragment einer Tonreihe durch seine Dauer zum Ausdruck bringen – durch Stil- le. […] Die Stille hatte denselben Stellenwert wie der Ton.“13

Durch das präparierte Klavier, das Cage wie ein Per- kussionsinstrument einsetzte, kamen Töne zustande, die weder auf rein mathematischem noch auf rein phy- sikalischem Wege, sondern gewissermaßen zufällig während des Experimentierens entstanden waren.

Das Präparationsmaterial diente als Erreger- oder Störquelle beim Erzeugen der Schallschwingungen und beeinflusste dadurch das ursprüngliche Timbre des Klaviertons in unterschiedlichem Maße – bis zur gänzlichen Auslöschung der Ähnlichkeit zwischen ihm und den „präparierten Klangfarben“.14

Durch das Einbeziehen des Zufalls als Ausdruck von Nichtintentionalität in seine künstlerische Praxis ermöglichte Cage auch Interaktionen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren, bei welchen technische Medien den Part von Musikinstru- menten übernehmen konnten. In Living Room Mu- sic (1940) dienten dem Performer als Instrumente die Möbel und die Gegenstände eines gewöhnlichen Wohnzimmers, in Imaginary Landscape N° 1 setzte Cage neben dem präparierten Klavier ein chinesi- sches Becken und phonographische Aufnahmen von Geräuschen und Tönen mit konstanter Frequenz ein.

Dadurch gab er seiner Überzeugung Ausdruck, dass der fruchtbare Konflikt zwischen Konsonanz und Dis- sonanz, welcher zur Entstehung der „neuen Musik“

des 20. Jahrhunderts führte, durch einen neuen, eben- so zukunftsträchtigen, Konflikt ersetzt werden wird – durch diesen zwischen musikalischen Klängen und Geräuschen:

„[…] whereas, in the past, the point of disagree- ment has been between dissonance and con- sonance, it will be in the immediate future, between noise and so-called musical sounds.

The present methods of writing music, principally those which employ harmony and its reference to particular steps in the field of sound, will be in- adequate for the composer, who will be faced with the entire field of sound, New methods will be discovered, bearing a definite relation to

Schoenberg’s twelve-tone system and present methods of writing percussion music and any other methods which are free from the concept of a fundamental tone. The principle of form will be our only connection with the past […].“15 Formeln der Stille

Um 1940 entwickelte Cage seine so genannte Qua- dratwurzel-Formel, nach welcher er die rhythmische Mikro- und Makrostruktur seiner „Perkussionswerke“

gestaltete. Jedes Werk, das nach dieser Formel kom- poniert wurde, basierte auf einer gewissen Anzahl von Takten, die von einem Quadratwurzel-Verhältnis abge- leitet waren, sodass die großen Einheiten (die Makro- struktur) nach demselben Prinzip unterteilt waren wie die kleinen Einheiten (die Mikrostruktur). So besteht beispielsweise die Makrostruktur von First Constructi- on (In Metal) (1939) aus sechzehn Sequenzen, jede von welchen in weitere kleinere Sequenzen nach dem Verhältnis 4:3:2:3:4 strukturiert ist. Innerhalb dieser strengen rhythmischen Konstruiertheit waren oft die einzelnen Werke dem Studium spezifischer Klänge und Klangfarben gewidmet – metallener in First Con- struction oder synthetischer in Imaginary Landscapes und Credo in Us (1942). Wie Cage in einem Interview mit B. Michael Williams erwähnte, kann der Klang nur innerhalb einer rhythmischen Struktur er selbst sein, da er nicht Teil dieser Struktur ist:

„In a tonality structure, sounds can’t be them- selves because they are in a structure where their pitch is necessary to the structure, so they are fulfilling the laws, so to speak. But the law in a rhythmic structure doesn’t have anything to do with the sounds. It has to do with the time or the silence, so that any sound can be itself in such a structure, and there is no indication that it is either following or not following the law except about where it is put, but where it is put doesn’t change its nature. So, sounds are themselves, whereas in Dvorak, for instance, no sound is it- self. They are all fulfilling the tonal structure of the piece. They are busy not being themsel- ves.“16

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Einen Grenzfall bildet das Performance-Stück 4'33"

(1952), ein „Stück für jedes Instrument oder jede Kom- bination von Instrumenten“, das drei Sätze innerhalb einer Dauer von 4 Minuten und 33 Sekunden umfasst.

Seine Struktur ist nicht durch Töne, sondern durch

„Zeitstrecken“ bestimmt. Nach seiner Uraufführung im August 1952 durch David Tudor wird es meistens als ein Klaviersolo in drei Sätzen absolviert, dessen An- fang und Ende durch das Zuklappen und Aufklappen des Klavierdeckels markiert werden. Das Herzstück bilden die Bewegungen des Pianisten, der nach den Blättern der Partitur greift und sie nach einer Weile niederlegt, ohne je einen Ton am Klavier gespielt zu haben. Das musikalische Geschehen ist durch die Ge- räuschkulisse ausgeschöpft, die das Publikum und der Background der Aufführung bilden. Während die Bot- schaft des Stücks, dass es keine vollkommene Stille gibt,17 außer Zweifel steht, wirft das Ende 1961 als sei- ne Neuauflage geschriebene Musikstück 0'00" Fragen auf, die aus seinem Aposteriori-Status zu 4'33" er- wachsen: Setzt eine Bewegung, die 0'00" als Dauer hat, auf einen unendlichen Raum von Möglichkeiten, um die ästhetische Demonstration von Stille zu beset- zen? Erscheint sie als Off oder im Off der Performan- ce? In dem Posteriori-Score von 0'00" teilt uns John Cage Folgendes mit:

„0'00" (4'33" for the second time). For Yoko Ono.

In a situation provided with maximum amplifica- tion (no Feedback), perform a disciplined action.

– With any interruptions. Fullfilling in whole or part an obligation to others. – No two perform- ances to be of the same action, nor may that ac- tion be the performance of a ,musical‘ composi- tion. – No attention to be given the situation (electronic, musical, theatrical). The first perform- ance was the writing of the manuscript (first mar- gination only).“18

Die Uraufführung fand 1962 in Tokyo statt: Cage saß an einer akustisch verstärkten Schreibmachine und tippte das Stück, das als eine Neuauflage von 4'33"

gelten sollte. In diesem performativen Akt, in dem das aktuell vorgeführte Stück dem hörbaren mechanischen Rhythmus der Schreibmaschine gleichgesetzt wurde, spielte sicherlich ein sonst wenig beachteter Zufall

eine wichtige Rolle – dass auf der Tastatur einer engli- schen Schreibmaschine „4“ und der Apostroph, der die Minute im Titel von 4'33" markiert, auf derselben Taste stehen. Das Gleiche gilt für die „3“ und das Anfüh- rungszeichen, das die Sekunden angibt. Den Gegen- pol zur Stille der Typografie in 4'33" bildete nun der amplifizierte Lärm in 0'00", der die „Notation“ hörbar machte. Die magische Intensität der Stille, die dieses Ereignis einleitete oder abschloss, lässt sich mit Wolf- gang Rihm als „farbige“ Stille beschreiben: „[D]ie Stille färbt sich durch das Ereignis“, das ihr folgt oder ihr in der Zeit vorangesetzt wird.19

Da Cage in Tokyo mit seiner „Partitur“ die prozedu- rale Anweisung für eine Vielzahl voneinander differie- render künftiger Interpretationen seines neuen Stückes verfasste, setzte er jede neue Interpretation des Stücks als momentanen Zustand eines Prozesses interaktiver Gestaltung voraus, der die Aufmerksam- keit auf ein jeweils spezifisches Hörereignis lenkte. Die Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen origi- nalgetreuer und interpretatorisch oder technisch ver- änderter Wiedergabe der Notation löste er aus der Perspektive des Hörers: Im Zuge „disziplinierter Aktio- nen“ wurde er mit gleichwohl unvorhersehbaren Klan- gergebnissen konfrontiert. Die Hinwendung vom Werkhaften zum Performativen, die bereits in 4'33"

einsetzte, bestimmte die Zeit beider Stücke als etwas, was aus intendierten (4'33") oder zufälligen Vorgängen (0'00") und ihrer Unterbrechung abstrahiert wurde.

Diese Vorgehensweise kann in Verbindung zum Konzept des Black Mountain Piece gebracht werden, das erste „Happening“, an dem Cage maßgeblich be- teiligt war. Es fand im Sommer 1952 am Black Moun- tain College in North Carolina statt, unmittelbar vor der Uraufführung von 4'33".

Von der Decke des großen Speisesaals des Colle- ge-Gebäudes hingen die White Paintings von Robert Rauschenberg und ein schwarz-weißes Gemälde von Franz Kline, der damals am Black Mountain College unterrichtete, an die Längswand projizierte Nick Cer- novich abstrakte Dias und Filme. Gleichzeitig lasen die Dichter Charles Olsen und Mary Caroline Richards ei- gene Poesiewerke vor, und Robert Rauschenberg spielte alte Wachszylinderaufnahmen ab. Während Cage auf einer Trittleiter in einer der Ecken aus Texten des Zen-Buddhismus und Meister Eckharts vorlas und

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David Tudor in einer anderen ein Stück für präparier- tes Klavier und Radio spielte, tanzte Merce Cunning- ham frei in dem Raum herum. Die dezentrale Auftei- lung des Geschehens spiegelte sich in der räumlichen Aufteilung der Publikumsplätze, die vier dreieckige Reihengruppen bildeten, welche zum Zentrum des Raumes hin ausgerichtet waren. In der Gleichzeitigkeit aller Vorführungen konnte sich das Publikum beliebig auf die eine oder andere Performance konzentrieren, zumal sich die Künstler auch zwischen den Sitzplätzen bewegen konnten.20

Durch seine radikale Mischung aus Aktions- und Nichtaktionspotential hatte Black Mountain Piece die Fluxus-Künstler der 1960er Jahre beeinflusst, zu wel- chen auch Yoko Ono zählte, die als Performerin John Cage auf seiner Japan-Tournee 1962 begleitete.

Stücke von Cage wurden auf mehreren Fluxus-Kon- zerten 1962–63 in Kopenhagen, Paris, London, Wup- pertal und Düsseldorf aufgeführt. Nicht zufällig defi- nierte der Fluxus-Künstler Dick Higgins die zuerst im Black Mountain Piece vollzogene Fusion verschiede- ner Künste rückblickend als Intermedia.21 In dem me- dienübergreifenden Gebrauch von Radioübertragun- gen, Schallplatten und phonographischen Aufzeich- nungen im Werk von Cage, die im Gegensatz zur eli- tären Notenschrift alle Gesellschaftsschichten erreich- ten, sah Higgins eine „soziale Vision“.22

Ähnlich den scheinbar chaotischen Montagen und Mischungen aus denaturierten Klängen und Klangma- terialien, die eine medien- und musikübergreifende Er- fahrung intendierten, öffneten sich die Performance- Stücke von Cage der realen Hörwelt hin und etablier- ten ein neues Phänomen, das als Hörkunst bezeichnet werden kann. Diese neue Kunst erschloss sich ihre In- halte nicht primär aus einer vorkomponierten Hörwelt, sondern bevorzugt aus dem Jetzt und Hier Hörbaren, zu dem auch die medial übermittelten „Zeitobjekte“

vergangener Zeiten zählten. Ein solches „Zeitobjekt“

ist die Aufnahme der Tokioter Uraufführung von 0'00", die zwar über keine Partitur im klassischen Sinne ver- fügt, jedoch dank der Jubiläumsedition der japani- schen Firma EM zum hundertsten Geburtstag von John Cage (John Cage Shock, Vol. 3)23 als akusti- sches Hörerlebnis und Dokument über die Ablösung des Hörereignisses vom Prozess seiner Klangerzeu- gung verfügbar ist.

Endnoten

1. Dick Higgins, Horizons. The Poetics and Theory of the Interme- dia, Carbondale and Edwardsville 1984, S. 20.

2. James Pritchett, The Music of John Cage, Cambridge (Mass.) 1993, S. 12.

3. Charles Amirkhanian, „Interview with John Cage at the Explorato- rium’s Speaking of Music in San Fransisco 1983“, in: John Cage Featured on KPFA’s Ode to Gravity Series (12. Dezember 1987), http://archive.org/details/JohnCageOTG, 4.12.2012.

4. William Moritz, „Oskar Fischinger“, in: Optische Poesie: Oskar Fi- schinger: Leben und Werk, hg. v. Deutschen Filmmuseum, Frank- furt /Main. 1993, S. 7-90, hier: S. 33.

5. Review, „Film-Experimente: Zu einer Matinée im Frankfurter Glo- ria-Palast“, in: Rhein-Mainische Volkszeitung vom 5. Dezember 1932.

6. Oskar Fischinger, „Klingende Ornamente! Eine neue Basis der Kunst?“, in: Saarbrücker Landeszeitung vom 11. September 1932.

7. Luciano Bonacossa, „Disegni animati e musica sintetica“, in: Le Vie d’Italia, Heft 40, N° 8 (August) 1934, S. 571-578.

8. Paul Popper, „Synthetic Sound: How Sound Is Produced on the Drawing Board,“ in: Sight and Sound, Heft 2, N° 7 (Autumn) 1933, S. 82-84.

9. William Moritz, „The Films of Oskar Fischinger“, in: Film Culture, Heft 58-60, 1974, S. 37-188, hier: S. 52.

10. ANSI. American national standard: Psychoacoustical terminology, New York 1973, S. 56.

11. Zit. nach: Monika Fürst-Heidtmann, Das präparierte Klavier des John Cage, Regensburg 1979, S. 27f.

12. John Cage, in: Time 53 vom 24. Januar 1949.

13. Emmerik, Paul van, Thema’s e variaties. Systematische tenden- ses in de compositietechnieken van John Cage, Amsterdam 1996.

14. Zit. nach: Berno Odo Polzer, „,Ich möchte immer wieder bei null beginnen…‘. Eine John-Cage-Chronologie“, in: Katalog Wien Mo- dern 2004, hg. v. Berno Odo Polzer und Thomas Schäfer, Saar- brücken 2004, S. 15-25, hier: S. 16.

15. Mauricio Kagel, „Ton-Cluster, Anschläge, Übergänge“, in: Die Rei- he, Heft 5, Wien 1959, S. 23-37, hier: S. 28.

16. John Cage, „The Future of Music: Credo“, in: Silence: Lectures and Writings, Middletown 1961, S. 3-6.

17. B. Michael Williams, “John Cage: Professor, Maestro, Percussio- nist, Composer, In: Percussive Notes, August 1993, S. 60-67, hier: S. 62f.

18. Richard Kostelanetz, Cage im Gespräch, Köln 1989, S. 63.

19. John Cage, 0‘00‘‘, Tokyo 1962.

20. Wolfgang Rihm, „Trois Essais sur le theme de …“, in: Contrech- amps N° 3 (Avant-garde et tradition), 1974, S. 70.

21. Peter Gena, „Cage and Rauschenberg: Purposeful Purposeless- ness Meets Found Order“, in: John Cage: Scores from the early 1950s (February 8 – April 18 1992, Museum of Contemporary Art), http://www.petergena.com/cageMCA.html, 13.12.2012.

22. Higgins, Horizons 1984, S. 15.

23. Higgins Horizons 1984, S. 66.

24. John Cage: Shock , 3 CDs., Omega Points/EM, 11. September 2012.

Zusammenfassung

In der Auseinandersetzung zwischen grafischen Küns- ten, Notationen und Zeitmedien gilt die Begegnung zwischen dem amerikanischen Komponisten John Cage und dem Pionier des deutschen absoluten Films Oskar Fischinger (1937) als eine ihrer Urszenen. Die Idee Fischingers von den inhärenten Eigenschaften des Materials bei der Produktion eines Tons begleitet Cage in seinen Experimenten mit Klängen und Ge-

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räuschen als angestrebte Erweiterung des verfügba- ren musikalischen Materials. Neben Möbeln, Schrau- ben und Gummistücken für sein präpariertes Klavier integriert Cage auch die Geräusche des alltäglichen Lebens in seine avantgardistische Kunst und nimmt dadurch die spätere Verwischung der Grenzen zwi- schen art media und life media durch die Fluxus- Künstler24 vorweg. Im Zuge der Aufhebung der Gren- zen zwischen Klang und Geräusch, zwischen Musik und Stille, werden in seinen von Rhythmus und Zeitge- stalten getragenen Kompositionen die Diskrepanzen zwischen Notation, interpretatorischer Freiheit und Hö- rereindruck ausgelotet, was an den Stücken 4'33"

(1952) und 0'00" (1961) gezeigt wird.

Autorin

Lena Christolova studierte Germanistik und Medien- wissenschaft in Sofia und Konstanz, Promotion in Konstanz, wo sie seit 2001 im Fach Medienwissen- schaft unterrichtet. Forschungsschwerpunkte: Avant- garde und früher Film, Wissenschaftsgeschichte und populäre Kultur. lena.christolova@uni-konstanz.de Titel

Lena Christolova, „Präparierte Klänge und Stille im Werk von John Cage“, in: kunsttexte.de, Nr. 4, 2012 (7 Seiten), www.kunsttexte.de/auditive_perspektiven.

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