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aum eine Veröffentlichung der letz- ten Jahre hat so viele Hoffnungen geweckt. Als eine Gruppe von Au- toren aus Göttingen, Tübingen und Ber- lin im März 2000 in Nature Medicine be- schrieb, dass sie durch eine Impfung bei sieben von 17 Patienten mit metastasier- tem Nierenzellkarzinom Remissionen erreicht hatte, gab es weltweit Schlagzei- len. Mehr als 400 Todkranke wurden daraufhin in Göttingen im Rahmen „in- dividueller“ Heilversuche behandelt, da- von etwa 300 in der Klinik für Urologie.Umso größer war die Enttäuschung, als im No- vember 2002 ein im Juli 2001 von der Göttinger Univer- sität eingesetztes Ombuds- gremium feststellte, „dass die Publikation den Anfor- derungen guter wissenschaft- licher Praxis nicht genügt“
(DÄ, Heft 47/2002). Die Ver- antwortung für eine lange Liste von Fehlern und Un- gereimtheiten gab das Om- budsgremium dem Erstau- tor Dr. Alexander Kugler, der damals an der Abteilung
für Urologie von Prof. Rolf-Hermann Ringert habilitierte, jetzt Göttingen aber verlassen hat. Den Bericht des Om- budsgremiums hat die Universität bis- lang nicht veröffentlicht. Er liegt aber dem Deutschen Ärzteblatt vor, das Ex- perten um eine Bewertung gebeten hat.
„Ich bin erschüttert über die lange Li- ste an Ungenauigkeiten, Fehlern und Schlampereien“, urteilt Prof. Peter Hans Hofschneider vom Max-Planck-Institut für Biochemie in München. Prof. Dolo- res Schendel vom GSF Forschungszen- trum in München, die ebenfalls an Impf- stoffen gegen Nierenzellkrebs arbeitet, sagt: „So gravierend habe ich mir die Kritik an den Autoren nicht vorgestellt.“
Insgesamt zählt der Bericht zehn Grün-
de auf, warum die Publikation guter wis- senschaftlicher Praxis nicht genügt. Die Kritik reicht von der Feststellung, dass die Studie „entgegen den Angaben in der Publikation“ keiner Ethikkommis- sion vorgelegen habe, bis hin zum Vor- wurf, dass unter den Autoren ein Rönt- gendiagnostiker fehlte, „der die Ver- antwortung für die klinische Therapie- kontrolle hätte übernehmen müssen“.
Tatsächlich zeigt der Bericht, dass die Schlüsselaussage der Publikation, es ha- be bei sieben der 17 Patienten „Regres-
sionen von Metastasen gegeben“, mit der Glaubwürdigkeit der Röntgendia- gnostik dieser Patienten steht und fällt.
Ziel der Studie war es, den Effekt einer Impfung mit „Hybridzellen“ auf Meta- stasen des Nierenzellkarzinoms nachzu- weisen. Dazu waren Tumorzellen der Pa- tienten mit dendritischen Zellen von Fremdspendern verschmolzen worden.
Die 15 Autoren berichten in Nature Medicine (2000; 6: 332), dass es bei vier Patienten komplette Remissionen von Metastasen gab, bei zweien partielle Re- missionen und bei einem Patienten eine
„gemischte“ Antwort. Doch der Bericht des Ombudsgremiums „weckt erhebli- che Zweifel, ob die in der Arbeit geschil- derte Bilanz wirklich der Therapie zu
verdanken ist“, sagt Hofschneider. Das Gremium hat die Krankenakten und Befunde von sechs Patienten (Focus- Patienten) „eingehend röntgendiagno- stisch geprüft“. Das waren die vier Pati- enten, bei denen es laut Nature Medi- cine komplette Remissionen gegeben hatte (Patienten 1, 7, 8 und 15). Hinzu kamen zwei weitere Patienten (2 und 9), die im Februar 2002 noch lebten.
Laut Publikation waren die Metastasen
„durch Computertomographie (CT), Ultraschalluntersuchungen und Kno- chenszintigraphie vor und zwölf Wochen nach der er- sten Impfung evaluiert“
worden.
Doch bei der Überprü- fung dieser Unterlagen stieß das Gremium auf Schwie- rigkeiten: „Die Krankenak- ten wurden dem Ombuds- gremium unvollständig und nicht in der Form vorgelegt, die zur Dokumentation ei- ner klinischen Studie und als Basis für die Publikation geeignet gewesen wäre. Ins- besondere behinderte es die Evaluation, dass nicht alle Röntgenbil- der verfügbar waren.“ Die Folge war, dass das Gremium bei keinem der sechs Focus-Patienten zu einer Bestätigung der in der Publikation geschilderten Be- urteilung kam:
Patient 1 – complete response: „Da dem Ombudsgremium kein Ausgangs- CT verfügbar war, konnte der Vakzinie- rungserfolg nicht überprüft werden“, heißt es in dem Bericht. Falls tatsäch- lich keine Referenz-CT-Untersuchung durchgeführt wurde, hätte dieser Pati- ent „ausgeschlossen werden müssen“.
Patient 2 – partial response: „Unklar- heiten ergaben sich wegen einer zwi- schenzeitlich durchgeführten Strah- lentherapie.“ Allerdings schienen auch P O L I T I K
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A238 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 531. Januar 2003
Fehlverhalten in der Forschung
Liste von Fehlern und Schlampereien
Göttinger Ombudsgremium urteilt über eine Studie zur Impfung bei metastasiertem Nierenzellkarzinom, die im März 2000 in Nature Medicine veröffentlicht worden war.
Medizinreport
Effekte außerhalb des Strahlenfeldes nachweisbar zu sein, was das Gremium
„als Ansprechen auf die Vakzinierung“
wertet.
Patient 7 – complete response: Die Bewertung als „complete response“ ist [. . .] nicht überzeugend, „weil die Mess- läsion nach Vakzinierung operativ ent- fernt wurde“, heißt es im Bericht.
Patient 8 – complete response: Lun- genmetastasen waren mit den vorlie- genden Unterlagen nicht überprüfbar.
Skelettläsionen waren nicht beurteilbar, da nach der Vakzinierung eine Strah- lentherapie erfolgte. Da der Patient im Februar 2002 noch lebte, sei „ein An- sprechen zwar wahrscheinlich, aber an- hand der . . . vorliegenden Unterlagen nicht nachzuweisen“.
Patient 9 – stable disease: Laut Be- richt ist die Ausgangssituation „un- klar“. „Metastasen waren nicht mit Si- cherheit nachgewiesen.“ Dieser Patient hätte schon deswegen ausgeschlossen werden müssen, weil er den Einschluss- kriterien nicht genügte.
Patient 15 – complete response: „Im Hinblick auf den Erfolg der Immunisie- rungstherapie ist dieser Patient nicht bewertbar, weil die einzige nachgewie- sene Metastase einen Monat vor der ersten Vakzinierung operativ entfernt wurde“, schreibt das Gremium. Auch in diesem Fall sah es einen Verstoß gegen die Einschlusskriterien.
Die Signifikanz der Studien- ergebnisse ist damit fraglich
Zusammenfassend zeigt sich, dass in der Publikation bei vier dieser sechs Focus- Patienten eine Behandlung mit weiteren Therapien unerwähnt blieb, bei den bei- den übrigen sind dem Gremium ent- scheidende Unterlagen nicht vorgelegt worden. Zwei bis drei dieser sechs – für die Bewertung des Erfolges der Thera- pie wichtigen – Patienten hätten ausge- schlossen werden müssen. Zusätzlich hätten auch zwei weitere Patienten aus- geschlossen werden müssen. „Damit ist fraglich, ob die Ergebnisse noch signifi- kant sind“, sagt Hofschneider.
Selbst wenn es ein oder zwei Remis- sionen gegeben haben sollte, müssen die nicht ein Erfolg der Impfung sein. Spon- tanremissionen sind bei metastasiertem
Nierenzellkarzinom ein relativ häufiges Phänomen. So beschreiben kanadische Urologen, dass sie im Rahmen einer pla- cebokontrollierten Studie, in der sie In- terferon Gamma-1b gegen metastasierte Nierenzellkarzinome erprobt haben, bei sechs der 90 mit Placebo behandelten Patienten Spontanremissionen gesehen haben (in der Interferon-Gruppe gab es vier Remissionen). „Unsere Studie zeigt, dass die Inzidenz von Spontanremissio- nen in ausgewählten Gruppen höher sein kann als erwartet“, so die Autoren (BJU International 2000; 86: 613).
Und US-Ärzte beschreiben, dass auf- grund ihrer Erfahrung auch trotz Me- tastasierung nach fünf Jahren noch zehn bis 20 Prozent der Patienten leben (J Clin Oncol 2002; 20: 1368). Nach die- sen Daten wäre es durchaus möglich, dass unter 17 Patienten einige Spontan- remissionen beziehungsweise Langzeit- überlebende zu beobachten sind.
Eine Schlüsselstellung für die Beur- teilung der Frage, wie glaubwürdig die Publikation insgesamt ist, haben vier in Nature Medicine gezeigte CT-Aufnah- men (Figure 3). Laut Legende zeigen sie
„CT-Scans des Patienten 8 vor (Mai 1998) und sechs Monate nach (Dezem- ber 1998) der Hybridzell-Vakzinierung“.
Die Bilder sollten Rückbildungen von Knochen- und Lungenmetastasen bele- gen.Tatsächlich, so schildert der Bericht, wurden zwei der Bilder zu ganz anderen Terminen und in acht (nicht sechs) Mo- naten Abstand erstellt, zwei weitere der vier Bilder stammten gar nicht von Pa- tient 8, sondern vermutlich von einem 1997 außerhalb der Studie mit einer an- deren Therapie behandelten Patienten.
Diese „Verwechslung“ konnte sich Erstautor Kugler nicht erklären, heißt es in dem Bericht. Kugler übergab dem Ombudsgremium dann weitere Thorax- aufnahmen des „Patienten 8“, doch die- se Aufnahmen stellten sich erneut als Bilder eines anderen Patienten heraus.
Angesichts der Fülle und Schwere der Mängel kommt das Gremium zu ei- ner „ausgesprochen wohlwollenden Be- wertung“ (Hofschneider), wenn es schreibt, dass es „ein weniger günstiges Bild als das in der Publikation vermit- telte“ gewonnen habe.
Nach Auskunft von Dr. Peter Walden (Charité Berlin), einem der Co-Auto- ren, wollen die Autoren nun ein Erra-
tum erarbeiten und an Nature Medicine schicken. Walden sieht trotz der langen Liste an Vorwürfen und Kritikpunkten die Grundaussage der Studie „nicht in- frage gestellt“. Nach Bericht des Maga- zins Science sieht auch Ringert keinen Grund für einen Rückzug der Arbeit.
Schendel sieht der Korrektur mit Spannung entgegen. Die 15 Autoren müssten Nature Medicine alle Fehler mitteilen und der Fachwelt eine neue Auswertung vorlegen. Es sei zweifel- haft, ob dann genügend Substanz übrig bleibe, um die Aussage, es habe durch die Impfung bedingte Remissionen ge- geben, aufrechtzuerhalten, sagt sie. Soll- te sich die alte Schlussfolgerung nicht halten lassen, „dann gehöre die Arbeit zurückgezogen“, so Schendel.
Kommission der DFG prüft den Bericht
Prof. Ulrike Beisiegel, Prodekanin für Forschung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, urteilt ähnlich:
„Wenn die Kritik des Ombudsgremi- ums zutrifft, dann muss die Arbeit zu- rückgezogen werden.“ Alleine der Sach- verhalt, dass es nach Feststellung des Gremiums kein Ethikvotum gegeben ha- be, „entziehe der Arbeit eine fundamen- tale Voraussetzung für eine Publikation“.
Spannend wird sein, wie Nature Med- icine den Bericht des Ombudsgremiums und die Reaktion der Autoren bewertet.
Chefredakteurin Dr. Beatrice Renault hat über ihr weiteres Vorgehen „noch nicht entschieden“. „Wenn ich Editor wäre, würde ich die Publikation mit dem Bedauern, die Mängel nicht erkannt zu haben, zurücknehmen“, sagt Beisiegel.
In der Schwebe ist noch, wie die Deut- sche Forschungsgemeinschaft (DFG) die Angelegenheit beurteilt. Auch dort prüft eine Kommission den Bericht des Ombudsgremiums. Dabei geht es vor al- lem um die Rolle von Prof. Ringert und Prof. Lothar Kanz von der Universität Tübingen, ein weiterer Co-Autor der Arbeit, die beide als Fachgutachter für die DFG tätig sind. Kanz hatte im Som- mer 2001 eine Arbeit aus dem New Eng- land Journal of Medicine zurückgezo- gen, bei der nach DFG-Urteil „wissen- schaftliches Fehlverhalten“ im Spiel war (DÄ, Heft 23/2001). Klaus Koch P O L I T I K
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A240 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 531. Januar 2003