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Archiv "Psychiatrisierung von Kindern" (16.05.2014)

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364 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 111

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Heft 20

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16. Mai 2014

M E D I Z I N

DISKUSSION

Mehr Patienten und weniger Zeit

Die Gabe von Psychopharmaka in der Kinder- und Jugendpsy- chiatrie hat tatsächlich meines Erachtens zugenommen.

Neben einer Verbesserung der Diagnostik, Achten auf prodro- male Phasen psychischer Störungen und verbesserter Diagnos- tik spielen auch der Behandlungszeitfaktor und die knappe Res- source „Behandlungsplatz“ bei der Zunahme an Verordnungen eine (wichtige) Rolle. Die Behandlungszeiten in den Kliniken werden kontinuierlich kürzer, die Behandlungsteams müssen im selben Zeitraum immer mehr Patienten behandeln bei gleichzei- tiger Abnahme der Mitarbeiterzahl. Lange Patienten-Wartezeiten und wenig Anreize für Behandler, lange Behandlungsdauern in Kauf zu nehmen, da diese vom Gesundheitssystem sanktioniert werden, machen (längere) Behandlungen ohne Medikation weni- ger attraktiv. Der Griff zum Medikament schafft dann zunächst zügig eine (Schein-)Lösung. Da es kaum neuere Psychopharma- ka gibt, die für das Kindes- und Jugendalter zugelassen sind, was zusätzliche Hürden aufbaut, ist es (auch aufgrund von Kosten- faktoren) nicht verwunderlich, dass hauptsächlich ein atypi- sches Neuroleptikum häufig verabreicht wird.

Um der Zunahme von Psychopharmakavergabe bei Kindern und Jugendlichen entgegenzuwirken, bedarf es einiger Ver - änderungen im Versorgungs- und Gesundheitssystem. Längere, effektivere Behandlungszeiten, die dann möglich sind, wenn den Kliniken und Praxen die entsprechenden Möglichkeiten er- öffnet werden (mehr Behandlungsplätze, mehr qualifiziertes Personal und ausreichende Behandlungsdauern) würden die Zahl der Verordnungen wieder senken. Günstiger für das Ge- sundheitssystem wird es dann sicherlich, wenn man längere Zeiträume betrachtet und nicht in Regierungszeitzyklen denkt.

Fazit: Psychopharmakavergabe ja, aber vor dem Hintergrund ei- ner fundierten, ausreichend langen und multimodalen Behand- lung, die nicht hauptsächlich auf kurzsichtige Kostenaspekte ausgerichtet ist.

DOI: 10.3238/arztebl.2014.0364a LITERATUR

1. Bachmann CJ, Lempp T, Glaeske G, Hoffmann F: Antipsychotic prescriptions in children and adolescents—an analysis of data from a German statutory health insurance company from 2005–2012. Dtsch Arztebl Int 2014; 111: 25–34.

Giulio Calia

Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Tagesklinik Walstedde, Drensteinfurt

calia@tagesklinik-walstedde.de

Interessenkonflik

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Mangelverwaltung

Störungen des Sozialverhaltens, wie im Beitrag als Grund für Medikamentierung angegeben, haben in den letzten Jahrzehnten nicht zugenommen. Sie können also die Zunahme der Verord- nungen um das 2,5- bis 3-fache nicht erklären. Aufhorchen lässt vor allem der Befund, dass die Verordnungen von Antipsychotika bei Kindern und Jugendlichen nur in etwa einem Viertel (27,9 %) der Fälle von Fachärzten für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie vorgenommen wurden. Nahezu drei Viertel stammen also von Kinder- und Jugendärzten, Hausärzten und Vertretern anderer Fachrichtungen, die keine spezielle Kompe- tenz dafür haben.

Die Information dieser Kollegen geschieht überwiegend durch Pharma-Referenten, die natürlich in erster Linie den Umsatz ih- rer Auftraggeber steigern möchten. Ein anderes angesprochenes Problem ist der Mangel an Psychotherapie-Angeboten für diese Kinder und Jugendlichen. Dieser stellt eine gesundheitspoliti- sche Misere dar, der nicht durch Psychopharmaka-Verordnungen überdeckt werden sollte.

Letztlich ist es nicht zu verantworten, dass Kindern und Ju- gendlichen mit sozialen Anpassungsstörungen keine andere Hilfe zuteil wird, als sie durch Dämpfung ihrer Symptome mittels mas- siv in den Hirnstoffwechsel eingreifender Antipsychotika „ruhig zu stellen“. Die Not und Verzweiflung solcher Kinder und ihrer Familien werden so nicht ernst genommen. Die Ursachen des auffälligen Verhaltens werden gar nicht erst erforscht.

DOI: 10.3238/arztebl.2014.0364b LITERATUR

1. Bachmann CJ, Lempp T, Glaeske G, Hoffmann F: Antipsychotic prescriptions in children and adolescents—an analysis of data from a German statutory health insurance company from 2005–2012. Dtsch Arztebl Int 2014; 111: 25–34.

Dr. med. Terje Neraal Wettenberg t.neraal@t-online.de

Interessenkonflikt

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Psychiatrisierung von Kindern

Anders als in der Metaanalyse werden in der KiGGS-Studie 2013 bei 17 % Befragter zwischen 11 und 17 Jahren emotionale Probleme, Hyperaktivitätsprobleme, Verhaltensauffälligkeiten und Probleme mit Gleichaltrigen gefunden.

Nach Tabelle 3 entfallen 61,5 % der Verordnungen von Rispe- ridon auf die hyperkinetische Störung und 36,5 % auf die Sozial- verhaltensstörung. Sie kommt bei 40–60 % der hyperkinetischen Störungen vor.

Wären diese alle mit Risperidon behandelt, gäbe es keine d amit behandelte Sozialverhaltensstörung ohne hyperkinetische Störung. Kinder- und Jugendärzte behandeln die hyperkinetische Störung leitlinienkonform auch mit Stimulanzien und nicht mit Risperidon. Bei zusätzlicher, beeinträchtigender Sozial - verhaltensstörung und fehlender Besserung durch Stimulanzien- behandlung wird auch mit Risperidon behandelt. Leider wird die Sozialverhaltensstörung als F91 oder F90.1 nicht immer ko- diert.

zu dem Beitrag

Antipsychotika-Verordnungen bei Kindern und Jugendlichen: Auswertung von

Daten einer gesetzlichen Krankenkasse für den Zeitraum 2005–2012

von Prof. Dr. med. Christian J. Bachmann,

Dr. med. Thomas Lempp, Prof. Dr. rer. nat. Gerd Glaeske, PD Dr. P. H. Falk Hoffmann, MPH in Heft 3/2014

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Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 111

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Heft 20

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16. Mai 2014 365

M E D I Z I N

Die Versorgung verhaltensauffälliger Kinder- und Jugendli- cher und ihrer Familien mit sozialpädagogischen Interventions- formen wie kontinuierliche Familienhilfen, erreichbare und dau- erhafte Sozialkompetenz- und Antiaggressionsgruppen, Eltern- und Lehrerschulungen ist nicht ausreichend, flächendeckend und immer kostenfrei. Die „Psychiatrisierung“ von Kinder- und Ju- gendlichen, dass heißt Diagnosezuweisung mit einer F-Ziffer der ICD-10 für sozialpädagogisch zu beeinflussendes Verhalten, soll Therapieplätze mit Kostenübernahme ermöglichen. Monatelange Wartezeiten und Ortsferne statt aufsuchender Familienhilfe sind dann demotivierend.

Ärzte müssen Leiden der Patienten und der Familie lindern, Symptomzunahme und Entstehung komorbider Störungen ver- hindern. Was ist daran falsch, wenn zunächst die Verordnung von Antipsychotika darin begründet ist, „dass eine medikamen- töse Therapie schneller zu initiieren ist als eine psychothera - peutische Behandlung“? Die Verantwortung dafür liegt nicht bei denen, die den Mangel an sozialpädagogischer und therapeu - tischer Versorgung verwalten und dem anhaltenden Leiden zu - sehen müssen.

DOI: 10.3238/arztebl.2014.0364c LITERATUR

1. Bachmann CJ, Lempp T, Glaeske G, Hoffmann F: Antipsychotic prescriptions in children and adolescents—an analysis of data from a German statutory health insurance company from 2005–2012. Dtsch Arztebl Int 2014; 111: 25–34.

Dr. med. Ullriich Kohns Kinder- und Jugendmedizin Psychotherapie/Homöopathie, Essen dr.kohns@t-online.de

Interessenkonflikt

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Schlusswort

Wir danken den Kollegen für die Zuschriften auf unseren Artikel (1). Dem Kollegen Neraal stimmen wir zu, dass Antipsychotika- Verordnungen bei Störungen des Sozialverhaltens (sofern über- haupt indiziert) grundsätzlich psychotherapeutischen Behand- lungen nachgeordnet sein sollten. Hier besteht in der Tat in ver- schiedenen Regionen Deutschlands immer noch eine erhebliche Unterversorgung mit psychotherapeutischen Angeboten.

Andererseits muss in diesem Zusammenhang auch darauf hin- gewiesen werden, dass eine klassische Einzelpsychotherapie bei Störungen des Sozialverhaltens im Regelfall nicht indiziert ist und es auch keinen Hinweis für entsprechende Wirksamkeit gibt (2). Die aktuellen, methodisch hochwertigen UK-Leitlinien emp- fehlen je nach Altersstufe vor allem Elterntrainings oder multi- modale Interventionen (zum Beispiel Multisystemische Thera- pie) (3). Insbesondere die letztgenannten Therapieformen sind in Deutschland kaum vorhanden und sollten zur Vermeidung unge- rechtfertigter Antipsychotika-Verschreibungen unbedingt ausge- baut werden.

Was die verschreibende Fachrichtung angeht, muss berück- sichtigt werden, dass wir alle Verordnungen von Antipsychotika (das heißt Erst- und Folgeverordnungen) analysiert haben. Stellt ein Kinderarzt beispielsweise für ein Kind mit Sozialverhaltens- störung und sehr erheblicher Impulsivität eine Folgeverordnung über Risperidon nach erfolgter Indikationsstellung und Erstver- ordnung durch einen Kinder- und Jugendpsychiater aus, so ist dies bei entsprechendem Monitoring von UAW unseres Erach-

tens eher unbedenklich (und leitliniengemäß [3]), als wenn die Therapie durch einen Kollegen anderer Fachrichtung initiiert wird.

Auf den Hinweis des Kollegen Kohns auf die KiGGS-Studie möchten wir erwidern, dass es sich dabei gegenüber der von uns zitierten Metaanalyse um eine querschnittliche Erhebung han- delt, die zudem keine klinischen Diagnosen erhoben hat, sondern nur mit Screening-Verfahren Symptome verschiedener kinder- und jugendpsychiatrischer Störungsbilder erfasst hat.

In unserer Studie hatten 19,4 % aller Patienten mit Risperi- don-Verschreibung (Daten im Artikel nicht abgebildet) die Dia - gnose eines ADHS ohne komorbide Sozialverhaltensstörung.

Dies spricht aus unserer Sicht für einen signifikanten Teil nicht leitlinienkonformer Behandlungen.

Der Klage der Kollegen Kohns und Calia über die absolut un- zureichende Versorgungslage für Kinder und Jugendliche mit Störungen des Sozialverhaltens können wir uns in vollem Um- fang anschließen. Besonders ärgerlich ist aus unserer Sicht aber vor allem das Fehlen evidenzbasierter Therapieangebote (zum Beispiel sind die gern durchgeführten Antiaggressions-Trainings mit einer nur aus sozialverhaltensgestörten Kindern zusammen- gesetzten Gruppe nicht wirksam und daher kontraindiziert). Er- freulicherweise haben viele unserer europäischen Nachbarländer schon länger die große gesellschaftliche Herausforderung ange- nommen, die Sozialverhaltensstörungen beziehungsweise antiso- ziales Verhalten nicht nur im Kindes-, sondern auch im Erwach- senenalter darstellen, und entsprechend umfassende Änderungen der Versorgungslandschaft initiiert. Diese Initiativen sind nicht zuletzt aus handfesten ökonomischen Erwägungen entstanden, da gute evidenzbasierte Therapie- und Präventionsprogramme langfristig Kosten sparen können (4). Angesichts der gewaltigen Ausmaße der „neuen Morbidität“ wäre eine solche Initiative auch in Deutschland äußerst begrüßenswert.

DOI: 10.3238/arztebl.2014.0365 LITERATUR

1. Bachmann CJ, Lempp T, Glaeske G, Hoffmann F: Antipsychotic prescriptions in children and adolescents—an analysis of data from a German statutory health insurance company from 2005–2012. Dtsch Arztebl Int 2014; 111: 25–34.

2. Bachmann M, Bachmann C, John K, Heinzel-Gutenbrunner M, Remschmidt H, Mattejat F: The effectiveness of child and adolescent psychiatric treatments in a naturalistic outpatient setting. World Psychiatry 2010; 9: 111–7.

3. National Institute for Health and Care Excellence (NICE). Antisocial behaviour and conduct disorders in children and young people: recognition, intervention and management. NICE Clinical Guideline 158. The British Psychological Society and The Royal College of Psychiatrists. Leicester/London 2013.

http://guidan cee.nice.org.uk/cg158

4. Bachmann C, Lehmkuhl G, Petermann F, Scott S: Evidenzbasierte psychothera- peutische Interventionen für Kinder und Jugendliche mit aggressivem Verhalten.

Kindh Entw 2010; 19: 245–54.

Prof. Dr. med. Christian J. Bachmann

Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Fachbereich Medizin, Philipps-Universität Marburg

christian.bachmann@med.uni-marburg.de PD Dr. P.H. Falk Hoffmann, MPH Abteilung Gesundheitsökonomie,

Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung, Zentrum für Sozialpolitik, Universität Bremen

Interessenkonflikt

Prof. Dr. Bachmann erhielt Honorare für Vortragstätigkeit von Actelion, Novartis, Medice und Ferring sowie für die Erstellung eines Buchkapitels von der BARMER GEK. Er hat als Studienarzt bei klinischen Studien der Firma Shire und Novartis mitgewirkt.

PD Dr. Hoffmann ist im Rahmen von Drittmittelverträgen für verschiedene Krankenkassen (BARMER GEK, DAK, TK, verschiedene BKKen) tätig.

Referenzen

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