AfS aktuell
Keine Ahnung von Tuten und Blasen
Massive Tendenzen zur Reduktion des Musikunterrichts
Friedrich Neumann
Foto:FriedrichNeumann
ie Turbulenzen um das Fach Mu- sik an Allgemeinbildenden Schu- len wollen kein Ende nehmen. In vie- len Bundesländern mehren sich erneut die Bestrebungen, das Unterrichtsange- bot in Musik auszudünnen. Besonders betroffen ist davon im Augenblick Ber- lin, genauer gesagt, die Sekundarstufe in Berlin, aber die Erfahrung hat ge- zeigt, dass Kürzungen – wenn sie erst- mal vollzogen worden sind – gern von anderen Ländern nachgeahmt werden und auch auf andere Schulformen über- greifen. Die Musiklehrerverbände AfS und VDS haben sowohl einzeln wie
auch in gemeinsamen Aktionen dage- gen protestiert und diesmal überra- schend viel Schützenhilfe aus dem ge- samten Kulturbetrieb bekommen.
Die Situation in Berlin
Hier zunächst die Ausgangslage: Wie in den meisten Bundesländern, werden auch in Berlin Haupt- und Realschule zusammengelegt. Für diese neuen „Se- kundarschulen“ gibt es nun eine neue Stundentafel, in der sich Musik und
Kunst ein gemeinsames Deputat von zwei Wochenstunden teilen. Welches der beiden Fächer mit welcher Stunden- zahl unterrichtet wird, steht im Ermes- sen der Schule. Sie kann frei über die Vergabe verfügen. Im Jahr 2006 hatte der Berliner Senat schon einmal etwa Ähnliches mit einer sogenannten „fle- xiblen Stundentafel“ versucht, musste aber nach einer öffentlichkeitswirksa- men Protestaktion der Verbände klein beigeben und versprechen, dass jede Schule verbindlich Musikunterricht an- bieten muss. Sollte die neue Stundenta- fel Realität werden, kann Musikunter-
Landesvorsitzender Meinhard Ansohn Grimmstraße 23 10967 Berlin Tel.: 030- 6950 3828
Landesgeschäftsstelle:
Andreas Engel Darmstädter Straße 7 10707 Berlin Tel.: 030- 8862 9999
Bundesvorsitzender des AfS:
Prof. Dr. Jürgen Terhag Dierath 52 42799 Leichlingen Tel.: 02175-16 85 99
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Stefan Hülsermann Pestalozzistraße 16 34119 Kassel Tel.: 0561- 7668 1989
• Schulen, an denen temporär keinMusiklehrer zur Verfügung steht (z.B. wegen Pensionierung) haben nun die Möglichkeit, diese Stelle und damit dasFach wegzusparen.
Wir weisen daraufhin, dass Musikunterricht einen wichtigen Beitrag zur
Persönlichkeitsbildung leistet undnicht mit PISA-Kriterien gemessenwerden kann. Eine Reduktion des Angebots zieht – w
ie Sie sicherlich wissen - nicht nur Folgen für die soziale Entwicklung der Schülerinnen undSchüler nach sich, sondern auch für das kulturelle Leben und die kulturellen Angebote unserer Gesellschaft nach sich. Eltern wissen das schon lange.
Davon zeugt der große Ansturm, den musikbetonte Schulen und Schulen mit musisch- künstlerischem Profil seit geraumerZeit erleben.
Wir fordern Sie hiermit auf, zwei Wochenstunden Musik verbindlich inder Stundentafel zu verankern.
Wir sind jederzeit bereit, mit Ihnenin den Dialog zu treten und gemeinsam an Lösungen zu arbeiten.
Mit freundlichem Gruß
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Arbeitskreis für Schulmusik und allgemeine Musikpädagogike. V.
Landesbereich Berlin
Dipl. Päd.Friedrich Neumann (Öffentlichkeitsarbeit &Landesmusikrat) Goethestraße 61a, 16548 Glienicke Tel.: 033056 – 224 330 Fax: 033056 – 224 332 e-mail:friedrich.neumann@afs-musik.de
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AfS-Berlin- FriedrichNeumann Goethestraße 61a, 16548 Glienicke
An den
Senator f. Bildung, Wissensch. & Forschung Herrn Prof. Dr. Jürgen Zöllner
Beuthstr. 6-8 10117 Berlin
Ihr Zeichen/
Unser Zeichen/
Berlin, den
Ihre Nachricht vom
Unsere Nachricht vom
23. Februar 2010
Neue Stundentafel für Sekundarschulen
Sehr geehrter Herr Dr. Zöllner,
aus der Presseerklärung Ihres Hauses zur Stundentafel der neuenSekundarschule ist ersichtlich, dass sich die Fächer Musikund Kunst inZukunft zwei Wochenstunden durchgängigvon Klasse 7bis 10 teilen.
Damit setzt sich der Prozess einer schleichenden Ausdünnung des Musikunterrichts an Berliner Schulen erneut fort. Bis 2005 wurde Musikunterricht in der Mehrzahlder Klassen- und Schulstufen verpflichtend zweistündig erteilt. Als im Frühjahr 2005 das Pflichtangebot im Rahmen der Flexibilisierung der Stundentafel verringert wurde, hatten wir zusammen mit dem VDS-Berlin und anderen Musikinstitutionen dagegen protestiert, denn eine Umfrage unter unseren Mitgliedern hatte ergeben, dass sich der Musikunterricht an der Mehrzahl der Schulen dadurch verringerte. Der damalige Bildungssenator Böger hatte uns daraufhin drei Wochenstunden für Musik und Kunst an Realschulen verbindlich zugesichert.
Das steht nun in Frage, wenn künftig nur noch zweiWochenstunden für Kunst und Musik zur Verfügung stehen.
Die Folgen sind gravierend:
• Durch einen epochalenWechsel zwischen Musikund Kunst schwindet dieKontinuität des Lernens. DerKenntnisstand reicht dannnicht mehr für einen Grund- oder gar Leistungskurs in der Oberstufe.
• Fußnote d)hält den Schulen die Möglichkeit offen, gänzlich auf Musikunterricht zu verzichten, wenn sie das für richtig halten, z. B. um mehr Kapazitäten für PISA-relevante Fächer zu gewinnen.
D
Brief des AfS Berlin vom 23. Februar 2010 an Prof. Dr. E. Jürgen Zöllner, Senator für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Berlin, geschrieben von Friedrich Neumann.
AfS aktuell
richt tatsächlich ausfallen – im günsti- gen Fall durch einen epochalen Wech- sel mit Kunst, im schlimmsten Fall ist aber auch der vollständige Wegfall des Schulfachs in der gesamten Sekundar- stufe möglich. Die Folgen wären ver- heerend.
In den Gymnasien ist die Situation ähn- lich. In Klasse 7 gibt es zweistündigen Musikunterricht, Klasse 8/9 nur noch zwei Stunden für Musik und Kunst, in Klasse 10 entscheidet die Gesamtkon- ferenz, ob Musik oder Kunst erteilt wird. Der Kenntnisstand reicht deswe- gen oft nicht für die Oberstufe aus.
Leistungskurse finden schon jetzt kaum
noch statt und schulische Ensembles wie Chöre, Orchester, Rock-Bands und Bigbands werden zunehmend seltener.
Ein genialer Spar-Trick zu Lasten von Musik
Verkauft wird den Eltern diese Stun- dentafel als Zugeständnis an den Wunsch, die Belastungen durch das G8-Abitur (Abitur in zwölf Schuljah- ren) in Grenzen zu halten und die Stun- denzahl für die Schüler zu reduzieren.
Damit die PISA-Tauglichkeit unserer Schüler nicht noch mehr leidet, liegt
das Schwergewicht im Unterrichtsange- bot auf den Hauptfächern und den Vor- bereitungsphasen für MSA und Abitur.
Dabei nimmt man nur zu gern in Kauf, dass für weniger Unterricht auch weni- ger Lehrkräfte benötigt werden. Wenn also die Pensionierungswelle nach den Sommerferien die Lehrerkollegien aus- gedünnt hat, macht das nichts weiter, denn die verbliebenen Kollegen schaf- fen das bisschen Unterricht auch so.
Neueinstellungen kann man deswegen getrost verschieben.
Proteste von allen Seiten
Während die Musiklehrerverbände in früheren Zeiten mit ihrem Protest mei- stens allein da standen, haben sich jetzt die Spitzen der Kultur eingeschaltet und dabei erwartungsgemäß ein hohes Presse-Echo ausgelöst. Als die Inten- dantin der Philharmonie in Berlin, Pa- mela Rosenberg, durch den VDS von der neuen Stundentafel erfuhr, rief sie sofort eine Protest-Veranstaltung in der Philharmonie ins Leben (siehe Foto S.
24) Das Protestschreiben wurde nicht nur vom musikalischen Leiter der Phil- harmoniker, Sir Simon Rattle, unter- zeichnet, sondern von allen namhaften Kulturschaffenden in der Hauptstadt, wie z. B. Daniel Barenboim (Staatso- per), Ingo Metzmacher (Deutsche Oper). Auch die Schüler selbst melde- ten sich zu Wort. Der 19-jährige Philipp Kay Köppen schrieb am 22.3.2010 in der Berliner Zeitung: „Derart verkürzen wie vorgeschlagen darf man den Mu- sikunterricht nicht, wenn man auf einen kulturell gebildeten Nachwuchs Wert legt. Sonst hat im Land der Klassik bald niemand mehr Ahnung von Tuten und Blasen.“
An den Senator
für Bildung, Wissenschaft und Forschung Prof. Dr. Jürgen Zöllner
Otto-Braun-Str. 27 10178 Berlin
Sehr geehrter Prof. Dr. Zöllner,
in der kommenden Woche werden sich die Bundesvorstände der beiden größ- ten Musiklehrerverbände, die gemeinsam fast 10.000 bildungs- und kulturpoli- tisch besonders sensibilisierte und interessierte Mitglieder vertreten, in der ersten außerordentlichen Bundesvorstandssitzung ihrer über 50jährigen Ver- bandsgeschichte in Weimar mit der desaströsen Situation des Fachs Musik in Berlin beschäftigen. Die Pläne Ihres Ministeriums, in der neu zu bildenden Sekundarschule dem Fach Musik nur noch zwei Stunden zusammen mit Kunst einzuräumen, die auch noch bis auf eine einzige Stunde Musik in der 10. Klas- se ganz wegfallen dürfen, haben unserer Meinung nach eine bundesweite bildungspolitische Bedeutung, denn wir wollen mit allen Kräften verhindern, dass das, was derzeit in unserem Fach als „Berliner Verhältnisse“ beschrieben wird, in anderen Ländern Nachahmer findet.
Sie sollten vorbehaltlich der in unserer außerordentlichen Sitzung zu verfas- senden Protestnote jetzt bereits wissen, dass beide Verbände über sämtliche publizistischen und bildungspolitischen Kanäle deutlichen machen werden, was dieser kultur- und bildungspolitische Kahlschlag im Fach Musik für die gesamte kulturpolitische Landschaft bedeutet. Besonders unsere Landesverbände in NRW werden angesichts der dortigen auch bildungspolitisch wichtigen Wahl deutlich machen, was eine Regierungsbeteiligung der SPD für die Bildungs- und Kulturpolitik bedeutet.
Wir fordern Sie im Interesse des Kulturlebens der Bundeshauptstadt und vor allem um der in Berlin lebenden Kinder und Jugendlichen willen eindringlich dazu auf, Ihre Pläne zu überdenken, denn diese werden den Musikunterricht gerade an Schulen mit einer kleinen Lobby für das Fach Musik faktisch ab- schaffen. Da nützt ein evtl. steigender Musik-Anteil an einigen wenigen musika- lisch besonders engagierten Gymnasien der Bildungslandschaft überhaupt nichts, er verstärkt im Gegenteil die kulturelle Spaltung der Gesellschaft noch weiter.
Mit freundlichen Grüßen
(Prof. Dr. Jürgen Terhag) Köln, den 5. April 2010
Brief des Bundesvorsitzenden des AfS Jürgen Terhag an den Senator für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Berlin.
Die Reaktion von Jürgen Zöllner auf die Briefe von Friedrich Neumann und Jürgen Terhag
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