• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Erdbeben in Indien: Begraben unter Trümmern" (27.04.2001)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Erdbeben in Indien: Begraben unter Trümmern" (27.04.2001)"

Copied!
3
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

T H E M E N D E R Z E I T

A

A1110 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 17½½27. April 2001

A

m Freitag, den 26. Januar 2001 bebte im westindischen Staat Gujarat um 4.16 Uhr mitteleu- ropäischer Zeit die Erde. Das Beben wurde mit einer Stärke von 7,9 auf der Richterskala gemessen. Das Epizen- trum lag nahe der Stadt Bhuj, die bis dahin circa 130 000 Einwohner hatte.

Wie bei Naturkatastrophen dieser Größenordnung üblich, fehlte zunächst jegliche Übersicht. Zuerst sprach man von zehn Toten und musste dann stündlich die Zahl der Opfer nach oben korrigieren. Inzwischen geht die indi- sche Regierung davon aus, dass minde- stens 100 000 Menschen die Katastro- phe nicht überlebt haben. Der oft geäußerte Vorwurf, viele Häuser seien aufgrund der schlechten Bausubstanz zusammengebrochen, ist in dieser Pau- schalität sicher falsch. Das Beben war so stark, dass auch stabilere Häuser eingestürzt wären.

Bei einem Erdbeben, das Häuser zum Einsturz bringt, ist es wahrschein- lich, dass Menschen lebend verschüttet werden. Diese Verschütteten zu finden, aus den Trümmern zu befreien, ihnen erste medizinische Hilfe zu leisten und sie anschließend in entsprechende Ein- richtungen zu transportieren, haben sich die „Search and Rescue-Teams“

(SAR) verschiedener Nationen zur Aufgabe gemacht. Die Kosten für diese Hilfsaktionen tragen grundsätzlich die helfenden Länder.

Einstürzende Häuser und umherflie- gende Trümmer sind für die meisten To- ten und Verletzten verantwortlich. Den Verschütteten droht der Erstickungs- tod. Sind sie für längere Zeit unter Trümmern begraben, kommt es zur Exsikkose, die zum Tod durch Dehy- dration führen kann. Auch primär nicht lebensbedrohliche Verletzungen kön- nen ohne die notwendige Behandlung

fatal sein. Werden Menschen mit Ver- letzungen nach längerer Zeit gerettet, kann das Crush-Syndrom auftreten. Das Schlimmste, was Verschütteten und Hel- fern passieren kann, ist der plötzliche Bergungstod: In dem Moment, in dem der Patient befreit wird, sackt er leblos zusammen und kann nicht mehr erfolg- reich reanimiert werden. Über die Ursa- che gibt es nur Vermutungen. Während manche Wissenschaftler eine starke psy- chosomatische Komponente sehen (der Patient lässt sich fallen, die eigene Ad- renalinausschüttung funktioniert nicht mehr), glauben andere, es handele sich eher um ein embolisches Geschehen.

In der ersten Phase nach einem Erd- beben ist fast nur Selbst- und Kamera- denhilfe möglich, da die lokalen Ein- satzkräfte selbst in Mitleidenschaft ge- zogen und zudem völlig überfordert sind. In einer zweiten Phase funktio- nieren die eigenen Hilfskräfte hinrei-

Erdbeben in Indien

Begraben unter Trümmern

Verschüttete finden, bergen und ihnen erste medizinische Hilfe leisten – sechs Tage verbrachte das „Search and Rescue-Team“ des Technischen Hilfswerks

im Zentrum des Bebens, in Bhuj.

(2)

chend, verstärkt durch Einsatzgruppen aus der Umgebung und später aus dem ganzen Land. In dieser Phase können die meisten oberflächlich Verschütteten gerettet werden. Es bleiben diejenigen, die schwer zu orten, schwer zu bergen und leider auch häufig schwer verletzt sind. Da kaum ein Land über ausrei- chend viele Spezialisten und Spezial- gerät verfügt, schlägt jetzt die Stunde der internationalen Hilfe. Vorausset- zung hierfür ist normalerweise, dass das geschädigte Land ein Hilfeersu- chen an die internationale Staaten- gemeinschaft richtet, die sich ihrer- seits an die Außenministerien der Mitgliedsländer wendet. Unter dem Dach der Vereinten Nationen hat sich eine ständige Arbeitsgemein- schaft (International Search and Res- cue Advisory Group) gebildet, die die erdbebengefährdeten Länder im Vorfeld berät, im Einsatzfall die Hil- fe koordiniert, die Qualitätskriterien für die nationalen SAR-Teams fest- legt und diese kontrolliert.

Ein SAR-Team sollte aus minde- stens drei Gruppen bestehen: erstens einer Ortungskomponente, die über Suchhunde und elektronische Or- tungsmöglichkeiten verfügt, darun- ter hoch empfindliche Mikrofone (Geophone), die einen Schall bis 1 000 000fach verstärken und Neben- geräusche herausfiltern können, so- wie Endoskop- und gegebenenfalls Wär- mebildkameras und Radarortungsgerä- te; zweitens einer Bergungskomponente, die über ein ganzes Arsenal von Ber- gungsgeräten verfügt, vom einfachen Aufbruchhammer über Schere, Spreitzer und Hebekissen bis zur Betonkettensä- ge; drittens einer medizinischen Kompo- nente, die die medizinische Versorgung der eigenen Helfer sicherstellt und zu- dem die geretteten Opfer erstversorgt.

Das einzige Team, das in Deutsch- land diese Kriterien erfüllt, ist die SEEBA (Schnelle Einsatz-Einheit Ber- gung Ausland) des Technischen Hilfs- werks (THW). Da das THW dem Bun- desinnenminister unterstellt ist, muss sich im Einsatzfall das Auswärtige Amt mit dem Innenministerium in Verbin- dung setzen. In den letzten Jahren funk- tionierte die Zusammenarbeit zwischen beiden Ministerien ausgezeichnet. Die SEEBA hat sich verpflichtet, innerhalb

von sechs Stunden nach Alarmierung einsatzbereit mit Gepäck am Frankfur- ter Flughafen zu sein. In Vollstärke um- fasst sie 70 Personen und bis zu 24 Ton- nen Gepäck. Bis auf den Einsatzleiter gehören dem Team fast ausschließlich ehrenamtliche Helfer an. Wegen der starken psychischen und physischen Be- lastungen bestehen relativ strenge Aus-

wahlkriterien. Abgesehen von Wasser und Betriebsstoffen, kann die Einheit 14 Tage lang autark arbeiten. Ihr Einsatz ist beendet, wenn nach menschlichem Ermessen nahezu ausgeschlossen wer- den kann, dass weitere Überlebende ge- funden werden. Man geht davon aus, dass die Überlebenschancen jenseits der 72 Stunden rapide abnehmen.

Start mit Hindernissen

Nach dem Erdbeben in Indien hatte der Bundesaußenminister schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt der indischen Re- gierung Hilfe angeboten und dieses An- gebot mehrmals wiederholt. Ein Hilfe- ersuchen hat die indische Regierung nicht gestellt. Dennoch wurden in Er- wartung eines Einsatzes 27 Mitglieder der SEEBA am Samstag, den 27. Januar, um 0.30 Uhr alarmiert. Um 9.25 Uhr des-

selben Tages nahm die indische Regie- rung das Hilfsangebot Deutschlands und einiger anderer Länder an. Die Option der SEEBA auf einen Lufthansaflug nach Indien war bis dahin allerdings ver- strichen. Deshalb charterte man eine Maschine des Typs Illjuschin, die in Am- sterdam stand und zunächst nach Frank- furt fliegen musste. Bemerkenswerter- weise kann das THW für solche Einsätze keine Bundeswehrmaschi- nen in Anspruch nehmen, weil diese zum einen viel zu lange Vorlaufzeiten haben und zum anderen zu teuer sind.

Wegen Schwierigkeiten mit der Versicherung verzögerte sich der Ab- flug bis 20.40 Uhr. An Bord befanden sich neben den 27 SEEBA-Helfern drei Fernsehjournalisten, ein Unimog und 6,5 Tonnen Gepäck. Nach einer Zwischenlandung in Turkmenistan verschob sich der Weiterflug aus un- bekannten Gründen um weitere vier Stunden. Nach der Landung in Ah- menabad weigerte sich die Besatzung auf Weisung ihrer Fluggesellschaft, angeblich aus Sicherheitsgründen, weiter nach Bhuj zu fliegen. Erst die Intervention des deutschen General- konsuls in Indien, der inzwischen zu uns gestoßen war, und die Drohung der Fernsehjournalisten, hierüber die Öffentlichkeit zu informieren, er- möglichten den Weiterflug.

Wegen der Verzögerungen kamen wir erst am 28. Januar um 14.40 Uhr an unserem Zielort an. Fehlende Trans- portmöglichkeiten führten dazu, dass ein Teil unseres Teams weitere sechs Stunden am Flughafen von Bhuj festsaß.

Erst gegen 21 Uhr konnten wir mit der Arbeit beginnen. Die Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden gestaltete sich zäh. Zunächst wurde uns mitgeteilt, in Bhuj (immerhin zu 90 Prozent zerstört) gebe es nichts für uns zu tun. Dann wur- den uns Gebiete zugewiesen, bei denen sofort ersichtlich war, dass hier niemand überlebt haben konnte. Die Bevölke- rung verhielt sich uns gegenüber gleich- gültig bis distanziert. Andere Teams, die wir zufällig trafen (eine erkennbare Ko- ordination gab es nicht), berichteten ähnliche Erlebnisse. Über die Gründe der Zurückhaltung vonseiten der Behör- den und der Bevölkerung kann man nur spekulieren: Hat es mit dem National- stolz zu tun? Ist es die religiöse Grund- T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 17½½27. April 2001 AA1111

Untersuchung eines Schwerverletzten

(3)

einstellung, eine Katastro- phe als Schicksal zu begrei- fen und ohne nennenswerte Gegenwehr zu akzeptie- ren? Haben die Menschen schon zu viel erlebt, die an- geblich helfen wollten und sie letztlich doch allein ge- lassen haben?

Eine Antwort haben wir nicht gefunden. Es war je- doch schwer für uns, mit der Situation zurechtzu- kommen.

Weitere Probleme tra- ten auf: Es gab weder Was- ser noch Strom, Betriebs- mittel waren rationiert. We- gen des fehlenden Trink- wassers bestand Seuchen- gefahr. Glücklicherweise entspannte sich diese Situa- tion für uns am dritten Tag.

Dennoch reichte das Was- ser nur zum Trinken und Kochen, nicht aber für ir- gendeine Form der Kör- perreinigung. Ein weiteres Problem, weniger für uns als vielmehr für die im Freien campierende oder in notdürftigen Bretterver- schlägen hausende Bevöl- kerung, war das Klima:

Tagsüber war es 30 °C heiß, nachts kühl- te es sich auf Werte knapp über dem Ge- frierpunkt ab. Für uns ungewohnt war die große Anzahl von frei herumlaufen- den Rindern und Wildschweinen, zu- sätzlich gab es viele verwaiste Hunde.

Am Montag, den 29. Januar, gegen 7.00 Uhr gab es erstmals einen Hinweis aus der Bevölkerung, dass in einem total zerstörten Gebäude am vorigen Abend noch Stimmen gehört worden seien. Die sofort eingeleitete biologi- sche Ortung zeigte keinen Erfolg, das Ergebnis der elektronischen Ortung überraschte und verwirrte uns: Wir hör- ten einen Mann singen. Auf unsere Klopfzeichen bekamen wir keine Ant- wort. Wir zweifelten an unserer Tech- nik. Erst ein Dolmetscher half uns wei- ter. Er identifizierte den Gesang als Ge- bet. Jetzt erinnerten sich Nachbarn, dass noch ein 52-jähriger nahezu tauber Mann in dem Gebäude lebte. Bis wir so viel Platz geschaffen hatten, dass Licht

zu ihm vordringen konnte, bemerkte er nichts von unseren Aktivitäten. Die Bergung gestaltete sich schwierig und war nicht ungefährlich, weil wir im Trümmerschatten eines Hauses arbei- ten mussten. Knapp 78 Stunden nach dem Beben konnten wir den Mann un- verletzt aus seinem Gefängnis befreien und ihn ins Militärhospital bringen.

Dort leisteten die Mitarbeiter fast Un- menschliches: In fünf Tagen wurden in fünf OP-Zelten etwa 10 000 Menschen operiert. Inzwischen bringt ein Zelthos- pital des Internationalen Roten Kreu- zes mit 250 Betten Entspannung.

Erfolgreicher Einsatz

Nach dieser ersten Rettung veränderte sich plötzlich die Haltung der Bevöl- kerung. Wir bekamen jede mögliche Unterstützung, auch die Zusammenar- beit mit den Behörden und dem Mi-

litär war jetzt fast freund- schaftlich.

Am Mittwoch, den 31.

Januar befreiten Nachbarn einen 62-jährigen Mann, der 121 Stunden verschüt- tet war, und brachten ihn zu uns. Wir diagnostizier- ten eine Rippenserienfrak- tur mit instabilem Thorax links und Rasselgeräu- schen, außerdem eine mas- sive Exsikkose. Nach der Erstversorgung wurde auch dieser Patient ins Militär- hospital verlegt.

Am Nachmittag des gleichen Tages rief uns das Militär, weil es beim Räu- men mit schwerem Gerät geglaubt hatte, eine Stim- me gehört zu haben.

Tatsächlich verifizierte un- sere Ortungsgruppe die Stimme, und die Bergungs- gruppe konnte 130 Stun- den nach dem Beben ein 15-jähriges Mädchen un- verletzt und lediglich ex- sikkiert aus den Trümmern retten.

Am Donnerstag, den 1.

Februar, als sich die Wahr- scheinlichkeit weiterer Le- bendrettungen gegen null bewegte, tra- ten wir den Heimweg an.

In Anbetracht der Gesamtsituation ist die Rettung dreier Menschen natür- lich sehr wenig. Andererseits haben drei Menschen überlebt, die sonst sehr wahrscheinlich gestorben wären. Inso- fern betrachtet die SEEBA diesen Ein- satz als Erfolg und als Ermutigung, die- se Arbeit fortzuführen.

Besonders beeindruckt hat uns der Wandel in der Haltung der Bevölke- rung und der Behörden uns gegenüber;

aus einem ablehnenden Beginn er- wuchs ein freundschaftliches Verhältnis und für uns das Gefühl, eine sinnvolle Arbeit getan zu haben.

In nächster Zeit stehen in der Ka- tastrophenregion die Trinkwasserver- sorgung (durch das THW), die medi- zinische Versorgung (durch das In- ternationale Rote Kreuz) und der Be- ginn des Wiederaufbaus im Vorder- grund. Dr. med. Erich Wranze-Bielefeld T H E M E N D E R Z E I T

A

A1112 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 17½½27. April 2001

In Hohlräumen ist ein Überleben möglich.

Fotos: Florian Weber

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE