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Jerzy Axer (Warszawa)

1 Tadeusz Zieliski unter Fremden

Die Überzeugung, man müsse Tadeusz Zieliski in Polen in guter Erinnerung behalten, habe ich als ein verpflichtendes Vermächtnis von meinen akademi- schen Lehrmeistern geerbt. Professor Kazimierz Kumaniecki2 war der erste, der während des politischen Tauwetters der Jahre 1956-1959 den Band der Zeit- schrift Meander herausgab, in dem er an diesen großen Wissenschaftler mit ei- ner eigenen, deutlich formulierten Huldigung für dessen Werk3 erinnert. Meine zweite Lehrerin, eine Schülerin von Zieliski aus seiner Warschauer Zeit, Lidia Winniczuk4, arbeitete auch an dem Band, zusammen mit einer anderen seiner Schülerinnen – Gabriela Pianko. Bis an ihr Lebensende nutzte auch sie jede Möglichkeit, den guten Ruf ihres Meisters zu verteidigen. In meiner Erinnerung lebte dank ihr seit Studienbeginn die nebulöse Vorstellung eines gutmütigen Meisters, der ehedem in diesen Mauern unterrichtet hatte. Später war ich mit Professor Marian Plezia5 befreundet, dem treusten Wächter der Erinnerung an Zieliski unter den polnischen klassischen Philologen, der unermüdlich an des- sen Biographie und der Herausgabe noch unveröffentlichter Werke arbeitete.

Seit sich also die Möglichkeit eröffnet hatte, bestimmte ich die Herausga- be von Quellen, die das Leben und Werk von Tadeusz Zieliski beleuchteten, als eine der Aufgaben des Forschungszentrums für antike Tradition in Polen und Ostmitteleuropa (OBTA), welches 1991 von mir an der Universität Warschau eingerichtet wurde. Nacheinander gaben wir seine Korrespondenz mit einem

1 Forschungszentrum für antike Tradition im IBI AL,Interdisziplinäre Studien „Artes Liberales“, Universität Warschau.

2 Kazimierz Kumaniecki (1905-1977), Professor an der Universität Warschau seit 1936, Vorsitzender des Polnischen Vereins für Philologie 1950-1977, der bedeutendste klassi- sche Philologe im Polen der Nachkriegszeit.

3 Meander XIV, Heft 8-9, Warschau 1959, S. 387-463.

4 Lidia Winniczuk (1904-1993), bedeutende Latinistin, eine der wichtigsten Personen in der Geschichte der klassischen Philologie in Warschau; neben wissenschaftlichen Arbeiten auch ein immenses populärwissenschaftliches Werk. Nach dem Vorbild ihrer Lehrer legte sie besonderen Wert auf die Entwicklung der studentischen wissenschaftlichen Bewegung.

5 Marian Plezia (1917-1996), bedeutender Latinist und Mediävist aus dem Krakauer Milieu; Autor des Lateinisch-Polnischen Wörterbuches und Schöpfer der Werkstatt für Mit- telalterliches Latein an der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Seine Arbeiten über den Nachlass von T. Zieliski sind in den Abhandlungen enthalten, die im Band zum 100- jährigen Bestehen des Polnischen Vereins für Philologie herausgegeben wurden: „Z modzieczych lat Tadeusza Zieliskiego“ (Aus den Jugendjahren von Tadeusz Zieliski) und

„Dzieci niedoli” – ostatnie dzieo Tadeusza Zieliskiego („Kind des Elends“ - das letzte Werk von Tadeusz Zieliski) (M. Plezia, Z dziejów filologii klasycznej w Polsce (Aus der Geschichte der klassischen Philologie in Polen), PTF: Warschau 1993, S. 168-235).

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seiner bedeutendsten polnischen Schüler, dem Erforscher des antiken Theaters, Stefan Srebrny6 heraus, dann seine Publizistik aus den Jahren 1917-1922 unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrung der Februar- und Oktoberrevoluti- on7, schließlich die von Hanna Geremek entdeckten und bearbeiteten autobio- graphischen Texte von Zieliski: die eigene geistige Biographie (Mein Lebens- lauf, geschrieben 1924) und das Tagebuch (Dziennik) aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, das er auf Polnisch vom November 1939 bis zu seinem Tod im Ap- ril 1944 in Schondorf geführt hatte.8 OBTA war auch mitbeteiligt an der Errich- tung des Denkmals zu Ehren von Tadeusz Zieliski in Schondorf im Jahr 1997.

Gegenwärtig erscheint die russische Version der Autobiographie zusammen mit der Studie von Hanna Geremek zum Tagebuch.

In Polen wird gerne über Tadeusz Zieliski als „den größten polnischen klassischen Philologen” geschrieben. Diese Formulierung ist sowohl wahr als auch vom Grunde aus falsch. Wahr, da er als Pole geboren wurde und noch im Sterben sein Polentum deklarierte. Falsch, da sein ganzes großes Werk in eine Periode fällt, als das Polentum in ihm verdrängt war, bis auf Kindheitserinne- rungen und das Bewusstsein, dass die polnische Abstammung eine stetige Be- drohung für die Karriere in einem russischen Milieu sei. Das ganze Leben hin- durch waren sein Herz und seine Seele – in Bezug auf ihn ist eine solche Formu- lierung angemessen – erfüllt von der Liebe zur deutschen Kultur. Diese Liebe stand in keinem Widerspruch zu dem festen Entschluss, im russischen Milieu, zum Wohle der russischen Kultur, die Lehrermission zu erfüllen – und wieder ist in Bezug auf ihn das Wort „Mission” in höchstem Maße angebracht.

Diese Situation macht uns bewusst, wie unzutreffend und oberflächlich es ist, sich beim Denken und Schreiben über Zieliski darauf zu konzentrieren, welche von seinen Nationalidentitäten die „wahre” sei, oder darüber zu sinnie- ren, welche von ihnen er wann „verraten“ habe und aus welchen Beweggründen.

Zieliski selbst beschrieb das Verhältnis zwischen den russischen, deut- schen und polnischen Komponenten seiner Persönlichkeit je nach den Umstän- den in unterschiedlicher Weise. Er griff gerne auf Metaphern zurück. Solche Deklarationen sollte man im Kontext der Ziele erörtern, die er sich bei bestimm-

6 Tadeusz Zieliski, Listy do Stefana Srebrnego (Briefe an Stefan Srebrny), bearb. von G.

Golik-Szarawarska, Serie “Ludzie i Teksty (Menschen und Texte)”, Band 1, u.d.Red. von J.

Axer, OBTA: Warszawa 1997.

7 Tadeusz Zieliski, Kultura i rewolucja. Publicystyka z lat 1917-1922 (Kultur und Revoluti- on. Publizistik aus den Jahren 1917-1922), bearb. Von H. Geremek, Serie „Ludzie i Teksty (Menschen und Texte)”, Band 2, u.d.Red. von J. Axer, DiG: Warschau 1999.

8 Tadeusz Zieliski, Autobiografia. Dziennik 1939-1944 (Autobiographie. Tagebuch 1939- 1944), zum Druck gegeben: H. Geremek und P. Mitzner, OBTA UW (Serie: „Ludzie i Teksty (Menschen und Texte)”, Band 3, u.d.Red. von J. Axer) und DiG (Serie: „Pamitniki z XVII- XX w. (Tagebücher aus dem 17. bis 20. Jahrhundert”): Warszawa 2005.

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ten Aussagen setzte. In einer von ihnen stellte er fest, sein Körper sei polnisch, sein Geist deutsch, die Seele aber russisch. Auch der Artikel, den er 1918 über die Begriffe Nationalismus, Internationalismus und Supranationalismus9 veröf- fentlicht hat, sollte nicht als ideologische Deklaration gesehen werden, sondern als politische Publizistik, geschrieben unter sehr schwierigen Umständen. Des- wegen werde ich, wenn ich an das Verhältnis Zieliskis zur nationalen Identität denke, mich nicht auf den Begriff des Supranationalismus beziehen, der ihm bei der Polemik mit der bolschewistischen Propaganda diente, sondern auf die Idee der Wiedergeburt der Antike, die aus seiner wissenschaftlichen und Lehrertätig- keit organisch hervorgeht.

Meine Lehrer wurden durch historische Umstände gezwungen, das Ge- denken an Zieliski zu verteidigen, dessen Entschluss, nach der Naziaggression auf Polen 1939 nach Deutschland auszureisen, während des kommunistischen Regimes als spezifischer Verrat galt. Auf eine weniger offene Art, in der einige Zieliski gegenüber feindselige Stimmen aus der Zwischenkriegszeit fortwirk- ten, wurde er eines unheilbaren Philorussizismus beschuldigt. Die Verteidigung musste darauf beruhen und beruhte auch darauf, Beweise für sein Polentum zu suchen und sich auf seine Erklärungen nationaler Loyalität und Identität zu be- rufen. Heute ist dies nicht mehr notwendig.

***

Mir drängt sich, wenn ich mich an die russischen Leser der Autobiographie wende, eine andere Überlegung auf. Ich möchte ihnen die Veränderung erläu- tern, die das Kennenlernen der Autobiographie und des Tagebuchs in meiner Vorstellung von Zieliski hervorgerufen hat. Der erste Text ist eine bewusste, sorgsam durchdachte Apologie des eigenen Lebensweges, dem die Wahl der eigenen Kinder als Empfänger Intimität verleiht. Der Vater macht sie auf diese Weise zu Wächtern der kanonischen Version des eigenen Lebenslaufes. Wir kannten diese Formulierungen und Deklarationen früher bruchstückweise aus Erinnerungen der Familie und Zieliskis Aussagen während der „polnischen Pe- riode” in seinem Leben. Hier bilden sie ein Ganzes – eine sorgfältig ausgewoge- ne Geschichte de se ipso für die Allernächsten und die Nachkommenschaft, der Tochter Weronika auf Deutsch diktiert. Im Tagebuch hingegen wurden die Auf- zeichnungen bis in die letzten Lebenswochen auf Polnisch geführt, adressiert an keinen anderen, nur an sich selbst.

Ich würde es heute für unrichtig halten, sich auf Versuche zu konzentrie- ren, die nationale Zugehörigkeit des Autors dieser Texte zu bestimmen. Was mich zutiefst bewegt und was ich für erinnerungswürdig halte, ist gerade diese

9 Nasz Wiek <Unser Jahrhundert> vom 7. August.

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nationale Entfremdung als fester Bestandteil geistiger Zerrissenheit und der Su- che dieses Mannes, der die große Kraft eines analytischen Geistes mit großem künstlerischen Talent und maßloser Emotionalität in sich verband.

Meines Erachtens kann manZieliskis Werk nur schwer verstehen , ohne seine ständige Angst vor der Einsamkeit zu berücksichtigen und das Gefühl, er befinde sich ständig unter Fremden und alle Verbindungen und Beziehungen, die er anzuknüpfen vermochte, seien immerzu gefährdet. Zieliski lebt bestän- dig in der Angst, was er für stark halte, sei in Wirklichkeit schwach; immer wie- der findet er heraus, dass, was er für Garantien der Akzeptanz und emotionalen Gegenseitigkeit gehalten hatte, anderen nur für einstweilig, vorübergehend galt.

Nach der Lektüre der Autobiographie und des Tagebuchs bin ich mehr denn je davon überzeugt – obwohl ich es schon seit langem vermutet hatte – dass hierin das Außergewöhnliche der Beziehung dieses Gelehrten zur Welt der antiken Kultur liegt, die er zum Gegenstand seiner wissenschaftlichen For- schung und popularisierenden Mission gemacht hat. Diese spezifische Enter- bung aus der Zugehörigkeit zu jedweder ethnischen und nationalen Kultur kom- pensierte Zieliski mit dem Entschluss, ein Bewohner der antiken Welt zu wer- den, und in ihrem Gebiet – ein Bürger von Athen. In dieser Lage musste er, um ein Vaterland zu haben, in seinem eigenen Interesse diese antike Kultur auf jede erdenkliche Weise nähren und am Leben erhalten.

In Bezug auf Zieliski stimmt solch eine psychologische Perspektive der Beurteilung seines Werkes völlig überein mit seiner eigenen Methode der wis- senschaftlichen Arbeit und der Art, wie er die Rolle des Gelehrten und Künstlers verstand. Er interessierte sich nur für das, was er lieben und bewundern konnte.

Ohne zu zögern, nahm er die Gefühlssphäre mit hinein in den Forschungspro- zess. Er bejahte seine Fähigkeit zur emotionalen und intuitiven Durchdringung der Vergangenheit und hielt sie für die Hauptquelle seiner eigenen Größe. Indem er sich bewusst der eigenen Emotionalität bediente, um intuitiv die Wahrheit zu erkennen (Zieliski sprach geradezu vom „Hellsehen”), würdigte er das Schöp- fen aus den eigenen Kindheitserfahrungen als eine spezifische Vorbedingung seiner wissenschaftlichen Arbeit.

Ich werde jetzt versuchen, einige Aspekte der nationalen Entfremdung Zieliskis zu erörtern, gesehen als Bestandteil seiner schöpferischen Originalität und zugleich der Empfindung der subjektiven Tragik seines Schicksals.

***

Wenn jemand nicht von dem Gedanken überzeugt ist, dass Zieliski, vergöttert durch Zuhörermassen, umringt von enthusiastischen Frauen und bewundert von Künstlern, ein Mann, dem zu Lebzeiten viel Ehrerbietung entgegengebracht

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wurde und dem auch nach seinem Tod die treue Liebe vieler Schüler galt, ein- sam und entfremdet war, der möge doch die Fakten erwägen, die einen Bestand- teil im Drehbuch des Lebens eines sensiblen Menschen bilden, der ständig ande- re brauchte („für mich ist die Einsamkeit Gift”, schrieb er am Ende seines Le- bens10).

Er wurde in einer polnischen Adelsfamilie im Umland von Kiew geboren.

Die Landschaft seiner Kindheit war das ukrainische Dorf, die Sprache zu Hause Polnisch und Französisch. Der Hausunterricht umfasste auch die polnische Lite- ratur, mit einem besonderen, ja sogar kultischen Verhältnis zu Adam Mickiewiczund unter völligem Ausschluss der russischen Literatur. Russisch wurde (obwohl die Stiefmutter Russin war) nur mit den Bediensteten gespro- chen, erinnerte sich Zieliski. Das Gefühl, Waise zu sein, keimte schon sehr früh in ihm auf, nach dem Tod seiner Mutter. In der Erinnerung an die Kindheit herrscht eine intensive Angst vor der Einsamkeit. In der Autobiographie wird er diese Jahre die „polnische Periode” in seinem Leben nennen. Sie schließt mit dem Tod seines Vaters 1873.

Aus Angst vor Verfolgungen seitens russischer Kommilitonen (der Janu- araufstand 1863-64 lag noch nicht lange zurück) ging der Junge 1869 in eine durch die evangelische Gemeinde in Petersburg geführte Schule, mit Deutsch als Unterrichtssprache. Er sprach fast kein Deutsch, als er in die Schule kam, und Russisch nicht ganz ohne Mühe. Sehr schnell spürte er aber die Freundlichkeit der deutschen Kommilitonen und Fremdheit seitens der russischen.

Die Schule und das spätere Studium an deutschen Universitäten bewirk- ten, dass er mit Enthusiasmus in die deutsche Sprache und Kultur hineinwuchs.

Unter Deutschen fand er seine Meister und Jugendautoritäten, seine Freunde und seine Frau. In Deutschland fand er auch neue Landschaften „zum Lieben“. Die- ses Verhältnis zur Natur war eine wichtige Eigenschaft seiner Emotionalität. Mit der Zeit erlangte er in der deutschen Sprache, auch seiner eigenen Überzeugung nach, eine Perfektion, die „aus Liebe” floss, wie er meinte. Die deutsche Kultur wurde ihm in dieser Zeit zweifellos zur neugeschenkten Heimat.

Zieliski erklärt in der Autobiographie, seit 1895 habe eine neue Phase in seinem Leben begonnen – die russische. Ihre Entwicklung war verbunden mit dem Erfolg als Dozent an der Universität Petersburg. Vorher war er dem aka- demischen Milieu so entfremdet gewesen, dass er nur dessen Feindseligkeit be- merkte oder die eigene Ahnungslosigkeit in Hinsicht auf das Streben des besten Teils dieses Milieus (etwa den Kampf gegen die Abschaffung der Autonomie der Hochschulen im Jahr 1885). Für die nächsten zwei Jahrzehnte sollte er nun

10 Brief an einen der Schüler aus dem Jahr 1943/1944 (Witold Klinger) in: M. Plezia,

1993, S. 235.

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zu einer großen Persönlichkeit dieser Universität heranwachsen und mehr noch – zu einer Gestalt des öffentlichen Lebens in St. Petersburg.

In dieser Periode entstanden Zieliskis wichtigste wissenschaftliche Wer- ke. Der Durchbruch kam, seines Erachtens, mit dem Beginn der Arbeiten an Ci- cero. Ein Gelegenheitsvortrag zum zweitausendsten Geburtstag des Arpinaten brachte Erfolg, auch – wie man heute sagen würde – medialer Natur, und durch- brach das Misstrauen des russischen liberalen Milieus hinsichtlich des klassi- schen Erbes. Aus diesem Ansatz entstand das außerordentlich wichtige Buch Cicero im Wandel der Jahrhunderte (Teubner, Leipzig 1897), welches ihm in- ternationalen Ruhm brachte. Diese in weiteren Ausgaben ausgebaute Studie wurde zu einer eigenen Geschichte der europäischen Kultur, gesehen durch das Erbe Ciceros. Ich glaube, dieses Werk erwächst aus Zieliskis besonderer Zu- gehörigkeit zu mehreren Kulturen; dies ließ ihn den Anticiceronianismus von Mommsen kritisch betrachten und an das freiheitliche Potential der Ciceroni- schen Tradition anknüpfen. Ich sehe hier auch die Spur der Lehre seines Vaters, aus der Zieliski behalten hatte, dass Latein und eine Lesart des römischen Republikanertums zur altpolnischen Adelstradition gehörten. Welche Rolle auch immer dieser Mythos gespielt haben mag, es besteht kein Zweifel daran, dass Zieliski durch seine Studien über Cicero die sog. polnische

Cicero-Schule schuf, die in unserem Bewusstsein durch drei Namen bezeichnet wird: Zieliski – Morawski – Kumaniecki11.

Zieliskis Triumphe als akademischer Lehrer verbanden sich in jener Epoche mit der Rolle eines besonderen intellektuellen Gurus, mit dem Gefühl der Chance, eine slawische Wiedergeburt der Antike ins Leben zu rufen. Es ist hier nicht der Ort, um diese Strömung zu beschreiben, aber zweifelsohne fand sie bei russischen Dichtern und Dramatikern großen Anklang, der ihm das Emp- finden vermitteln konnte, Anführer einer Bewegung zur geistigen und religiösen Wiedergeburt zu sein, eines besonderen heidnisch-christlichen Synkretismus – nietzscheanisch dem Geiste nach, aber Nietzsche so umwandelnd, dass das „Di- onysische” auch zum Christlichen wurde. Dies ist die Atmosphäre, in der die

11 Kazimierz Morawski, Zeitgenosse von Zieliski (1852-1925), Professor und Rektor der Jagieonen-Universität, gab die Historia literatury rzymskiej (Geschichte der Römischen Li- teratur) in sieben Bänden heraus (Krakau 1909-1921), deren zweiter Band gänzlich der Per- son und dem Werk von Cicero gewidmet war. Kazimierz Kumaniecki (vgl. Fußnote 12) gab 1959 eine Monographie über Cicero und seine Zeitgenossen heraus, die dann ins Italienische übersetzt wurde. In dieser Monographie verteidigte er Cicero gegen die Kritik an seiner politi- schen und intellektuellen Einstellung – vor allem seitens italienischer und französischer Wis- senschaftler. Das Bild der polnischen Schule der Cicero-Forschung, die eine eigene republi- kanische Tradition repräsentiert, hat M. Plezia dargestellt (vgl. „Luminarze polskich studiów nad Cyceronem“ (Die Leuchten der polnischen Studien über Cicero), Ciceroniana VII, 1990, S. 33-43).

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deutschen, russischen und antiken Komponenten in Zieliskis Seele anscheinend eine Chance auf harmonische Verbindung hatten.

Seine Aktivitäten unter den russischen Literaten und Dichtern erscheinen mir grundlegend für die letztendliche Ausformung von Zieliskis Überzeugung, er sei dazu berufen, eine neue Ära mitzugestalten, nicht nur in der Lehre über die Antike, sondern in erster Linie im modernen Leben; er sei mitverantwortlich für das Synthetisieren dessen, was in der griechischen, römischen und „wahrhaft slawischen” Kultur das Beste ist, mit der russischen Nationalkultur und für ihren Aufstieg auf den führenden Platz in Europa. In diesem Sinne gab er auch den Zyklus seiner eigenen Sophokles-Übersetzungen heraus, die für einen großen Rezipientenkreis Träger einer großen Idee sein sollten. Er war auch der Patron der Entwicklung der russischen neoklassizistischen Tragödie. Aus dem Geist des griechischen Theaters sollte das russische Nationaltheater geboren werden12.

Er kam dann zu der Überzeugung, die slawische Welt sei immer ein be- sonders guter Rezipient dionysischer Emotionen gewesen und auf diesem Grund sei die Wiedergeburt der klassischen Kultur im Einklang mit dem Christentum möglich. Auf jeden Fall sollte die „slawische Renaissance” ein Gegengift gegen die neue „barbarische Ära” werden, deren Herannahen er spürte.

Dieser Vision blieb Zieliski treu bis ans Ende seines Lebens. Ihre Nie- derlage in der realen Welt zeigte sich aber noch, bevor er Russland 1921 endgül- tig verließ. Mindestens seit 1914 sah man, dass die Veränderungen in eine ganz andere Richtung gehen würden als diejenige, von der die poetae docti in ihrem Streben nach Massenwirkung träumten. Nach der Revolution erinnerte sich ein enthusiastischer Student von Zieliski, Lev Pumpjanskij, dass die „slawische Wiedergeburt” schon bald eher als Beschreibung der Vergangenheit denn als Beschreibung der Zukunft werde gelten müssen: als Testament, verfasst in dem Augenblick, da sich der tragische Epilog des im Sterben liegenden großen kultu- rellen Experimentes auf der russischen Erde vollzog: der Symbiose der antiken Kultur mit der russischen, eines Prozesses, der schon seit der Zeit Peters des Großen andauerte, wobei die deutsche Kultur als Katalysator wirkte.

Diese kulturelle Veränderung traf zusammen mit dem für Zieliski trau- matischen Erlebnis eines plötzlichen Hasses zwischen dem, was deutsch, und dem, was russisch war, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges einher- gingen. In einer solchen Atmosphäre wurde Zieliski, der sich auf dem Gipfel der Popularität und des Erfolges befand, gleichzeitig aus dem akademischen Mi- lieu gedrängt. Er hatte das Gefühl, als würde er von den Russen wieder als Fremder gesehen. Im Rückblick begann er alle akademischen Freundschaften

12 Zara Martirosova Torlone, Russia and the Classics. Poetry’s Foreign Muse, Duck- worth: London 2009, s. dort im Index unter Zieliski..

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der vergangenen zwanzig Jahre als konjunkturell und falsch anzuzweifeln; er vertraute nun nur noch seinen Schülern.

Gleichzeitig keimte in ihm die Überzeugung, auch die Deutschen hätten ihn verworfen. Mit Entsetzen stellte er fest, dass sein einziger Vortrag, in dem er versuchte, die Kritik am Geist des deutschen Militarismus mit dem Lob der Größe der deutschen Kultur und ihres wohltuenden Einflusses auf die russische Kultur zu verbinden, ihn in den Augen mancher Deutschen zu einem Verbann- ten aus dem Deutschtum machte.

Er wurde 1914 frühzeitig pensioniert, zuvor versuchte man ihn moralisch zu kompromittieren. Ringsum zerstörte die Oktoberrevolution die Welt, die er kannte. Davon überzeugt, ihm drohe das Schicksal des russischen Emigranten, der in der Verbannung umherirren müsse, rief er die Erinnerung an das Vater- land aus seiner Kindheit auf, mit dem er seit Jahrzehnten keinen Kontakt ge- sucht hatte – wie er selbst zugab. Der Zufluss von Polen nach St. Petersburg seit 1916 (nach der deutschen Einnahme der polnischen Gebiete) erleichterte dieses Näherkommen. Es war dieses Milieu, das sich an Zieliski mit der Bitte um Zu- sammenarbeit wandte. Er begann in stockendem Polnisch zu den Polen zu spre- chen – „das alte Vaterland rief mit all der Kraft seiner Liebe nach dem verlore- nen Sohn”, so schreibt Zieliski in der Autobiographie.

So kam er 1919 nach Warschau, enthusiastisch begrüßt, um die Professur an der Warschauer Universität zu übernehmen. Es war jedoch, da er russischer Staatsangehöriger war, aus russischer Sicht nur eine einjährige Delegierung. Al- so kehrte er 1920 ins bolschewistische Russland, nach St. Petersburg, an die Universität, die Bibliothek und zur Tochter zurück. Er verließ Warschau – woran viele Anstoß nahmen – in dem Augenblick, als sich Tuchaczewskis Ar- mee der polnischen Hauptstadt näherte. Noch zwei Jahre lang verabschiedete er sich vom einstigen Leben und Milieu. Seinen letzten Vortrag in St. Petersburg, über die Bakchen, behielt man in Erinnerung als Abschied vom Traum über die griechische Wiedergeburt Russlands. Nach dem Friedensschluss in Riga ließ er sich endgültig in Warschau nieder.

In Polen war Zieliski seit 1922 Professor an der Józef-Pisudski- Universität in Warschau und Gegenstand eines besonderen Kultes. Er wurde mit der Formel: Habemus papam begrüßt, – daraus sprach die ungeheure Größe der Hoffnung, die sich an die Ankunft eines solchen Gelehrten in das wiedergebore- ne Land knüpfte. Diese Erwartungen wurden insoweit erfüllt, als Zieliski der polnischen Altertumswissenschaft in den 1920er und 1930er Jahren großen Ruhm brachte, da sein akademisches Wirken weltweit Anerkennung fand. Er war sich jedoch bewusst, dass er in einem ganz anderen Milieu agierte als in Russland.

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