• Keine Ergebnisse gefunden

The vulnerable child - development of criteria for the defintion of the endangerment of childrens welfare by development models

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2021

Aktie "The vulnerable child - development of criteria for the defintion of the endangerment of childrens welfare by development models"

Copied!
44
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Abgabe am: Thomas Kraatz URN: urn:nbn:de:gbv:519-thesis2014-0384-9

Das verletzliche Kind

Erarbeitung von Kriterien zur Einschätzung einer KWG mithilfe

entwicklungspsychologischer Modelle

Bachelorarbeit im Bereich soziale Arbeit (B.A.) Fachhochschule Neubrandenburg

Betreuung durch: Prof. W. Freigang

(2)

Inhaltsverzeichnis

1. Abkürzungsverzeichnis ………...…....……...……... 1

2. Einleitung 2.1. Hinführung zum Thema ………...…….……….….……... 2

2.2. Gliederung ……….……….…....…... 3

3. Grundlagen: KWG, Entwicklung, Bindung und Erziehung ..……... 4

4. Der Begriff der Kindeswohlgefährdung 4.1. Juristische Definitionen ….…….……….……….………... 9

4.2. KWG - Leitfäden in der sozialpädagogischen Praxis ..….…... 12

4.2.1. Der Berliner Orientierungskatalog ….………….………...…... 14

4.2.2. Der Stuttgarter Kinderschutzbogen ..…….….…………... 15

4.2.3. Diagnose- und Beobachtungsbögen der Stadt Recklinghausen .... 16

4.2.4. Weitere Leitfäden ………..………..……….…... 17

5. Entwicklungspsychologie …..………….…….………... 19

5.1. Entwicklungsphasen bei Erikson ….……...……….….…………... 19

5.1.1. Ur-Vertrauen gegen Ur-Misstrauen …..……….…………... 20

5.1.2. Autonomie gegen Scham und Zweifel …….….…….………... 24

5.1.3. Initiative gegen Schuldgefühl ……….……….……..…... 26

5.1.4. Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl …....….………... 28

5.1.5. Identität gegen Identitätsdiffusion …………..….….…...…... 30

5.2. Das Phasenmodell Piagets ……....…………...………... 32

5.3. Weitere Modelle ………….……….…..…....……...….... 35

6. Zusammenfassung …………...……....…….…………....………... 37

(3)

1

1. Abkürzungsverzeichnis

Aus Gründen der Übersichtlichkeit und zum Vermeiden überlanger Sätze werden in dieser Arbeit folgende Abkürzungen verwendet:

ASD - allgemeiner sozialer Dienst

BGB - bürgerliches Gesetzbuch

FST - Fremde-Situations-Test

GG - Grundgesetz JA - Jugendamt

KiSchZ - Kinderschutz-Zentrum Berlin

KWG - Kindeswohlgefährdung

LJ - Lebensjahr

SGB - Sozialgesetzbuch

SGB VIII - Kinder- und Jugendhilferecht

SPFH - sozialpädagogische Familienhilfe

(4)

2

2. Einleitung

2.1. Hinführung zum Thema

Der Begriff Kindeswohl ist ein unbestimmter Rechtsbegriff (vgl. Schone; 2012; S. 18). Dem zufolge ist auch der Begriff der KWG rechtlich nicht eindeutig definiert.

Diese beiden Aussagen stellen die Grundlage und die Motivation dieser Arbeit dar. Grundsätzlich ist zu sagen, dass offen gehaltene rechtliche Formulierungen nicht negativ zu sehen sind, da die Konflikte des Menschen nicht nach Schema F, sondern nach den individuellen Umständen behandelt werden sollten. In der Praxis der SPFH oder anderer Bereiche, die KWG behandeln, bedeutet dies jedoch oftmals, dass es den Fachkräften schwer fällt zu entscheiden, ob eine KWG vorliegt (vgl. Alle; 2012; S. 89). Vage gehaltene rechtliche Grundlagen stellen dafür nur eine Ursache dar. Auch mangelt es nach Kindler in der BRD an konkreten Erörterungen zur Abklärung in Gefährdungsfällen und auch an empirischen Forschungen bzgl. verschiedener Herangehensweisen im Kontext von KWG (vgl. Kindler; 2006; S. 60_3). Natürlich sollten solche Erörterungen keinesfalls die einzige Grundlage der Fachkraft bei der Einschätzung einer KWG sein. Dennoch könnten Richtlinien bzw. Leitfäden die Arbeit erleichtern. In Angesicht der Schwere der Entscheidung in Hinblick auf ihre Auswirkung, ist die Erarbeitung solcher Leitfäden daher wünschenswert. Wie Leitfäden gestaltet sind, wird hier betrachtet.

Diese Arbeit wird sich mit Kriterien, die zur Bestimmung einer KWG herangezogen werden können, auseinander setzen. Die drei Formen der KWG, körperliche und/ oder seelische Misshandlung und/ oder Vernachlässigung und sexueller Missbrauch, werden dabei nicht näher erläutert (vgl. TK; 2013; S. 79). Vielmehr soll betrachtet werden, welche Umstände eine KWG ausmachen, um diese besser erkennen zu können.

Während eines 6-monatigen Praktikums in der SPFH konnte der Autor den Unmut der Fachkräfte über das Fehlen vor allem psychologisch fundierter Anhaltspunkte feststellen. Daraus resultiert die Grundthese dieser Arbeit, dass es einen Bedarf an Kriterien zur Bestimmung von KWG gibt. Daher besteht das Hauptziel dieser Arbeit darin, vor allem in Hinblick auf entwicklungspsychologische Aspekte des Kindes zusätzliche Kriterien zur Bestimmung einer KWG zu erarbeiten. Hierbei geht es nicht ausschließlich, sondern schwerpunktmäßig um Faktoren, die die Psyche beeinflussen.

(5)

3

2.2. Gliederung

Am Anfang dieser Arbeit werden im dritten Kapitel grundlegende Begriffe vorgestellt. Sie stellen gewissermaßen das Grundwissen der Arbeit dar. Ebenso kann dadurch der Umfang der zu betrachtenden Thematik erahnt werden. Der zentrale Gedanke ist dabei, dass es kein Patentrezept für die Erziehung gibt (vgl. Kasten; 2009; S. 26). Es gibt nur viele Faktoren die zum Verständnis beitragen, was unter einer guten Erziehung verstanden werden kann. Einige der Faktoren stellt Kapitel 3 vor.

Das vierte Kapitel führt danach in den status quo zu den Regelungen bzgl. der KWG ein. So soll die Notwendigkeit der Erarbeitung von Kriterien zur Bestimmung einer KWG erwiesen werden. Der Punkt 4.1. widmet sich dabei der Gesetzeslage. Vom GG über das BGB bis zum SGB VIII werden die wichtigsten §§ benannt. Dabei soll die Frage geklärt werden, inwieweit diese Gesetze bereits zum Verständnis beitragen, was unter KWG zu verstehen ist und wie diese zu bestimmen ist. Weiterhin soll gezeigt werden, welchen Rahmen die Gesetze für die Arbeit auf dem Gebiet der KWG setzen. Im Punkt 4.2. werden dieselben Fragen auf die Arbeitspraxis der SPFH übertragen. Dabei soll im vorherigen Punkt von Kindler vorgestellte Annahme überprüft werden, ob es in der Praxis an konkreten Erörterungen mangelt.

Nachdem so ein Überblick über vorhandene Erklärungen, Vorschriften und Arbeitsgrundlagen gegeben wurde, führt das fünfte Kapitel in das Feld der Entwicklungspsychologie ein. Hier ist es vor allem das Modell Eriksons, auf dessen Grundlage Angaben zum Kindeswohl gemacht werden sollen. Insbesondere die ersten Jahre werden dabei näher betrachtet, weil die frühkindlichen Gehirne in hohem Maße vulnerabel sind, weshalb die neuronalen Auswirkungen von Misshandlung u. ä. umso gravierender sind, je jünger das Kind ist (vgl. Alle; 2012; S. 28). In den fünf Unterpunkten 5.1.1. bis 5.1.5. werden die relevanten Entwicklungsphasen vorgestellt und die Ergebnisse zusammengefasst. Dies geschieht mit besonderem Hinblick auf Faktoren, die für die jeweilige Entwicklungsphase von grundlegender Bedeutung sind. Diese Faktoren sollen im Nachhinein als Kriterien der KWG dienen.

Die Punkte 5.2. und 5.3. sind als Ergänzung zur Theorie Eriksons anzusehen. Hier wird ein kurzer Überblick zu anderen Konzepten gegeben, der keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Vielmehr soll das allgemeine Verständnis zur Entwicklungs-psychologie als solche erweitert werden und weitere nützliche Ansätze zur Bestimmung von KWG herausgearbeitet werden.

(6)

4

Das sechste Kapitel fasst schlussendlich die Ergebnisse der Arbeit zusammen, wobei jedes Kapitel kurz reflektiert wird. Ebenso werden die erarbeiteten Kriterien/ Faktoren systematisch präsentiert.

3. Grundlagen: KWG, Entwicklung, Bindung und Erziehung

Wenn es darum geht, sich mit dem Kindeswohl und der Arbeit zur Vermeidung von KWG zu beschäftigen, ist vielseitiges Hintergrundwissen unabdingbar. Dieses Wissen umfasst juristische, biologische, soziologische und psychologische Aspekte. Auf der Grundlage dieses Wissens, ist die Fachkraft des ASD zur multiperspektivischen, fachlichen Reflexion befähigt (vgl. Lillig; 2006; S. 43_2). Da sich die Arbeit des ASD in jenem vielseitigen Bereich befindet und weil diese Arbeit auf vielseitige Begriffe zurückgreift, ist es notwendig, einleitend einige Grundkonzepte und –begriffe näher vorzustellen.

Zuvorderst steht der Begriff der KWG selbst. Obwohl das nächste Kapitel deutlich macht, dass dieser Begriff zumindest rechtlich vage ist, können in der Literatur der Sozialpädagogik hilfreiche Definitionen gefunden werden. Für diese Arbeit soll die Formulierung aus dem Leitfaden der TK grundlegend sein. Danach ist die KWG eine „nicht zufällige (un-) bewusste, gewaltsame, physische oder psychische Schädigung, die in Familien oder Institutionen geschieht und die zu Verletzungen, Entwick-lungshemnissen oder sogar zum Tod führt und die das Wohl und die Rechte eines Kindes beeinträchtigt oder bedroht“ (nach TK; 2013; S. 6). Der Umfang der Definition verdeutlicht das Ausmaß der zu betrachtenden Faktoren. In dieser Arbeit liegt der Schwerpunkt bei den psychischen Faktoren, die zu Entwicklungshemnissen führen. Da sich aber vor allem das nächste Kapitel sehr speziell mit der KWG bzw. dem Kindeswohl auseinander setzt, werden hier zunächst weitere zentrale Begriffe geklärt.

Entwicklung wird nach Bischof-Köhler ganz allgemein als eine über einen Zeitraum erfolgende Veränderung, in der Strukturen und Prozesse ausgebildet werden, definiert (vgl. Bischof-Köhler; 2011; S. 21). Diese neutrale Formulierung berücksichtigt die Tatsache, dass Entwicklung nicht notwendigerweise linear erfolgt oder nur als Zugewinn an Wissen und Fähigkeiten zu verstehen ist. Für die Praxis bedeutet das, die Situation des Individuums zu berücksichtigen und nicht tabellarische Vorhersagen. Gründe der unterschiedlichen Entwicklung sind sowohl auf äußere, wie auf innere

(7)

5

Faktoren zurück zu führen. Bensen und Haug-Schnabel bezeichnen die Resultate dieser Faktoren, die auch zu mehr Toleranz in Entwicklungsprognosen führen sollten, als inter- und intraindividuelle Variabilität (vgl. Bensen/ Haug-Schnabel; 2011; S. 5).

Nun könnte die Frage aufkommen, wozu Entwicklungskonzepte nützlich sind, wenn ohnehin alles unterschiedlich ist. Die Antwort besteht in der Tatsache, dass diese Konzepte bzw. Theorien einen Rahmen für Beobachtungen darstellen, auf deren Grundlage die Fachkraft tätig wird (vgl. Berk; 1998; S. 5). Der Blick wird demnach geschärft. Um bspw. einer problemzentrierten Sicht vorzubeugen, ist es notwendig, unterschiedliche Ansätze zu kennen. Theorien sind die wissenschaftliche Basis, deren Kenntnis aus Laien Fachkräfte macht. Aufgrund des Wissens und der Erfahrung kann die Fachkraft richtige Entscheidungen treffen. Herausgearbeitete Muster stellen dabei Erklärungsansätze aber keinesfalls allgemeingültige Wahrheiten dar. Es ist hervorzuheben, dass die hier vorrangig betrachtete Entwicklungspsychologie in erster Linie nicht lösungsorientiert ist. Sie befasst sich vielmehr mit dem Beobachten, Beschreiben und Erklären der menschlichen Entwicklung (vgl. Kasten; 2009; S. 10). Sie ist demnach deskriptiv. Erst auf der Grundlage dieser Beschreibung können Ansätze zum Umgang und der Arbeit mit den entsprechenden Klienten erstellt werden. Somit stellt die Entwicklungspsychologie eine umfassende Grundlage dar, anhand der die Fachkraft bestimmen kann, was zu einer KWG führen kann bzw. ob eine KWG vorliegt. Die Betonung liegt auf dem Konjunktiv. Dieselben Umstände haben auf andere Kinder andere Ein- und Auswirkungen. Ebenso können die Umstände selbst unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden (vgl. Kreß/ Schiehe; 2006; S. 16_1).

Ein Grund der unterschiedlichen Auswirkung von Gefährdungsmomenten liegt im Vorhandensein verschiedenster Risiko- und Schutzfaktoren, sowie Ressourcen und Stärken. Diese Entwicklungsfaktoren beschreiben sowohl innere Faktoren als auch äußere bzw. Umweltfaktoren, die in einer ganzheitlichen Sicht zusammen betrachtet werden können (vgl. Kasten; 2009; S. 16, 18). Insbesondere Ressourcen und Stärken bezeichnen innere Faktoren. Innerhalb und außerhalb bezieht sich hier auf das Kind.

Die Ressourcen sind mehrfach hilfreich: der Fachkraft können sie als Anknüpfungspunkte beim Kontaktaufbau dienen, dem Kind helfen sie bei der Bewältigung belastender Erfahrungen und für Eltern und Bezugspersonen können sie Ansatzpunkte für eine andere Betrachtung des Kindes sein (vgl. Kindler; 2006; S. 61_2). Einige der Faktoren sollen im Folgenden vorgestellt werden, da ihr Vorhandensein auch den Grad einer KWG bestimmen. Viele davon werden in den

(8)

6

Leitfäden, die im vierten Kapitel behandelt werden, abgefragt, was ihre Bedeutung untermauert. Aufgrund ihres Einflusses auf das Kindeswohl ist es in der Arbeit des ASD enorm hilfreich, gemeinsam mit den Eltern persönliche, materielle, familiäre und außerfamiläre, sowie formelle und informelle Ressourcen zu erkunden (vgl. Blüml u.a.; 1999; S. 259).

Jeder Faktor wirkt direkt oder indirekt auf das kindliche System ein. Am Beispiel des elterlichen Wohlergehens wird klar, was darunter zu verstehen ist. Das Wohlergehen setzt sich zusammen aus finanziellen, physischen, psychischen und sozialen Faktoren. Werden diese gefördert, profitiert nach Kindler auch das Kind (vgl. Kindler; 2006; S. 60_6). Am einfachsten lässt sich das am ansteckenden Charakter guter Laune nachvollziehen. Bessert sich die Stimmung der Bezugsperson, erfährt auch das Kind eine positivere Umgebung. Aufgrund der positiven Auswirkung und der, im Sinne von Resilienz, schützenden Wirkung, werden einige Faktoren als Schutzfaktoren bezeichnet. Darunter fallen sprachliche und motorische Kompetenzen, Intelligenz, Selbstvertrauen und –wirksamkeitsglaube, enge Bindungen, warmes, offenes und wertschätzendes Erziehungsverhalten (vgl. Alle; 2012; S. 66, 67). Diese und andere Faktoren können bei negativen Erlebnissen Rückhalt und Sicherheit geben.

Auf der anderen Seite kann es auch Faktoren geben, deren Vorhandensein negative Effekte auf das Wohlbefinden des Kindes haben können. Sie werden als Risikofaktoren bezeichnet. Einige dieser Faktoren, die in Wechselwirkung miteinander stehen, sind chronische Disharmonie in der Familie, geringer Wohnraum, niedriger sozio-ökonomischer Status und kriminelles oder psychisch gestörtes Verhalten der Eltern (vgl. ebd.; S. 61-62). Anhand der Aufzählung ist zu erkennen, dass das Kind immer in einem System verschiedenster Einflüsse eingebettet ist und dass keiner der Faktoren für sich allein steht. Dass der Einfluss besteht, ist nach der Mannheimer Risikokinderstudie unbestritten, da „in einer Längsschnittstudie [...] Kinder mit hoher Risikobelastung bis zu dreimal häufiger in ihrer Entwicklung beeinträchtigt (waren, Einfügung des Autors) als unbelastete Kinder“ (nach Hauri/ Zingaro; 2013; S. 43). Auch wenn nicht für jede der in dieser Arbeit vorgestellten Einflussgrößen solche Studien herangezogen wurden, ist davon auszugehen, dass sie von ähnlicher Relevanz sind.

Ohne Zweifel von elementarer Bedeutung ist ein zentraler Aspekt der Entwicklungstheorie: die Bindung. Diesen elementaren Bestandteil der menschlichen Entwicklung definiert Kasten als ein „wechselseitiges emotionales Band zwischen Kindern und der Hauptbezugsperson“ (nach Kasten 2009; S. 40). Die Bezugspersonen

(9)

7

können neben den Eltern, üblicherweise die Hauptbezugspersonen, auch Geschwister oder andere Verwandte sein.

Das Prinzip der Wechselseitigkeit deutet schon an, dass es zur Einschätzung der Bindung unerlässlich ist, die Bezugspersonen ebenso intensiv zu beobachten, wie das Kind selbst. Auf die Arbeit des ASD bezogen heißt das, dass eine Fixierung auf das Kind oftmals zu Kontextverlusten führt und daher zu falschen Interpretationen (vgl. Wolff; 2006; S. 46_3). Aufgrund der Abhängigkeit des Kindes von den Eltern, konzentriert sich der Hauptteil der Arbeit der SPFH ohnehin auf die Eltern. Allein das Wort Bindung lässt auf die Besonderheit dieses Entwicklungsaspektes schließen. Das mit jemanden-verbunden-Sein deutet auf eine fast symbiotische Beziehung zweier Lebewesen hin. Dass solch eine Beziehung in den ersten fünf Monaten besteht, kann über die Emotionsregulierung des Säuglings nachvollzogen werden, der die elterlichen Gefühle introjiziert, sich also zu eigen macht (vgl. Dornes; 2006; S. 36, 52). In dieser grundlegenden Abhängigkeit besteht die fundamentale Bedeutung der frühkindlichen Bindung. Durch sie wird der Kern der weiteren psychologischen Entwicklung gelegt, was im fünften Kapitel näher erklärt wird. Daher verwundert es auch nicht, wenn Werner die soziale Bindung und Verbundenheit zusammen mit der Existenz, also grundlegenden physiologischen Bedürfnissen, und dem Wachstum als basales Bedürfnis ansieht (vgl. Werner; 2006; S. 13_1). Es ist somit nicht übertrieben zu sagen, dass die Bindung vor allem für den Säugling überlebensnotwendig ist.

Die Herausbildung der Bindung erfolgt nach Lengning und Lüpschen in vier Phasen. Bis zur sechsten Woche besteht eine rudimentäre Vor-Bindung, die durch eine bis zum 6. bzw. 8. Monat andauernde Differenzierung abgelöst wird. Darauf folgt die beginnende Exploration, die bis zum ca. 3. LJ auszumachen ist und durch Prozesse differenzierter und vertiefter Bindung der vierten Phase ergänzt wird (vgl. Lengning/ Lüpschen; 2012; S. 14). Hierzu ist zu sagen, dass Phasenmodelle beim Rezipienten zur irrigen Annahmen einer starren Abfolge der Entwicklungsschritte führen können und den ineinander übergehenden, prozesshaften Charakter der Entwicklung, womöglich unbeabsichtigt, vernachlässigen. Das trifft ebenso auf die Modelle Eriksons und Piagets zu, die im fünften Kapitel behandelt werden. Obwohl in Beobachtungen festgestellt werden kann, dass gewisse Muster in einem Lebensabschnitt vorherrschen, folgt daraus nicht, dass die vorherigen verschwunden sind. Allerdings verdeutlichen Phasenmodelle die Differenzierung der Bindung und dadurch dessen qualitative Entwicklung sowie die Komplexität der Entwicklung im Allgemeinen.

(10)

8

Der Forschung von Mary Ainsworth ist es zu verdanken, dass der Sozialarbeit ein Modell verschiedener Bindungsmuster zur Verfügung steht. Auf der Grundlage des von ihr entwickelten FST, welcher die Reaktion von Kleinkinder auf das Erscheinen fremder Personen und die kurzzeitige Trennung von der Bezugsperson untersucht, konnten die Bindungsmuster sicher, unsicher-ambivalent, unsicher-vermeidend und desorganisiert aufgestellt werden (vgl. Bischof-Köhler; 2011; S. 213f). Letzteres tritt selten auf und ist in den beobachteten Verhaltensweisen unterschiedlich, weshalb nicht weiter darauf einzugehen ist. Ein Ergebnis des FST besteht in der qualitativen Beschreibung von Bindungsmustern. Viel wichtiger ist aber, dass durch diesen Test ein Zusammenhang zwischen mütterlichen und kindlichen Verhalten aufgestellt werden kann. Mütter bzw. Hauptbezugspersonen unsicher-ambivalent gebundener Kinder sind zumeist uneinfühlsam und unzuverlässig und Mütter unsicher-vermeidend gebundener Kinder sind häufig unemotional, vermeiden Körperkontakt und weisen wenig Ausdrucksvermögen auf (vgl. Berk; 1998; S. 217). Interessant ist dabei, dass die Bindung zu einer anderen Bezugsperson gleichzeitig eine komplett andere sein kann, was eine wunderbare Fähigkeit des Kindes darstellt (vgl. ebd.; S. 220). Aus den Ergebnissen des FST lassen sich Kriterien aufstellen, die auch für diese Arbeit zentral sind. Sie beschreiben elterliche Eigenschaften, die als Grundlagen für die Bindungsqualität anzusehen sind. Darunter fallen die Feinfühligkeit, Sensibilität und die Schnelligkeit der Reaktion (vgl. Kasten; 2009; S. 142). Unter Schnelligkeit oder auch Promptheit ist nicht zu verstehen, so schnell wie möglich beim Kind zu sein, sondern da zu sein, wenn es die Situation erfordert. Es handelt sich also um das rechte Maß, das eher einem Bauchgefühl entspricht und daher schwer zu definieren ist. Feinfühligkeit ist nach Lengning und Lüpschen als Fähigkeit zu beschreiben, die kindlichen Signale wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und angemessen und prompt zu reagieren (vgl. Lengning/ Lüpschen; 2012; S. 24). Auch hier deuten die unklaren Begriffe „richtig“, „angemessen“ und „prompt“ auf die Tatsache hin, dass es keine zu 100% richtige Vorgehensweise gibt sondern nur den Versuch einer Person, das Beste zu geben.

Was sich soeben angedeutet hat, kann unter dem Begriff der Erziehungsfähigkeit dargestellt werden. Die Erziehungsfähigkeit und ihre Parameter sind zwar nicht näher definiert, allerdings kann unter Erziehung bzw. Erziehen das Unterstützen der Entwicklung hin zu einem selbstständigen, gesellschaftlich integrierten Erwachsenen über Regeln, Grenzen, Liebe, Zuverlässigkeit, dem Gefühl der Zugehörigkeit und Achtung verstanden werden (vgl. Alle; 2012; S. 75). Es handelt sich demnach um einen,

(11)

9

mehr oder weniger bewusst festgelegten, zielorientierten Vorgang. In der folgenden Betrachtung der Gesetzestexte taucht dieser Begriff ebenfalls auf. Es wird darauf verwiesen, dass das rechte Maß der Erziehungsmittel entscheidend ist. Nach Kindler deutet §1666 BGB darauf hin, dass ein ganzheitliches Verständnis des elterlichen Einflusses auf das Kind notwendig ist (vgl. Kindler; 2006; S. 62_2). Die in diesem Kapitel vorgestellten Aspekte müssen dabei berücksichtigt werden, was die Komplexität des Entscheidungsvorgangs deutlich macht. Im nächsten Kapitel wird daher versucht aufzuzeigen, wie ein solcher Prozess eingerahmt ist.

Zunächst muss noch auf einen letzten Aspekt eingegangen werden, der zur Bestimmung evtl. KWG von Nutzen sein kann: der Erziehungsstil. Wie das Wort nahe legt, handelt es sich um eine Beschreibung der Art und Weise der Erziehung. Diese kann autoritär, autoritativ oder permissiv erfolgen (vgl. Blüml u.a.; 1999; S. 221). Die Unterteilung geht auf Diana Baumrind zurück, die in ihrer Forschung die Form elterlicher Reaktionen auf das Kind mit den Dimensionen demandingness (Forderung) und responsiveness (oft: Reaktion, besser: Beantwortung oder Eingehen) beschrieb. Während die starre, sehr fordernde Haltung autoritärer Erziehung eher ängstliche Kinder hervorbringt und die laissez faire Haltung permissiver Erziehung in unreifem und forderndem Verhalten resultiert, begünstigt die warme und verständnisvolle Haltung autoritativer Erziehung eine gute Entwicklung (vgl. Berk; 1998; S. 266). Natürlich variiert der Erziehungsstil graduell bei jeder Person. Da die Stile aber auch die Folgen des Erziehungsverhaltens der Eltern beschreiben, sind sie in Hinblick auf die Zielstellung dieser Arbeit zu berücksichtigen.

4. Der Begriff der Kindeswohlgefährdung 4.1. juristische Definitionen

In diesem Kapitel werden die rechtlichen Grundlagen, die das KWG behandeln, vorgestellt. Dies soll vor allem zeigen, dass der Begriff der KWG juristisch unklar bzw. schwer zu definieren ist (vgl. Schone; 2012; S. 13.). Das Fehlen einer verbindlichen Definition ist nach der Ansicht des Autors aber keinesfalls negativ zu bewerten. Vielmehr begünstigt diese juristische Umrahmung der Fachkraft, eine auf den jeweiligen Fall und die speziellen Personen bezogene Beurteilung zu erarbeiten. Dass es sich dabei um die Beurteilung von Prozessen handelt, wurde bereits 1956 durch den

(12)

10

Bundesgerichtshof berücksichtigt, der die KWG als „eine gegenwärtige, in solchem Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.“ darstellt (nach Galm u.a.; 2010; S. 20).

Weniger schwierig verhält es sich mit dem Begriff des Kindeswohls. Auch dieses ist am Einzelfall zu ermessen, wobei nach Alle folgende Kriterien zu berücksichtigen sind: die Bedürfnisse des Kindes, die Lebenslage der Familie, die Erziehung der Kinder zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten und die Gewährleistung von Rechten wie bspw. der UN Kinderrechtskonvention oder der in diesem Kapitel festgehaltenen Rechte (vgl. Alle; 2012; S. 13). Dass es sich vor allem im dritten Punkt um kulturell geprägte Leitbilder handelt, wird später im Entwicklungskonzept Eriksons herausgestellt. In einzelnen §§ tauchen immer wieder Aspekte des Kindeswohls auf, über deren Nichtvorhandensein wiederum Aspekte der KWG zu schlussfolgern sind. In der nun folgenden Bearbeitung einiger Gesetzbücher wird darauf eingegangen.

Im Anfang bundesdeutscher Gesetzgebung wurde das GG geschaffen. Art. 6, Abs. 2 hält fest, dass die Pflege und Erziehung des Kindes das grundlegende Recht und auch die Pflicht der Eltern ist (vgl. GG; 2004; S. 16). Durch die Verwendung des Pflichtbegriffes wird dargestellt, dass es sich in der Kindererziehung um eine verantwortungsvolle Aufgabe handelt, die mit Sorgfalt, Qualität und einer gewissen Zweckorientierung durchzuführen ist. Kommen die Eltern dieser Verantwortung nicht nach, deutet der darauf folgende Satz an, dass der Staat Einfluss nehmen kann (ebd.). Auch §1627 BGB hält die Eigenverantwortung der elterlichen Sorge fest (vgl. BGB; 2011; S. 349). Wie am Beispiel der Wächterrolle des Staates zu sehen ist, werden die etwas vagen Formulierungen des GG durch das BGB und insbesondere das SGB VIII ausgebaut und ergänzt. Dabei schafft das BGB die Grundlage für das Einschreiten des Staates in die elterlichen Grundrechte und definiert grundlegende Begriffe. Im SGB VIII werden vor allem Zuständigkeiten, Aufgaben und Maßnahmen geregelt.

Laut Meysen und Schmidt enthält §1666 BGB als Aspekte einer KWG die missbräuchliche Ausübung elterlicher Sorge, die Vernachlässigung des Kindes, unverschuldetes Elternversagen und das Verhalten eines Dritten (vgl. Meysen/ Schmid, 2006; S. 2_1). Da dies im entsprechenden Paragraphen so nicht formuliert ist, müssen auch die umliegenden §§ zu Rate gezogen werden. §1626 bspw. benennt die Personensorge, die Vermögenssorge und die Berücksichtigung der kindlichen

(13)

11

Entwicklung als Teile der elterlichen Sorge und den Umgang mit den Eltern als Teil des Kindeswohls (vgl. BGB; 2011; S. 348). Die intensive Behandlung der Vermögenssorge auch in anderen §§ mag aus pädagogischer Sicht etwas befremdlich wirken. Da dieser Teil des BGB nach Meysen und Schmid aber der Tradition deutscher Rechtsprechung von 1900 folgt, kann die Verwunderung zumindest begründet werden (vgl. Meysen/ Schmid; 2006; S. 2_1). Es ist darauf hinzuweisen, dass nach der Ansicht des Autors das Vermögen eines Kindes keinen direkten Einfluss auf sein Wohlbefinden hat. Ökonomische und soziale Ressourcen stellen nur einen Faktor dar, der im Kontext der KWG zu beachten ist. Weitere sind: Alter und Entwicklungsstand, wie das Kind Andere subjektiv erlebt, psychopathologische Momente wie bspw. Parentifizierung und interfamiliäre Beziehungen (vgl. Wagenblass; 2006; S. 57_2). Nichtsdestotrotz ist die obige Aussage von Meysen und Schmidt im BGB so nicht aufzufinden.

Der inhärenten Logik des BGB folgend, nennt §1666 BGB die Gefährdung des körperlichen, geistigen und seelischen Wohls, sowie des Vermögens als Gründe für das Einschreiten des Familiengerichts (vgl. BGB; 2011; S. 354). Dass das Familiengericht zuständig ist, regelt §1697 a (vgl. ebd.; S. 360). Hier ist zu erkennen, dass das BGB die Grundlagen für Angelegenheiten des KWG legt. Darin ist seine Bedeutung zu sehen. Es erstellt gewissermaßen einen Rahmen, in dem sich die elterliche Erziehung bewegen kann. Wird dieser Rahmen überschritten, findet §1666 Anwendung.

Wie nun zu verfahren ist, wenn eine KWG eintritt, wird im §8a des SGB VIII festgehalten. Ebenso wird hier deutlich, dass das JA als staatliches Organ Exekutivkraft ausübt bzw. neben dem Jugendgericht als letzte Instanz dient (vgl. SGB; 2012; S. 985). Hervorzuheben ist, dass im ersten Paragraphen des SGB VIII nochmals Art. 6 GG wiederholt wird, woran die Logik der Legislative nachzuvollziehen ist. Ebenso werden hier und im §2 allgemeine Ziele und Aufgaben beschrieben, die neben der Förderung und Beratung auch den Schutz des Kindes sowie das Schaffen und Erhalten positiver Rahmenbedingungen beinhalten (vgl. SGB; 2012; S. 983). Daraus lassen sich Aspekte des Kindeswohls schlussfolgern, allerdings eher indirekt und über Umkehrschlüsse, was auf das gesamte SGB VIII zutrifft. Die nach §2 aufgelisteten Maßnahmen und Zuständigkeiten, regeln die grundlegenden Arbeitsprozesse der Jugendhilfe. Dies entspricht der allgemeinen Bedeutung des SGB VIII, nämlich der Verfahrensregelung und der Klärung von Zuständigkeiten.

Somit steht hier weniger das Was als das Wie im Mittelpunkt. Es wird nicht versucht vorzugeben, was unter KWG zu verstehen ist, sondern vielmehr, wie bei einer

(14)

12

KWG zu verfahren ist und wer für was zuständig ist. Somit wird deutlich, dass die gesetzliche Rahmung des KWG in der Praxis durch Erfahrung und dem Wissen der Sozialpädagogik gefüllt werden muss. Alle formuliert es so, dass es zur Abschätzung einer KWG fachlicher Kompetenz, Sicherheit und Erfahrung von mdt. 2 Fachkräften bedarf (vgl. Alle; 2012; S. 55). Ähnlich ist es in §8a SGB VIII festgehalten.

Es ist ersichtlich, dass die Gesetze grundsätzliche Fragen klären, für deren Ausführung detaillierte Regelungen, Konzepte und Arbeitsweisen zu erarbeiten sind. Als wichtigster Punkt ist festzuhalten, dass das Erziehungsprimat der Eltern dort endet, wo das Kindeswohl gefährdet wird (vgl. Meysen/ Schmid; 2006; S. 2_3). Erst auf Grundlage dieser Feststellung ist es möglich, sozialpädagogische Maßnahmen zu ergreifen, um das Kindeswohl sicher zu stellen. Dabei stellen die Gesetzestexte, wie am Anfang dieses Kapitels erwähnt, nicht eindeutig dar, was unter dem Kindeswohl zu verstehen ist. Das kann nach Schone dazu führen, dass nicht jede Misshandlung oder Vernachlässigung einer KWG im rechtlichen Sinne entspricht (vgl. Schone; 2012; S. 13). Anders formuliert kommt es in der Praxis des ASD vor, dass unterschiedliche Ansichten zwischen dem JA bzw. dem Jugendgericht und der Fachkraft über das Vorhandensein einer KWG gibt.

4.2. KWG – Leitfäden in der sozialpädagogischen Praxis

Wie bereits festgestellt wurde, ist es ein notwendiger Teil der Arbeit der SPFH, die gesetzlichen Vorgaben mit fachlichen und wissenschaftlich fundierten Inhalten zu füllen. Die Einzigartigkeit jedes Falles berücksichtigend ist die Fachkraft immer wieder herausgefordert, angemessene Beurteilungskriterien zu finden (vgl. Schone; 2012; S. 43). Ohne eine Systematisierung kann so, auf die Dauer betrachtet, ein ziemlicher Arbeitsaufwand entstehen. Die Vorbeugung dieser Wiederholung ist daher ein Grund, Checklisten, Leitfäden, Indikatorenlisten oder Anhaltspunkte zu erarbeiten. Als einheitliche Formulierung soll in dieser Arbeit der Begriff Leitfaden dienen. Als zweiter und wichtigerer Grund dienen Leitfäden als Orientierungshilfe, die die Notwendigkeit einer Soforthilfe abklären, die Anhaltspunkte für bestimmte Gefährdungen, sowie Schutz- und Risikofaktoren festhalten und auch als Grundlage für das weitere Vorgehen dienen (vgl. Hauri/ Zingaro; 2013; S. 30). Leitfäden erfüllen somit mehrere Zwecke. Dennoch ersetzen sie auf keinen Fall das Fallgespräch im (Fach-) Team.

(15)

13

Die Erarbeitung von Leitfäden resultiert aus den Zielvorgaben der Träger und auch des JA. Goldberg und Schorn formulieren diese Ziele als: Erkennen und Abwenden von Gefährdungen, Fördern und Stabilisieren von Erziehungskompetenzen, rechtliche Absicherung von sozialarbeiterischen Interventionen und die Gewährleistung der Fachlichkeit (vgl. Goldberg/ Schorn; 2011; S. 105). Gerade die Fachlichkeit wird durch diese Erarbeitung gewährleistet, vor allem wenn diese in Zusammenarbeit mit den Kollegen und auf wissenschaftlichen Grundlagen erfolgt. Ebenso können externe Fachkräfte wie Kinderpsychologen oder auch Fachkräfte der frühen Erziehungsstätten zu Rate gezogen werden, was der gängigen Praxis entspricht (vgl. Salgo; 2008; S. 22). Zu dieser Zusammenarbeit ist der ASD nach §81 SGB VIII ohnehin verpflichtet.

Die Vielfalt der sozialen Träger kann dabei zu einer Situation führen, in der unterschiedliche Leitfäden bestehen. Alle fordert daher, dass es „klare, eindeutige Anhaltspunkte und Standards geben (muss; Einfügung des Autors), wie es zu Beschreibungen, Feststellungen und Beurteilungen im Rahmen einer sozialpädagogischen Diagnose kommt.“ (nach Alle; 2012; S. 58). Wie sich am Ende dieses Punktes zeigen wird, wäre eine Vereinheitlichung aber kontraproduktiv. Die Komplexität des zu beurteilenden Sachverhaltes erschwert es, dass durch einen Leitfaden allein alle relevanten Aspekte im Rahmen des Kindeswohls berücksichtigt werden. Durch den Vergleich wird deutlich, dass ein Mangel bzw. Schwachpunkt eines Leitfadens durch einen anderen aufgehoben werden kann. Vielfältige Leitfäden können sich also ergänzen, woraus ihre Nutzer einer Vorteil ziehen können. Durch den folgenden Vergleich einiger Leitfäden soll das herausgestellt werden.

Das Internet stellt bei der Suche eine große Hilfe dar. Hier ist es möglich, schnell verschiedene Leitfäden zu finden. Die links in der Quellenangabe können hierfür als Ausgangspunkt dienen. Nach Salgo sind solche Leitfäden bereits teilweise arbeitsrechtlich verbindlich, auch bei einigen JA (vgl. Salgo; 2008; S. 21). Nachdrücklich wird darauf hingewiesen, dass Leitfäden die Fachkraft nicht von weitergehender Reflexion entbinden. Sie sollen vielmehr unterstützen und Sicherheit und Übersichtlichkeit geben. Die vorzustellenden Leitfäden sind: der Orientierungskatalog der AG Berliner Kinderschutzbogen, der Stuttgarter Kinderschutzbogen, Beobachtungs- und Diagnosebögen der Stadt Recklinghausen, sowie der Leitfaden Kindesschutz von Hauri und Zingaro aus der Schweiz, hilfreiche Veröffentlichungen des KiSchZ und diverse Indikatoren der Hansestadt Hamburg. Den

(16)

14

Fragestellungen der Arbeit entsprechend, wird versucht psychologische Aspekte vertiefend vorzustellen.

Rein formal ist zwischen Checklisten im eigentlichen Sinne und allgemeinen Anhaltspunkten zu unterscheiden. Erstere listen detailliert einzelne Fragen auf, anhand derer die Fachkraft ein Urteil fällen kann. Letztere benennen Kategorien, die für die Festlegung einer KWG in Frage kommen.

4.2.1. Der Berliner Orientierungskatalog

Im Berliner Orientierungskatalog, der sich klar am Stuttgarter Kinderschutzbogen orientiert, sind als Kategorien genannt: Ernährung, Schlafplatz, Kleidung, Körperpflege, Schutz und Aufsicht, Sicherung der medizinischen Grundversorgung, Betreuung, emotionale Zuwendung durch die Bezugsperson, und Gewalt gegen das Kind (vgl. sfbb; 2005; S. 3). Diese Kategorien werden auf die Altersstufen 0-3 LJ, 3-6 LJ und 6-14 LJ angewandt, wobei es kleinere Änderungen der Kriterien bei den Altersstufen gibt, die allerdings gering sind. Die emotionale Zuwendung steht als ein Kriterium für die psychologische Entwicklung des Kindes. Als Anhaltspunkte werden Körper- und Blickkontakt, Gefühle für das Kind, Wertschätzung des Kindes und die Einbindung des Kindes in die Lebenswelt genannt (vgl. ebd.; S. 12). Diese Punkte können von der Fachkraft beobachtet oder erfragt werden. Es ist klar, dass alle Angaben somit subjektiv sind und entsprechend festgehalten werden müssen. Auch die anderen Kategorien wie der Schlafplatz und vor allem die Gewalt haben Auswirkungen auf die Psychogenese. Das Dilemma des ASD besteht darin, dass nach §8a SGB VIII für das Tätigwerden gewichtige Anhaltspunkte in Hinblick auf eine KWG vorliegen müssen (vgl. SGB; 2012; S. 985). Psychische Schädigungen bauen sich jedoch in einem langen Zeitraum auf und sind zumeist nicht unmittelbar festzustellen. Für eine fachliche Diagnose muss weiterhin ein Kinderpsychologe eingeholt werden. Daher fällt es schwer, eine KWG auf der alleinigen Grundlage psychologischer Anhaltspunkte auszusprechen.

Kritisch zu betrachten beim Berliner Orientierungskatalog ist die zu einfache Bewertungsskala „sehr schlecht-schlecht-ausreichend-gut“ und einige stark kulturell geprägte Kriterien, wie das favorisierte Auskochen der Flasche nach jeder Benutzung (vgl. sfbb; 2005; S. 5). Letzteres ist aber vor allem das subjektive Empfinden des Autors.

(17)

15

4.2.2. Der Stuttgarter Kinderschutzbogen

Der Stuttgarter Kinderschutzbogen stellt eine gut strukturierte Arbeitsgrundlage dar. Erst nachdem allgemeine Angaben zur Familiensituation und auch ein Genogramm zu erstellen sind, werden die Kategorien der Grundversorgung vorgestellt (vgl. Stuttgart; 2002; S. 1-2). Da diese und die Altersstufen den Berliner Kriterien entsprechen, ist klar, woher die AG Berliner Kinderschutzbogen ihre Inspiration nahm. Die zwei wesentlichen Unterschiede bestehen darin, dass der Stuttgarter Bogen die Kategorien in Primär- und Sekundärbewertung unterscheidet und die Angaben mit Ja/ Nein/ keine Angabe vorgibt. Sehr gut ist, dass Raum für Kommentare und Ergänzungen gelassen wird. Die Fachkraft kann also auch Angaben zu Punkten machen, die nicht im Bogen genannt wurden. Diese Möglichkeit der Ergänzung macht klar, dass solche Bögen zur Objektivierung bzw. Orientierung dienen, aber nicht als allumfassend objektiv anzusehen sind (vgl. KiSchZ; 2009; S. 93). Die Sekundärbewertungen, die ab Seite 6 anzugeben sind, betrachten Risikofaktoren, Rahmen- und Lebensbedingungen, die Eltern, Interaktionen der Eltern mit dem Kind und das Sozialverhalten des Kindes.

Dadurch wird ein erweiterter Blick aufgemacht, der sich nicht nur auf das Kind selbst konzentriert. Eine Theorie, die diesem Ansatz in gewissem Maß zugrunde liegt, ist die ökologische Systemtheorie Bronfenbrenners, dessen Vorstellungen des Meso- und Exosystems hier angedeutet werden (vgl. Blüml u.a.; 1999; S. 218). Mehr zu dieser und anderer Theorien im Punkt 5.3. Im Rahmen des Kinderschutzbogens zeigt sich der Vorteil dieser erweiterten Perspektive. Sie beleuchtet die Rahmenbedingungen und vor allem auch Ressourcen, was unerlässlich für die Einschätzung aber auch für die Lösungsansätze ist. Gerade diese Offenheit spricht für die Anwendung des Stuttgarter Kinderschutzbogens.

Dennoch ist auch einiges Negatives zu bemerken: Trotz der Ergänzungsmöglich-keiten ist fraglich, ob eine halbe Zeile ausreicht, um die SpielmöglichErgänzungsmöglich-keiten zu beschreiben (vgl. Stuttgart; 2002; S. 7). Auf den ersten Blick noch fraglicher ist, was gemeint ist, wenn beim 0-3 jährigen Kind gefragt wird, ob es sich distanzlos verhält (vgl. ebd.; S. 8a). Erst vor dem Hintergrund des FST bzw. der Bindungsmuster stellt sich heraus, dass ein distanzloses Kind als unsicher gebunden betrachtet werden kann. Bindungsmuster könnten jedoch auch direkt erfragt werden. Somit lässt der Bogen an einigen Stellen Flexibilität und klar durchdachte Strukturen vermissen. Ebenso kann es passieren, dass durch das Vorgeben von Antworten nicht Genanntes nicht berücksichtigt

(18)

16

wird. Das ist bei allen Leitfäden der Fall, würde aber auch eine Nachlässigkeit der Fachkraft darstellen.

Als Anhaltspunkte für den psychischen Zustand werden im Stuttgarter Kinderschutzbogen Verhaltensweisen, die Interaktion mit den Bezugspersonen und das allgemeine Sozialverhalten erfragt. Mit Hilfe dieser Angaben können Vermutungen zur Psychogenese und evtl. Störungen geäußert werden. Für eine Diagnose sind natürlich neben der Notwendigkeit mehrere Gespräche und eine Fachkraft/ also ein Psychologe vonnöten. Die Fachkraft kann nichtsdestotrotz nur durch das Beobachten von Verhaltensauffälligkeiten auf seelische Gewalt und psychische Vernachlässigung schließen (vgl. TK; 2013; S. 88). Dies ist eine zentrale Aussage, gerade auch für die Fragestellung dieser Arbeit.

4.2.3. Diagnose- und Beobachtungsbögen der Stadt Recklinghausen

Die Stadt Recklinghausen hat zur Unterstützung der Wahrnehmung bzw. Feststellung ob eine KWG vorliegt Diagnose- und Beobachtungsbögen entwickelt (vgl. BeB 0-3; 2006; S. 5). Es handelt sich um zwei Diagnosebögen für die Altersgruppen 0-12 LJ und 12-18 LJ sowie um vier Beobachtungsbögen der Altersgruppen 0-3 LJ, 3-6 LJ, 6-12 LJ und 12-18 LJ. Letztere können als Ergänzung der Diagnosebögen angesehen werden, da sie detaillierter sind und im eigenen Verständnis zur Entwicklungsstandabfrage dienen (vgl. BeB 6-12; 2006; S. 1). Noch umfassender als im Stuttgarter Kinderschutzbogen werden hier Kriterien aufgelistet, die neben persönlichen Merkmalen, Grundbedürfnissen und elterlichen Kompetenzen auch Rahmenbedingungen und Risikofaktoren betrachten. Während der Diagnosebogen zur Bewertung ein Ampelsystem nutzt, greifen die Beobachtungsbögen auf das Schulnotensystem zurück. Dieses Bewertungsmittel ist ebenso wie die Skala „sehr schlecht“ bis „gut“ im Berliner Orientierungskatalog aufgrund der stark normativen Prägung zu kritisieren.

Inhaltlich ist nach der Meinung des Autors bspw. die Bewertung religiös/ ideologischer Überzeugungen schon fast anmaßend (vgl. BeB 0-3; 2006; S. 3). Allein der Beobachtungsbogen der Altersstufe 6-12 LJ ergänzt „, die Anlass zur Besorgnis geben“ (nach: BeB 6-12; 2006; S. 4). Die Formulierung mag diplomatischer sein, täuscht aber nicht über den sehr subjektiven Einschätzungsvorgang hinweg. Außerdem stellt diese Uneinheitlichkeit innerhalb der Kriterien einen formalen Mangel dar. Prinzipiell ist die Berücksichtigung dieses Aspektes, wie auch evtl.

(19)

17

Integrationsprobleme bei Migrationshintergrund, eine gute Ergänzung (vgl. ebd.). Ihre normative Bewertung ist, wie gesagt, grenzwertig.

Von den genannten Mängeln abgesehen, stellen die Diagnose- und Beobachtungsbögen ein gutes Hilfeinstrument im Rahmen der Einschätzung des Kindeswohls dar. Im Vergleich zum Stuttgarter Kinderschutzbogen werden hier jedoch weniger psychologische Aspekte genannt. So ist das System aus Recklinghausen in dieser Hinsicht weniger detailliert aber dennoch umfassend gestaltet.

4.2.4. weitere Leitfäden

Alle in diesem Unterpunkt vorgestellten Leitfäden stellen im Gegensatz zu den obig beschriebenen eine Zusammenstellung allgemeiner Anhaltspunkte dar. Sie enthalten keine konkreten Checklisten, sondern bilden vielmehr einen Rahmen, der die Fachkraft im Entscheidungsprozess unterstützt.

Hervorzuheben ist dabei der Leitfaden von Hauri und Zingaro aus der Schweiz. Dieser gibt als Anhaltspunkte für KWG die körperliche und kognitive Erscheinung, Verhaltensauffälligkeiten, eine Liste weitere Indikatoren aber auch Schutz- und Risikofaktoren vor (vgl. Hauri/ Zingaro; 2013; S. 32f). Die Indikatoren beinhalten daher auch viele Aspekte aus dem Umfeld des Kindes. Generell hält sich der Umfang der Indikatoren aber in Grenzen, was jedoch nicht das Besondere ist. Das besteht in dem System der Einschätzung, welches eine Kombination aus dem Grad der Risikoeinschätzung und dem Grad der Sicherheit bzgl. der Einschätzung, gewissermaßen dem Bauchgefühl, ist (vgl. ebd.; S. 44). Da sich hier die Fachkraft selbst reflektiert, stellt dieser Leitfaden somit bspw. für das Gespräch im Team eine gute Arbeitsgrundlage dar.

Auch das Handbuch des KiSchZ ist als umfassende Arbeit zum KWG zu bezeichnen und kann als gute Einführung zum Thema dienen. Bevor hier in einem allgemeinen Rahmen Anhaltspunkte dargestellt werden, wird der Fokus auf die Fachkraft gelegt. Diese sollte sich der Gefahr ihrer Arbeit bewusst sein, auch in Hinblick auf die Folgen von Fehleinschätzungen (vgl. KiSchZ; 2009; S. 88). In dieser Deutlichkeit wird in keinem anderen Leitfaden auf die Person der Fachkraft verwiesen, was beispielhaft für die Breite des Handbuchs ist. Es enthält ebenso umfangreiches Wissen über Ressourcen, Hintergründe und Auswirkungen im Rahmen der Arbeit im Bereich des Kindeswohls.

(20)

18

Bei Schone lassen sich einige Anhaltspunkte finden, die nach dem Landesbetrieb Erziehung und Berufsbildung der Stadt Hamburg 2005 zitiert werden. Die Anhaltspunkte umfassen die äußere Erscheinung und das Verhalten des Kindes, das Verhalten und die persönliche Situation der Erziehungsperson, die familiäre Situation und die Wohnsituation (vgl. Schone; 2012; S. 45-46). Positiv hervorzuheben ist hier, wie auch in den anderen Leitfäden, dass immer auch Raum zur Betrachtung der Eltern gelassen wird. Schließlich müssen diese auch die meiste Arbeit und Veränderungen auf sich nehmen. Deutlich wird die Berücksichtigung der Eltern u. a. daran, wie oft das Adjektiv „angemessen“ bei der kurz gefassten Indikatorenliste der Stadt Hamburg auftaucht (vgl. ebd.; S. 48). Was angemessen ist, liegt im Ermessen der Eltern und der Fachkraft. Dass darin zwangsläufig Unterschiede liegen, hat vielfältige Ursachen. Daher ist es schwer festzulegen, was angemessen ist. Die Fachkraft sollte sich der verschiedenen Perspektiven und evtl. Zielkonflikten klar sein und dementsprechend die Arbeit gestalten.

Auch die Einschätzung der Fachkraft, was die Ursachen für das evtl. gefährdende Verhalten der Eltern ist, sollte in der gemeinsamen Arbeit an Lösungen berücksichtigt werden. Diese Ursachen können altersunangemessene Erwartungen an das Kind, ein hohes Gefühl der Belastung oder der Hilflosigkeit im Erziehungskontext und die eingeschränkte Bereitschaft, eigene Bedürfnisse zurück zu stellen, sein (vgl. Kindler/ Reinhold; 2006; S. 18_3). Dabei ist es ein Aspekt professioneller Arbeit, diese Vermutungen mit den Eltern zu besprechen und ggf. daran zu arbeiten.

Im Gegensatz zur Aussage Kindlers hat sich gezeigt, dass es bereits konkrete Erörterungen zur Abklärung in Gefährdungsfällen gibt. Ob ein Mangel besteht, wurde nicht geklärt. Allerdings steht hohe Quantität nicht selbstverständlich für hohe Qualität. Die hier vorgestellten umfangreichen Konzeptionen und Leitfäden operationalisieren den Umgang der Fachkraft im Erkennen von KWG. Dabei gibt es zahlreiche Anhaltspunkte und Themengebiete. Als Anhaltspunkte psychopathologischer Befunderhebung, bei der die Mitarbeiter des ASD keinesfalls verallgemeinernd als Experten anzusehen sind, wurden u. a. Kontakt- und Beziehungsfähigkeit, Emotionen, kognitive Funktionen und auch äußere Erscheinungen genannt (vgl. TK; 2013; S. 87). Um das Verständnis der Psychogenese zu erweitern und weitere Aspekte zur Befunderhebung zu erarbeiten, widmet sich das nächste Kapitel der Entwicklungspsychologie.

(21)

19

5. Entwicklungspsychologie

In diesem Kapitel soll eine Übersicht zu einigen entwicklungspsychologischen Konzepten erfolgen. Es handelt sich insbesondere um die Modelle Eriksons und Piagets. Weitere Modelle werden vergleichend vorgestellt. Dabei geht es darum zu klären, welche Prozesse und Entwicklungsphasen das Kind durchlebt und welche Faktoren besonders stark die Entwicklung beeinflussen. Dieses Wissen um die Entwicklung ist für die Praxis des ASD unabdingbar (vgl. Kindler/ Werner; 2006; S. 15_1). Dabei wird verstärkt das Anliegen dieser Arbeit verfolgt, Aspekte der Psychogenese als Bestimmungskriterien der KWG zu erarbeiten.

5. 1. Entwicklungsphasen bei Erikson

Das Entwicklungsmodell des Erik H. Erikson stellt eine Weiterentwicklung des Freud’schen Systems dar. Es ist jedoch keine bloße Ergänzung sondern vielmehr eine eigenständige Theorie. Freud führte bspw. Bindungsprozesse auf Libido- und Triebzentrierung zurück (vgl. Bischof-Köhler; 2011; S. 92). Weiterhin entwickelte er die Dreiteilung der Persönlichkeit (Es, Ich, Über-Ich), durch deren Zusammenspiel er das Verhalten erklärte. Das Ich spielte dabei nach Freud eine Vermittlerrolle. Erikson baute diese Rolle aus, in dem er betonte, dass das Ich nicht nur ein Vermittler, sondern auch ein eigenständiger Akteur ist (vgl. Berk; 1998; S. 16). In den acht Phasen der Persönlichkeitsentwicklung nach Erikson steht das Ich im Mittelpunkt. In dieser Arbeit werden die fünf Phasen bis zum 18. LJ vorgestellt. Die Besonderheit der Werke Eriksons besteht darin, dass er sehr praxisverbunden gearbeitet hat und dass er eher als ein literarischer als ein wissenschaftlicher Autor anzusehen ist (vgl. Conzen; 1996; S. 9). Auch die Tatsache, dass die meisten seiner Veröffentlichungen auf Vorträgen basieren, spricht für die Praxisnähe.

Dass vor allem das Modell Eriksons vorgestellt werden soll und als Grundlage für die Zielstellung dieser Arbeit dient, ist durch diese Praxisverbundenheit und durch die Tatsache zu erklären, dass sein Modell logisch und praktisch nachvollziehbar ist. Die fünf relevanten Phasen entsprechen jeweils einem konkreten Lebensabschnitt. Sie gleichen in der zeitlichen Orientierung den psychoanalytischen Phasen, wie sie von Freud aufgestellt wurden. Das erste LJ entspricht der oralen Phase, vom ersten bis dritten LJ dauert die anale Phase, vom dritten bis sechsten LJ die phallische Phase, vom

(22)

20

sechsten bis elften LJ die Latenzphase und die Pubertät entspricht der genitalen Phase (vgl. Berk; 1998; S. 17). Der Unterschied zwischen Freud und Erikson besteht vor allem in der Trieborientierung des Freud’schen Konzeptes. Aber auch die englische Bezeichnung psychosocial model weist darauf hin, dass Erikson stärker als Freud die zwischenmenschlichen Beziehungsgefüge betrachtet hat. Nach Berk liegt der Grund, dass beide Theorien nicht mehr als mainstream angesehen werden in der Tatsache, dass sie empirisch schwer nachzuweisen sind (ebd.). Das verwundert in zweierlei Hinsicht. Zum einen hat Erikson seine Theorien auf der Grundlage langjähriger Arbeit bzw. Beobachtungen entwickelt. Zum anderen ist aufgrund der Komplexität der menschlichen Psyche und dem langen zeitlichen Verlauf der Entwicklung ohnehin davon auszugehen, dass ein empirischer Beweis des direkten Einwirkens von einem Entwicklungsschritt auf die „Gesamtpsyche“ schwer zu erbringen ist. Die Anführungs-striche beziehen sich auf die Überzeugung des Autors, dass die Psychogenese nie abgeschlossen ist und deshalb nicht von einer festen Psyche i. S. eines vollendeten Gebildes gesprochen werden kann.

5.1.1. Ur-Vertrauen gegen Ur-Misstrauen

Die erste Phase der Theorie Eriksons entspricht dem ersten LJ. Dass es sich hierbei um die sensibelste und wichtigste Phase der menschlichen Entwicklung handelt, wurde bereits angedeutet. Nach Erikson entwickelt sich hier ein Verhältnis von Ur-Vertrauen und Ur-Misstrauen aus, das sich später auf das Verhalten auswirkt. Er sieht in der Entwicklung des Ur-Vertrauens den „Eckstein gesunder Persönlichkeit“ (nach Erikson; 1993; S. 63). Da hier also die Grundlagen der späteren Persönlichkeit gelegt werden, wird die Beschreibung der ersten Phase vergleichsweise viel Platz einnehmen.

Von einem durchschnittlichen Geburtsgewicht von 3,5 kg und einer Größe von ca. 50 cm entwickelt sich der Säugling auf ca. 11 kg und auf eine Größe von 80 - 92 cm im zwölften Monat (vgl. Werner; 2006; S. 14_1). In dieser rasanten Wachstumsphase werden grundlegende Bewegungsabläufe und auch psychische Voraussetzungen für das weitere Leben gelegt. Die Geschwindigkeit der Entwicklung wird in keiner anderen Entwicklungsphase übertroffen. Allerdings stellt das erste Lebensjahr auch die verletzlichste Phase menschlicher Entwicklung dar. Für jegliche Bedürfnisbefriedigung ist das Kind auf Andere angewiesen (vgl. Bischof-Köhler; 2011; S. 158). Wie durch

(23)

21

Dornes bereits beschrieben, umfasst das nicht nur körperliche, sondern auch emotionale Bedürfnisse.

Erikson betrachtet in dieser Entwicklungsphase den Konflikt zwischen Ur-Vertrauen und Ur-Misstrauen. Mit Ur-Vertrauen meint Erikson ein Gefühl des „Sich-Verlassen-Dürfens“, das zusammen mit allen anderen Komponenten der Psychogenese in die Gesamtpersönlichkeit integriert wird (vgl. Erikson; 1993; S. 62). D. h., dass die in der Entwicklung erlebten Gefühle durch Wiederholung zum Teil der eigenen Wirklichkeit, des eigenen Selbst werden. Da sie später unbewusst als Teil des Selbst in uns wirken, prägen sie unser Handeln. Hier besteht eine Parallele zum Behaviorismus, der in seiner Frühform nach Watson, durch Locke und Pavlov inspiriert, das Kind als ‚tabula rasa‘ betrachtet, das daher konditioniert werden kann (vgl. Kasten; 2009; S. 58). Dabei ist natürlich zwischen bloßen motorische Abläufen und den Wesensaspekten der Persönlichkeit zu unterscheiden. Allerdings lässt sich diese Theorie vom Lernen gut beobachten. So lernt das Kind durch Übertragung bspw. bei Impfterminen den weißen Kittel des Arztes mit der Nadel und dadurch mit Schmerz in Verbindung zu bringen. Die daraus resultierende Angst vor dem Arzt stellt ein Ergebnis klassischer Konditionierung dar (vgl. Eisenberg u.a.; 2011; S. 345).

Es ist darauf hinzuweisen, dass sowohl Misstrauen als auch Vertrauen erst im späteren Leben manifeste Auswirkungen haben. Die nach ihnen benannte Phase beschreibt vielmehr ihre Entstehung. Diese ist abhängig von der Wechselseitigkeit des Gebens und Nehmens, d.h.: von der Bereitschaft der Mutter, dem Kind die Brust zu geben und dem Annehmen dieser Bereitschaft durch das Kind, wobei ersteres kulturell geprägt ist und daher die erste Kulturprägung des Kindes darstellt (vgl. Erikson; 1993; S. 65). Hieraus lässt sich ein erstes Kriterium festlegen: die mütterliche Zuneigung und Aufmerksamkeit. Ist diese gegeben, kann von einer gesunden Entwicklung ausgegangen werden, da somit ein grundlegendes Gefühl der Sicherheit und des gut-Seins im Kind vorhanden ist. Das Fehlen dieses Gefühls würde das Aufkommen des Ur-Misstrauens zur Folge haben. Doch auch drängendes Fordern und überbehütendes Verhalten der Bezugspersonen haben negative Effekte auf die Psychogenese (vgl. KiSchZ; 2009; Seite 23). Das natürliche Explorationsverhalten des Kindes wird dadurch eingeschränkt. Es wird, bildlich gesprochen, von der übertriebenen Zuneigung gefesselt. Im FST von Ainsworth wurde dieser Zusammenhang von Bindung und Explorationsverhalten aufgezeigt, indem die Basis der sicheren Bindung als Grundlage des Forschungsdranges erkannt wurde (vgl. Lengning/ Lüpschen; 2012; S. 12).

(24)

22

Dabei ist der Forscherdrang charakteristisch für das Kleinkind. Alle Sinnesreize werden begierig aufgenommen. Schon mit vier bis sechs Monaten verfügt das Kind über eine gute Sehschärfe, ein gutes Gehör und eine ausgeprägte Wahrnehmung (vgl. Dornes; 2006; S. 58). Da diese Fähigkeit und vor allem die Bewegungsfähigkeit bis dahin gering sind, werden die ersten Erfahrungen überwiegend mit dem Mund aufgenommen, daher die Bezeichnung orale Phase in der Psychoanalyse. Erikson spricht auch von einer Einverleibungsphase, was die Art und Weise des Lernens gut umschreibt (vgl. Erikson; 1993; S. 64). An dieser Stelle sei auf den Punkt 5.2. und die von Piaget im selben Zeitraum verortete sensomotorische Phase verwiesen. Auch hier wird der Kenntnisgewinn durch das Benutzen der Sinne beschrieben.

Für Erikson besteht Klarheit über die Grundanforderungen für die Überlebens-fähigkeit des Kindes. Er versteht darunter ein Mindestmaß an Nahrung und Anregung sowie das Nicht-Überschreiten eines erträglichen Frustrationslevels (ebd.). Letzteres bezieht sich auf die begrenzte Fähigkeit des Säuglings, die auf ihn einwirkenden Informationen zu verarbeiten. Im Rahmen dieser Flut an Erfahrungen insbesondere vom sechsten bis zum zwölften Monat sieht Erikson die Krise der oralen Phase. Sie wird von drei Faktoren geprägt: der körperlichen Spannung bzw. dem Entdeckerdrang, dem Bewusstwerden seiner selbst und der Tatsache, dass die Aufmerksamkeit der Mutter nachlässt, da sie sich nun zunehmend auch anderen Dingen widmet (vgl. Erikson; 1993; S. 68).

Unter dem ersten Punkt ist das Erleben der körperlichen Entwicklung zu verstehen. Dank des koordinierten Krabbelns und der Fähigkeit sich zunächst sitzend aufzurichten entsteht ein neuer Bewegungsdrang, der durch vermehrte Wachphasen und in unangenehmer Weise auch durch das Erscheinen erster Zähne verstärkt wird (vgl. Werner; 2006; S. 14_1). Der Säugling erlernt neue Fähigkeiten und will diese so schnell wie möglich anwenden. Dies ist zugleich Ausdruck als auch Katalysator des unbändigen Wissensdranges.

In Hinblick auf den zweiten Punkt beschreibt Bischof-Köhler, dass Babys, die ein Mobile selbst bewegen können, sich länger darauf konzentrieren. Sie führt das auf eine Funktionslust und dem Ich-Bezug zurück (vgl. Bischof-Köhler; 2011; S. 147). Das Baby erlebt, dass seine Handlung Wirkung zeigt und wird sich über diesen Handlungszusammenhang seiner selbst bewusst. An dieser Stelle ließe sich auf Sartres „être et néant“ und die Zustände des präreflexiven Cogitos und des Für-Sich eingehen, was allerdings zu weit führen würde. Auch ein Zusammenhang von Eriksons Schriften

(25)

23

zum 1943 erschienenen Werk Sartres wäre Spekulation. Wenn Bischof-Köhler von der Selbstobjektivierung spricht, beschreibt sie jedenfalls ähnliche kognitive Vorgänge (vgl. ebd.; S. 148). Selbstobjektivierung umschreibt einen Vorgang, bei dem der Handelnde im Erleben der Handlung eine Vorstellung seiner Selbst erlangt. Selbst bedeutet die Idee vom Ich als Teil des Beziehungsgefüges der Welt; das Ich als durch sich selbst wahrgenommenes, handelndes Wesen. Die Erwähnung Sartres ist ein Hinweis auf die Komplexität des Vorgangs, der hier als Selbstobjektivierung genannt wurde. Gut für das Kleinkind, dass seine Frustration nicht auf diese Gedanken zurück zu führen ist.

Das dritte Kriterium der oralen Krise erläutert Erikson am Beispiel der Entwöhnung. Geschieht diese zu früh oder plötzlich, kann dieser als Liebesentzug empfundene Akt zu einer kindlichen Depression führen, die sich auf das spätere Leben auswirken kann (vgl. Erikson; 1993; S. 68). Neben dem soeben Beschriebenen lässt sich wiederholt die Feinfühligkeit als Kriterium dieser Arbeit herausstellen. Der reine Akt plötzlicher Entwöhnung würde zwar nicht als immanente KWG definiert werden, allerdings können seine psychologischen Auswirkungen schwerwiegende Folgen haben.

Eine weitere Formulierung Eriksons steht stellvertretend für seine Beobachtung des kulturellen Einflusses auf die Erziehung. Orale Prägungen drücken sich demnach in Abhängigkeitswünschen und Sehnsüchten aus, die je nach Kultur unterschiedlich anerkannt sind (vgl. ebd.; S. 70). Sein Wissen um unterschiedliche kulturelle Auffassungen und Methoden der Erziehung wird auch durch neuere Forschungen untermauert. Auch der FST zeigt in anderen Ländern z. T. stark variierende Verhältnisse der Beziehungsmuster. Das ist Ausdruck des Einflusses des Milieus und der Sozialisation, die ebenso stark kulturell determiniert ist, auf die Entwicklung (vgl. Kasten; 2009; S. 189). Im Rahmen seiner Arbeit arbeitet Erikson häufig kulturelle Unterschiede heraus, die Einfluss auf alle Entwicklungsphasen haben. Er konnte diese vergleichende Analyse erstellen, da er selbst mit indigenen Völkern, Opfern von Kriminalität und Rassismus und Unterprivilegierten arbeitete (vgl. Conzen; 1996; S. 27). Die Religion als weiterer kultureller Aspekt wird von Erikson ebenso erwähnt. Religiosität ist sowohl Teil individueller als auch gesellschaftlicher Sozialisation und kann als Ressource und Schutzfaktor dienen. Allein über die Betrachtung dieses Faktors könnte eine eigenständige Arbeit geschrieben werden.

Gewissermaßen als Fazit des ersten Abschnittes macht Erikson eine Aussage, die gleichzeitig als KWG-Bestimmungskriterium dienen kann. Für ihn ist die Herausbildung beständiger Muster, die zu einem Übergewicht des Urvertrauens

(26)

24

gegenüber dem Urmisstrauen führen, vorrangige Aufgabe der Erziehungsperson (vgl. Erikson; 1993; S. 72).

5.1.2. Autonomie gegen Scham und Zweifel

Die zweite Phase des Entwicklungsmodell Eriksons umfasst die Zeitspanne vom vollendeten ersten bis zum dritten LJ. Auf der körperlichen Ebene sind vor allem das Erlernen des Laufens, das Aufkommen der Milchzähne und das Trockenwerden charakteristisch. Kognitiv ist das Erlernen von über 200 Wörter am Ende des zweiten Lebensjahres und das Formen von 2 bis 3-Wort-Sätzen bedeutend (vgl. Kindler; 2006; S. 15_2). Beide Prozesse tragen zur weiteren Entwicklung dessen bei, was im vorhergehenden Punkt als Selbstobjektivierung bezeichnet wurde. Das Kind wird eigenständiger und ist sich auch zunehmend dessen bewusst. Es entwickelt daher zunehmend ein Selbstbewusstsein, was durch die Eltern auf einfühlsame Weise gefördert werden sollte (vgl. Berk; 1998; S. 248). Während des hier zu betrachtenden Zeitraumes macht das Kind eine Entwicklung vom noch gänzlich abhängigen Kleinkind zu einer kleinen, in vielerlei Hinsicht schon eigenständigen, Persönlichkeit durch.

Dabei ist das Kind vielen Konflikten ausgesetzt. Vor allem sind es die eigenen Triebe und Willenskräfte, die das Kind hin und wieder überwältigen können (vgl. Erikson; 1993; S. 76). Auf youtube und facebook lassen sich tausende kleiner Filme darüber finden, wie Kleinkinder vor Begeisterung fast zu platzen scheinen. Es sind anschauliche Beispiele für die beschriebene Intensität der kindlichen Emotionen, die sich körperlich ausdrücken.

Zunächst ist es aber der Prozess der Beherrschung des Muskelapperates und hier im Besonderen des Entleerungsvorgangs, der durch die Vorgänge des Festhalten und Loslassen ausgereift wird. Die verstärkte Konzentration auf die Ausscheidungsorgane führte dazu, dass die Psychoanalyse von der „analen“ Phase spricht (vgl. ebd.).

Die Erziehung zur Reinlichkeit ist für Erikson ein Vorgang, der großen Einfluss auf die Psyche hat. Er kritisiert die „Reinlichkeitsdressur“ im „Maschinenzeitalter“, die einer mechanisierte Auffassung vom Kind als etwas, das zu trainieren ist, entspringt, was er in Zusammenhang mit der psychischen Störung der Zwanghaftigkeit stellt (vgl. ebd.; S. 77). Die in den 1940’er und 1950‘er vorherrschende Theorie des Behaviorismus stellt durch ihre Konzeption eine Ursache für dieses mechanisierte Bild vom Kind dar. Wie im vorigen Punkt dargestellt, wird darin das Kind als durch Konditionierung

(27)

25

lernend dargestellt. Neuere Theorien, wie bspw. die vom Kernwissen, gehen davon aus, dass alle Kinder schon seit der Geburt über ein Grundrepertoir kognitiver Fähigkeiten verfügen (vgl. Eisenberg u.a.; 2011; S. 171). Erikson richtet seine Kritik jedoch auf die kulturell geprägte übertriebene Art und Weise der Reinlichkeitserziehung, die nur teilweise durch Theorien beeinflusst ist. Das einengende Verhalten der Eltern führt dazu, dass das Kind seinen Entdeckerdrang aus Scham und Angst vor dem Versagen auf sich selbst richtet, wodurch es zunehmend selbstkritisch wird und bspw. über detaillierte Riten Pyrrhussiege erringt, die für Erikson kindliche Muster der Zwangsneurosen darstellen (vgl. Erikson; 1993; S. 81). Dieser Punkt beschreibt sehr deutlich, wie die fehlende Feinfühligkeit langfristig gesehen eine KWG ausmacht.

Somit steht die Auseinandersetzung zwischen dem elterlichen und kindlichen Willen im Zentrum dieser Phase. Erikson sieht es als vorteilhaft an, wenn das Kind allmählich und aus eigenem Willen erlernt, den Entleerungsvorgang auszuführen. Ist der elterliche Druck zu hoch oder erfolgt die Reinlichkeitserziehung zu früh, fühlt sich das Kind im eigenen Körper und den Eltern gegenüber machtlos, wodurch es regredieren kann. Daher ist nach Erikson das Erlernen der Selbstbeherrschung ohne Verlust des Selbstgefühls, woraus ein Gefühl von Autonomie und Stolz erwächst, anzustreben (vgl. ebd.; S. 78). Es ist in dieser Phase also wichtig, das Kind nicht einzuengen und die Veränderungsprozesse geduldig zu begleiten. Die im dritten Kapitel umschriebenen Erziehungsfähigkeiten finden sich hier wieder. Feinfühligkeit ist es, was die Eltern dazu befähigt, die beschriebenen Fehler zu vermeiden. Noch wichtiger ist aber das Lob. Hierdurch kann dem Kind klar gemacht werden, dass es selbst diese Leistung vollbracht hat. Dies berücksichtigt auch die zunehmende Unterscheidung der Welt des Kindes in ich, du und mein (vgl. ebd.). In dieser Unterscheidung liegt die Wurzel einiger Konflikte, stellen sie doch auch Machtaspekte und das Prinzip der Deutungshoheit dar.

Wenn das Kind von dem (Eigen-) Nutzen einer Handlung überzeugt ist und wenn die Entscheidung zur Handlung aus ihm selbst kommt, verfolgt es diese Handlungen länger als vorgegebene Tätigkeiten (vgl. Bensel/ Haug-Schnabel; 2011; S. 22). Im Rahmen der Selbstobjektivierung während der Reinlichkeitserziehung betrifft das den eigenen Körper. Das Gefühl der Selbstkontrolle bzw. Deutungshoheit, das sich aus dem Urvertrauen der ersten Phase speist, kann sich durch ein übermäßiges Eingreifen der Eltern oder durch den Verlust der Selbstkontrolle in ein Gefühl des Zweifel und Scham wandeln (vgl. Erikson; 1993; S. 79). Scham beschreibt dabei das Gefühl des peinlichen bloßgestellt Sein.

(28)

26

Hier wird klar, wie eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung aufeinander aufbaut. Das Urvertrauen bildet die Basis der späteren Exploration, durch die Autonomie entwickelt wird. Die Eltern begleiten dabei das Kind. Ihre Aufgabe ist es durch ihr Verhalten einen Rahmen zu schaffen, in dem sich das Kind entwickeln kann (vgl. Bensel/ Haug-Schnabel; 2011; S. 7). Jede Art der Erziehung beschreibt eine Rahmung, wobei logisch ist, dass die Art und Weise stets unterschiedlich ist. Die Gründe für die Unterschiedlichkeit wurden bereits unter den Stichworten Rahmenbedingungen, Schutz- und Risikofaktoren beschrieben. Erikson deutet insbesondere auf die Sozialisation und Biografie der Eltern hin. Deren Enttäuschungen und Konflikte mit Autoritäten schlagen sich auch im Scham und Zweifel der Kinder nieder (vgl. Erikson; 1993; S. 85). Das beinhaltet auch gegenwärtige Erfahrungen der Eltern bspw. im Beruf. Daher ist es von Vorteil, wenn die Eltern in der Lage sind, diesen mitgenommenen Frust zu erkennen und zu bearbeiten und ihn nicht an den Kindern abzureagieren. Es braucht keine Statistik um zu sagen, dass das selten der Fall ist.

5.1.3. Initiative gegen Schuldgefühle

Ab dem dritten Lebensjahr tritt das Kind in eine Phase der Konsolidierung und Verfeinerung ein, in der sich u. a. die Sprache weiterentwickelt und die Grundlagen der Moral gelegt werden (vgl. Kasten; 2009; S. 174). Der Körper entwickelt sich nicht mehr so schnell, ist aber Gegenstand und Mittel der weiteren psychischen Reifung. Das bedeutet, dass das Kind ab dem ca. vierten Lebensjahr seine erweiterte Bewegungsfähigkeit, das Sprachvermögen und –verständnis und seine Vorstellungswelt nutzt, um zu entdecken, welche Person es werden will (vgl. Erikson; 1993; S. 87).

Das passiert über den Vergleich mit anderen Personen und Rollenspielen in Phantasie und Spiel. Auch wenn erst in der Beschreibung der anschließenden Phase das Spiel näher erläutert wird, ist es doch schon jetzt von großer Bedeutung für die kognitive Entwicklung. Vielmehr ist das Spiel, wenn es als Methode der Nachahmung verstanden wird, immer von enormer Bedeutung, da die Imitation als der grundlegende Weg des kindliche Lernens anzusehen ist (vgl. Bensel/ Haug-Schnabel; 2011; S. 17).

Für das Spielverhalten in der hier beschriebenen Phase ist zunächst die Tatsache, dass das Kind immer mehr zu einer konsistenten Persönlichkeit heranwächst, von Bedeutung. Aus dem Gefühl des sicheren Selbst, d. h. der Autonomie, heraus erwächst eine Initiative bzw. Tatendrang, in der sich das Kind mit Geschlechtsunterschieden,

(29)

27

sozialen Rollen, Interaktionen und einer rudimentären Genitalität beschäftigt (vgl. Erikson; 1993; S. 89). Es erforscht also mehr die Zwecke von Dingen und wie andere Personen sind. Dabei werden die beobachteten Vorgänge oftmals im Spiel ausprobiert.

Da vorrangig die Eltern beobachtet werden, sind sie es, mit denen sich das Kind identifiziert. Durch diesen Vergleich mit dem gleichgeschlechtlichen Elter und dem gleichzeitigen Erleben infantiler Sexualität, die sich auf den Elternteil des anderen Geschlechts richtet, können Grundlagen des ödipalen Komplexes gelegt werden (vgl. ebd.; S. 90). Dieser äußert sich u.a. in dem Gefühl der Unterlegenheit und Schuld gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Elter. Das Kind befindet sich demnach aus Gründen, die es selbst nicht richtig verstehen kann, in einem Dilemma zwischen Zu- und Abneigung.

Fast schon nebensächlich erwähnt Erikson, dass es der prozesshafte Charakter dieser Phase und vor allem der Schulbeginn mit seinen Sozialisationsprozessen sind, die der Vertiefung ödipaler Ängste entgegen wirken, da hier viele Wünsche und Hoffnungen verdrängt bzw. vergessen werden müssen (vgl. ebd.; S. 92). Letzteres klingt sehr nach bewussten Vorgängen. Es wäre daher besser zu sagen, dass diese Wünsche zweitrangig werden, da zunächst die neuen Umstellungen und Anpassungen in Kindergarten und Schule bewältigt werden müssen. Im Laufe der Umstellung und Konzentration auf andere Prozesse werden die Wünsche der frühen Sexualität vergessen.

Dass enorme psychische Prozesse in Gang geraten ist auch daran zu erkennen, dass beim Kind zunehmend Eifersucht, Rivalität und Überlegenheitsphantasien zu beobachten sind, deren Kontrolle durch die Entwicklung des Gewissen bzw. der Moral vonstatten geht (vgl. ebd.; S. 93-94). Die Moralentwicklung der Kinder ist ein interessanter Bereich, der im Punkt 5.3. vertieft wird. Nach Bensel und Haug-Schnabel hat das Kind schon zwischen dem vierten und fünften Lebensjahr durch das Verstehen der kulturellen Normen und die Vorbildfunktion der Eltern die Grundlagen des moralischen Wissens verinnerlicht (vgl. Bensel/ Haug-Schnabel; 2011; S. 47, 59). Logischerweise hängt es von der Erziehung ab, welche Werte vermittelt und wie stark diese ausgeprägt werden. Da durch ihr Verhalten die zukünftige Moral geprägt wird, muss das Verhalten der Eltern als Vorbilder beobachtet werden. Das trifft jedoch auch auf andere Bezugspersonen und frühere Phasen zu. Schon früher kann das Kind durch das Nachvollziehen des Verhaltens der Bezugsperson, was als joint attention

(30)

28

beschrieben wird, die Grundlagen sozialer Kompetenzen erwerben (vgl. Bischof-Köhler; 2011; S. 250).

Konsistenz und Verlässlichkeit im Verhalten der Bezugspersonen sind hier zentrale Aspekte. Wird die Moralerziehung übertrieben oder werden die Eltern beim Überschreiten ihrer eigenen Gebote ertappt, kann das in Hass auf die Eltern und starren Moralisieren resultieren (vgl. Erikson; 1993; S. 94-95). Moralisieren bezeichnet das beinahe zwanghafte, unreflektierte Wiedergeben starrer und zumeist unangemessener Regeln. Zunächst ist das beim Kind zu beobachten. Das muss nach Erikson jedoch als vorübergehende Phase verstanden werden, die durch das allmähliche Vermitteln realistischer Ziele, von Verantwortlichkeit und dem Gefühl der Teilhabe nicht in psychosomatische Krankheiten und Überkompensation ausarteten muss (vgl. ebd.; S. 96). Hier lassen sich einige Kriterien heraus ziehen, die zwar nicht unbedingt für eine KWG relevant sind aber entscheidend für die gesunde Entwicklung eines gesellschaftsfähigen Menschen. Dabei ist zu beachten, dass das Kind nicht nur die Eltern, sondern auch Lehrer, Verwandte und alle möglichen Personen als Referenzpunkte seiner Vergleiche wählen kann (vgl. ebd.).

Das Gefühl der Teilhabe ist notwendig für eine gesunde Moralentwicklung, die immer auch ein gesundes Sozialverhalten nach sich zieht. Das erfordert eine elterliche Erziehung, die es versteht, den Wissens- und Forscherdrang des Kindes mit Anerkennung und Ermutigung zu fördern und zu begleiten (vgl. Werner; 2006; S. 13_3).

5.1.4. Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl

Ab dem sechsten LJ wächst das Kind langsamer aber konstant weiter und legt dabei neben dem Kindchenschema auch die Milchzähne ab (vgl. Werner; 2006; S. 14_3). Im Bereich der Psychogenese prägt der sich schon in der vorhergehenden Phase ankündigende Lern- und Wissensdrang, den Erikson als Werksinn beschrieb, die kommenden Jahre. Die in der Psychoanalyse Latenzphase genannte Zeitspanne vom sechsten zum elften LJ entspricht der Ruhe vor dem Sturm der Pubertät, da hier die heftigen Triebe der ödipalen Wünsche in eine Lust an vollendete Arbeiten sublimiert werden (vgl. Erikson; 1993; S. 105, 103).

Die innewohnende Lust am Lernen geht praktischerweise mit dem Schulbesuch bzw. dem organisierten Wissenserwerb einher, was in allen Kulturen zu beobachten ist.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Therefore, the following statement may be accepted: the optimization of separate subsystems has to be realized with restrictions of the labor resources by separate subregions of

Gray published several lists of the turtles of the world, including a catalogue based on those in the British Museum (1844), with 42 genera and 136 species arrayed into five

First results include establishing the COSMOS chemical inventory of cos- metic ingredients and their associated chemica l structures; a new dataset for TTC analysis

*Università degli Studi di Messina.. L’Italia ha avuto infatti come dotazione di fattori che hanno accompagnato il suo sviluppo: la scarsità di risorse naturali,

Turkish Industrial Strategy Document stated that SMEs have difficulty in acquiring access to finance due to four main reasons:, problems arising from the credit limit given by

Автор полагает, что использование на данном этапе сложившихся региональных языков межкультурных коммуникаций в качестве лингва франка устойчивого

La définition des activités logistiques données par le « Council of Supply Chain Management » est la suivante : les activités logistiques consistent à réaliser

Whatever business model it may adopt, that the BRICS bank is being set up reflects not only the desire for political independence felt by large emerging economies that no