Alle befragten Gruppen (außer den Sechstklässler/inne/n) wurden gefragt, wie sinnvoll sie es finden, dass (bzw. wenn) die Verhinderung von Mobbing und Gewalt als Ziel in der Schulordnung oder im Leitbild des Schulprogramms erwähnt wird (bzw. wür- de). Insbesondere die Klassenlehrer/innen (M = 3.9, SD = 0.3) und Schulleiter/innen (M
= 3.7, SD = 0.5) bewerteten das als „sehr sinnvoll“ (auf einer fünfstufigen Antwortskala von 0 = „gar nicht sinnvoll“ bis 4 = „sehr sinnvoll“). Aber auch Elternvertreter/innen (M = 3.1, SD = 1.3) und Neunt- und Zehntklässler/innen (M = 3.0, SD = 1.2) bewerteten es als
„ziemlich sinnvoll“. Die Bewertung von Mobbing im Schulleitbild lag damit bei den Neunt- und Zehntklässler/inne/n signifikant unter denen der Klassenlehrer/innen (p < .001). In- teressanterweise sehen die Ergebnisse anders aus, wenn man fragt, wie sinnvoll sie es finden, „wenn dort auch Gewalt oder Mobbing aufgrund der (unterstellten) sexuellen Ori- entierung als Beispiel erwähnt würde, also z. B. Ausgrenzung von lesbischen oder schwulen Schulangehörigen oder die Verwendung von ‚schwul’ als Schimpfwort“. Der Einbezug von sexueller Orientierung als Mobbing-Grund wurde von den Elternvertre- ter/inne/n für „ziemlich sinnvoll“ erachtet (M = 2.7, SD = 1.3), von den Klassenleh- rer/inne/n (M = 2.4, SD = 1.4) und Neunt- und Zehntklässler/inne/n (M = 2.3, SD = 1.3) als „mittel sinnvoll“. Die Schulleiter/innen bewerten diesen Einbezug hingegen als „wenig sinnvoll“(M = 1.2, SD = 0.9) und damit signifikant geringer als alle anderen Gruppen (p <
.05).
Tabelle 16: Begriffsabfrage LSBT (Schüler/innen)
Zu 1: Sowohl Lehrkräfte als auch Schüler/innen wussten mehrheitlich, dass sexuel- le Orientierung nicht entsteht, weil man dazu von einer anderen Person verführt wurde, Kontakt mit Personen einer bestimmten sexuellen Orientierung hatte oder als Frau von Männern vergewaltigt wurde. Des weiteren wussten sie, dass die meisten Lesben und Schwulen ihre sexuelle Orientierung schon als Kind oder Jugendlicher bemerken. Aller- dings war sich eine Mehrheit der Schüler/innen nicht sicher, ob der Erziehungsstil der El- tern einen Einfluss auf die sexuelle Orientierung hat. Ob die Menge von Östrogen im Blut eines Erwachsenen mit dessen sexueller Orientierung zusammenhängt, wusste bei allen befragten Gruppen eine Mehrheit nicht zu beantworten. Besonders deutlich unterschie- den sich Lehrkräfte und Schüler/innen bei ihren Annahmen dazu, ob Lesben und Schwu- le sich ihre sexuelle Orientierung selbst ausgesucht haben. Diese Aussage wurde insbe- sondere von einer Mehrheit der Sechstklässler/innen, aber auch von einer Mehrheit der Neunt- und Zehntklässler/innen fälschlicherweise für richtig gehalten. Möglich wäre aller- dings, dass die Schüler/innen Lesbisch- oder Schwulsein nicht als inneres Erleben, son- dern als äußeres Verhalten interpretieren.
Zu 2: Eine Mehrheit aller drei befragten Gruppen lehnte korrekterweise die Annah- me ab, dass schwule Männer eher als heterosexuelle Männer dazu neigen, Kinder zu missbrauchen. Auch das transsexuelle Männer alle schwul sind, wurde von der Mehrheit nicht geglaubt. Bei den Schüler/inne/n herrschte (im Gegensatz zu den Lehrkräften) je- doch Unsicherheit darüber, ob Homosexualität auch im Tierreich verbreitet ist und ob se- xuelle Orientierung fließende Übergänge hat oder es klare Kategorien gibt. Die Sechst- klässler/innen waren sich darüber hinaus unsicher, ob die meisten Lesben und Schwulen gern dem anderen Geschlecht angehören möchten. Am höchsten war das Unwissen bei der Frage, ob bei gleichgeschlechtlichen Paaren immer einer die Männer- und einer die Frauenrolle übernimmt. Diese Frage konnte auch die Mehrheit der Lehrkräfte nicht kor- rekt beantworten.
Zu 3: Während die Mehrheit der Befragten nicht glaubte, dass Homosexualität als Krankheit definiert wird, waren sich die meisten Schüler/innen nicht sicher, ob sexuelle Identität veränderbar ist, beispielsweise durch eine Psychotherapie.
Zu 4: Bezüglich der psychosozialen Situation von Lesben und Schwulen herrschte bei allen befragten Gruppen Unsicherheit. Die Mehrheit wusste nicht, dass die Suizidrate von Lesben und Schwulen deutlich über der von Heterosexuellen liegt, dass in vielen evangelischen Kirchen lesbische oder schwule Pfarrer/innen mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin gemeinsam im Pfarrhaus leben dürfen und dass nicht fast alle Kulturen der Geschichte Homosexualität abgelehnt haben.
Tabelle 17: Wissen zu Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen (Teil 1)
Tabelle 18: Wissen zu Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen (Teil 2)
6 Ergebnisse II: Einflüsse auf die Schüler/innen
Das letzte Kapitel hat gezeigt, wie sich Schüler/innen und Lehrkräfte gegenüber LSBT verhalten, wie sie diese Gruppen bzw. den Umgang mit sexueller Vielfalt in der Schule bewerten und was sie über LSBT wissen. Dieses Kapitel wird sich mit möglichen Einflüssen auf diese Variablen befassen. Dazu wurden Mehrebenenanalysen15 mit HLM (Hierarchische Lineare Modellierung, Raudenbush, Bryk & Congdon, 2009) durchgeführt mit den beiden Analyseebenen Schüler/innen und Schulklassen. Auf der Ebene der Schüler/innen wurde deren Wissen, wahrgenommene Erwartungen durch Bezugsperso- nen, Einstellungen und Verhalten als vorherzusagende Variablen (Kriterien) einbezogen.
Als Einflussvariablen (Prädiktoren) wurde Geschlecht, türkisch-arabischer Migrationshin- tergrund16 und die in Abbildung 1 (siehe Kapitel 3.3) dargestellten vermittelnden Varia- blen einbezogen. Als Einflussvariablen auf der Ebene der Klassen wurde einbezogen, auf welche Weise Klassenlehrer/innen und andere Lehrkräfte mit sexueller Vielfalt um- gegangen sind und ob den Schüler/inne/n bekannt war, dass an ihrer Schule lesbische, schwule oder bisexuelle Lehrkräfte unterrichten. Zudem wurde analysiert, ob diese Ein- flüsse von Schule und Lehrkräften bei Mädchen und Jungen sowie bei Jugendlichen mit und ohne türkisch-arabischen Migrationshintergrund unterschiedlich wirken. Dazu wur- den die entsprechenden Interaktionen zwischen diesen Variablen in die Analysen aufge- nommen, allerdings wieder ausgeschlossen, wenn sie nicht signifikant waren (p < .10).
Ebenfalls bei Nicht-Signifikanz ausgeschlossen wurden Lehrerverhaltensweisen, die in einigen Klassen fehlende Werte aufwiesen, was die Anzahl analysierbarer Klassen redu- ziert: Bewertung von LSBT (fehlend, wenn nicht über LSBT gesprochen wurde), Lustig- machen über geschlechtsuntypisches Verhalten (fehlend, wenn geschlechtsuntypisches Verhalten nicht im Beisein der Klassenlehrer/innen auftrat), Intervention gegen Diskrimi- nierung (fehlend, wenn im Beisein der Klassenlehrer/innen keine Diskriminierung auf- trat).
Da bei einigen Variablen nicht von einem direkten, sondern von einem indirekten (bzw. vermittelten) Effekt auszugehen ist (siehe Abbildung 1), wurden die Einflussvaria- blen in zwei (siehe Tabelle 19) oder drei (siehe Tabelle 22) Stufen in die Analysen ein- bezogen. Auf Stufe 1 wurden Variablen einbezogen, die durch Schule und Lehrkräfte leicht verändert werden können, beispielsweise das Ausmaß der Thematisierung sexuel- ler Vielfalt im Unterricht. Des weiteren wurden Jahrgang, Geschlecht und Migrationshin- tergrund als nicht änderbare Schülervariablen einbezogen. Auf Stufe 2 wurden vermit-
15 Die Prädiktoren wurden jeweils um die Gesamtmittelwerte zentriert. Auf Ebene 2 wurden zur Vorhersage des Achsenabschnitts (Intercept) von Ebene 1 variable Koeffizienten (random coefficients) gewählt, für die Vorhersage der Steigungen (Slopes) feste Koeffizienten (fixed coefficients). Solange nicht von HLM auf- grund zu geringer Stichprobengröße davon abgeraten wurde, werden Effekte mit robusten Standardfeh- lern berichtet.
16 Die Türkei und die arabischen Länder waren die häufigsten Herkunftsländer von Schüler/inne/n mit Migrations- hintergrund. Zudem gab es fast keine signifikanten Zusammenhänge zwischen Migrationshintergrund aus anderen Ländern (Polen, ex-UdSSR und ex-Jugoslawien) und Verhalten, Einstellungen und Wissen zu LSBT. Aus diesen Gründen beschränken sich weitere Analysen auf den türkisch-arabischen Migrations- hintergrund.
telnde Variablen (Mediatorvariablen) einbezogen, die durch Variablen von Stufe 1 beein- flusst werden könnten und gleichzeitig selbst einen Einfluss auf Variablen von Stufe 3 oder die vorherzusagenden Variablen haben könnten, beispielsweise die Akzeptanz tra- ditioneller Geschlechterrollen oder die Wahrnehmung einer Diskriminierung aufgrund von Herkunft und Religion.