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Relevanz von Vorerfahrung mit Frühgeburtlichkeit für Entscheidungsfindungen

3.1 Autonomie und Entscheidungsfindungsprozesse in Kontext einer Frühgeburt aus

3.1.6 Relevanz von Vorerfahrung mit Frühgeburtlichkeit für Entscheidungsfindungen

Neben Männern, die erstmalig mit Entscheidungen bei einer (drohenden) Frühgeburt kon- frontiert waren, waren im Interviewsample auch Väter vertreten, die bereits ein älteres Kind hatten, das zu früh geboren worden war. Bei ihnen war die jetzige Geburtserfahrung – im positiven und auch im negativen Sinn – von den Vorerfahrungen der vorherigen Frühgeburt beeinflusst. Entsprechende Väter berichteten zwar ebenfalls von Entscheidungen, die ihnen schwergefallen seien, betonten aber auch die gute Entwicklung des vorherigen frühgebore- nen Kindes (V7, V8, V11), welche als Beweis dafür gesehen wurde, dass Dinge, die damals schwerfielen, letztendlich gut waren. Z. B. hatte ein Vater die Entscheidung, ob dem Kind Spenderblut verabreicht werden sollte, als sehr schwierig und belastend empfunden.

Wenn man jetzt Frederick sieht, wie der sich entwickelt hat, […] im Nachgang war es ein Segen, ja, dass wir das hatten. (V7.pränatal – bezieht sich auf älteres frühgeborenes Geschwisterkind, das Spenderblut erhalten hatte)

Die positive Entwicklung des ersten frühgeborenen Kindes ließ Väter die aktuelle Frühge- burt positiver erleben als die erste.

Dadurch, dass wir […] mit unserer Tochter […] positive Erfahrungen gemacht haben, dass es halt letztendlich positiv verlaufen kann, gehen wir auch etwas anders [an die aktuelle Frühgeburt] daran.

(V11.postnatal – bezieht sich auf älteres frühgeborenes Geschwisterkind)

Der Vergleich mit der Frühgeburt eines vorherigen Kindes führte in Einzelfällen dazu, dass die aktuelle Situation sogar besser bewertet wurde als die der ersten Frühgeburt.

[Wir] konnten die Kinder direkt nach der Geburt […] sehen, was halt bei Lotta auch nicht möglich war, weil die wurde sofort im Inkubator […] [auf die Intensivstation] gebracht. (V8.postnatal) Die Vorerfahrung mit einer Frühgeburt machte die Väter jedoch nicht per se optimistischer.

Einige nahmen die aktuelle Situation erneut als sehr stressig wahr (V7, V11). Trotz guter Entwicklung des ersten Frühchens kamen negative Erinnerungen und Ängste wieder hoch.

Wie es dann angefangen hat […] mit den Krankenhausaufenthalten […], kamen […] sehr intensiv die ganzen Bilder von […] der Erstgeburt wieder in den Kopf. (V7.pränatal)

Ein Vater erläuterte, er sei beim ersten Kind wegen einer Zwillingsschwangerschaft auf eine

Frühgeburt eingestellt gewesen. Durch den damaligen Tod des einen Zwillings und die Früh- geburt des anderen Zwillings sei er nun auf Komplikationen vorbereitet gewesen, die jetzige Frühgeburt habe er aber als noch schneller, früher und schockierender erlebt.

Bei der ersten Schwangerschaft hatte man sich schon darauf eingestellt, […] da es […] eine Zwillings- geburt war […]. Bei der zweiten Schwangerschaft […] war man auch schon irgendwie durch die Vor- geschichte […] drauf eingestellt, allerdings fand ich es hier noch […] schockierender, […] weil es halt sehr früh war, […] 28. Woche ist schon ein bisschen sehr, sehr bedrohlich. (V11.postnatal)

Der Tod eines Kindes (Kap. 3.5) in der früheren Schwangerschaft sorgte bei einem Vater für kontinuierliche Angst, dass erneut etwas passieren könnte.

Natürlich die Angst, […] die Kinder zu verlieren, […] da ich schon einmal […] ins Krankenhaus gerufen wurde, wo es dann hieß, […] einer ist schon mal nicht mehr da. (V11.postnatal).

Im Gegensatz dazu wurde jedoch auch erläutert, dass manche Ängste nicht mehr so ausge- prägt vorhanden seien, weil Eltern die Situation einer vorherigen Frühgeburt schon kannten.

Man kennt die Situation, […] deswegen ist es anders, […] die Sache mit dem Brutkasten oder so, das schockiert uns alles nicht mehr. (V11.postnatal)

Die momentane Situation ist halt sehr gestresst, allerdings […] kennen wir die Situation ja schon […].

Meine Frau war [vor zwei Jahren] mit Zwillingen schwanger, […] der Junge ist davon verstorben und […] das Mädchen musste […] verfrüht geholt werden. (V11.postnatal)

Erfahrungen mit einem zu früh geborenen Kind führten bei Vätern zu dem Wunsch, die mit der Frühgeburt verbundenen Belastungen dem nun erwarteten Kind ersparen zu können.

Das wollen wir eigentlich dem Zweiten jetzt ersparen […], brauchen wir […] nicht unbedingt noch mal.

(V7.pränatal)

Ein Vater schilderte, dass er beide Frühchenschwangerschaften als so belastend wahrgenom- men hat, dass er und seine Partnerin sich deshalb gegen weitere Kinder entschieden haben.

[Die Schwangerschaften waren] katastrophal, beide, so dass wir uns dafür entschieden haben, auch keine Kinder mehr zu bekommen. (V11.postnatal)

Manche zogen die Erfahrung einer früheren als Richtwert für die Bewertung der aktuellen (drohenden) Frühgeburt heran. Für sie gingen gewisse Aspekte irgendwann in Normalität über und sie gewöhnten sich an einen Alltag nach der vorherigen Frühgeburt, auch wenn diese die Eltern noch lange nach dem Krankenhausaufenthalt beeinflusst hat.

Fast ein Jahr haben wir […] ein Sauerstoffsättigungsgerät auch zu Hause verschrieben bekommen. […]

Wir haben immer dieses ‚PEEP-Ding‘ neben uns liegen […], wir kannten das gar nicht anders.

(V7.pränatal – bezieht sich auf älteres frühgeborenes Geschwisterkind)

Während Eltern nach der ersten Frühgeburt sehnsüchtig die Entlassung des Kindes aus dem Krankenhaus erwarteten, gab ein Vater nun an, schon Routine zu haben und die Situation sehr entspannt zu sehen. Der inzwischen stabile Zustand des Kindes trage dazu bei, dass der

Vater die Situation jetzt ruhiger erlebt.

Für mich ist das jetzt hier […] eigentlich […] Routine […]. [Beim ersten Kind konnte man die Entlassung aus dem Krankenhaus] kaum abwarten. […] Aber jetzt […] sehe [ich] das hier ganz entspannt. (V11.postnatal)

Manche Väter beschrieben sich aufgrund der Frühgeburt des ersten Kindes als „Experten“.

Also wir sind schon sehr gut […] ausgebildet, […] den Kleinen zu versorgen. Da sagen viele Frauen- ärzte […]: 'Sie kennen sich aber wirklich gut aus'. Wir haben auch viel durchgemacht. (V7.pränatal – bezieht sich auf älteres frühgeborenes Geschwisterkind)

Die Vorerfahrung mit einem Frühchen bringt den positiven Aspekt mit sich, dass Väter be- reits wissen, wie man ein Frühgeborenes versorgen muss und welche Entscheidungen auf sie zukommen könnten. Neben Vätern, die Erfahrung mit eigenen zu früh geborenen Kindern hatten, waren andere mit dem Thema Frühgeburtlichkeit innerhalb der weiteren Familie, dem Bekanntenkreis oder durch Medienberichte in Berührung gekommen. Ein Mann, dessen ei- gene Schwester vor einigen Jahren zu früh geboren wurde (28. oder 29. SSW), konnte sich nur noch sehr blass daran erinnern (V10). Auch wenn dieser Vater meinte, dass ihn die Früh- geburt der Schwester nicht beeinflusst habe und kein Vergleich angestellt wurde, schien ihm die Tatsache, dass die Schwester keine Folgeschäden davongetragen hatte, Mut zu machen.

Eigentlich [beeinflusst mich die Frühgeburt meiner Schwester] gar nicht. […] Man denkt sich schon, dass [es] ja schon einmal geklappt hat, warum sollte es jetzt nicht noch mal funktionieren.

(V10.postnatal)

Ein anderer Vater berichtete von einem Kind mit angeborenem Herzfehler im entfernten Bekanntenkreis. Auch wenn hier unklar war, ob es sich um eine Frühgeburt oder um ein reifgeborenes Kind handelte, zog der Vater eine Parallele zum eigenen Frühchen, da die Kin- der in beiden Fällen länger auf einer Intensivstation behandelt werden mussten.

Von meiner Schwester eine Freundin, […] die lag auch […] richtig lange im Krankenhaus […], da war dann alles Venen vertauscht und so, die mussten richtig viele OPs und das war richtig hardcore.

(V14.postnatal)

Einzelne der Befragten übten selbst einen medizinischen Beruf aus. Ihre generelle medizini- sche Vorbildung beeinflusste ihr Entscheidungsverhalten bei der Frühgeburt des eigenen Kindes jedoch kaum. Dies könnte u. a. daran liegen, dass sie als Mediziner anderer Fachrich- tungen bei ihren Entscheidungen nicht auf Spezialwissen der Neonatologie zurückgreifen konnten und deshalb vorrangig als Väter und nicht als Mediziner Entscheidungen trafen.

[Die Neonatologie] ist auch ein sehr, sehr spezielles Fach, […] ich habe von den […] meisten Sachen überhaupt keine Ahnung. […] Ich glaube, so geht es den meisten Medizinern, […] die hier Kinder haben auch, so dass man dann doch einfach nur die Rolle des Vaters oder der Mutter annimmt.

(V18.postnatal)

Ein Befragter mit medizinischem Hintergrund sah sich zwar als Vater für das Kind verant-

wortlich, wollte sich jedoch komplett auf seine Vaterrolle einlassen und medizinische Ent- scheidungen für das Kind als Patienten explizit dem medizinischen Personal überlassen.

Laborwerte sind ja das Eine und der Patient das Andere. […] Es gibt oft Laborwerte […] an der Grenze […] zu einem Krankheitsbild […] und da kreisen bei mir die Gedanken […] und auf der anderen Seite weiß ich, dass sie das im Blick haben die Ärzte und wenn es was Schlimmes zu berichten gäbe, würden sie es mir sagen. (V18.postnatal)

Für medizinische Mitentscheidungen sah sich dieser medizinisch vorgebildete Vater also erst dann verantwortlich, wenn Ärzte es von ihm einforderten.

3.2 Verantwortung, Fürsorge, Nicht-Schaden und Schuldfragen in der