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1.2 Vorüberlegungen zum Verhältnis von Lyrik und Emotionen

1.2.1 Zur Bedeutung von Emotionen für zeitgenössische Gattungskonzeptionen

Es ist bekannt, dass Emil Staigers unmittelbar nach Kriegsende in Grundbegriffe der Poetik zum Ausdruck kommendes Gattungsverständnis das Lyrische auf eine klassisch-romantische Tradition beschränkt. Die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entstandene moderne Lyrik lässt er unberücksichtigt.63 Doch auch wenn Staigers Lyrikverständnis nicht nur im Hinblick auf die

61 Darauf, dass das Gattungsverständnis der Lyrik im untersuchten Zeitraum Gegenstand vielfältiger Diskussionen war, weist auch Lampart hin. Er sieht hierin eine besondere Eignung der lyrischen Gattung als „‚Reflexionsmedium‘

der literarischen Nachkriegsmoderne“. Vgl. Lampart: Nachkriegsmoderne, S. 25.

62 Lampart erläutert diese drei Positionen – sowie diejenige Theodor W. Adornos – und ihre jeweilige Wirkung in der Auseinandersetzung zwischen Tradition und Moderne ausführlicher. Vgl. Lampart: Nachkriegsmoderne, S. 46-60. Auf seine Ausführungen sei ergänzend zu den folgenden Überlegungen verwiesen.

63 Vgl. Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. 2., erw. Aufl. Zürich 1951. Die erste Auflage hiervon erschien bereits 1946. Ähnlich äußert sich Staiger in: Emil Staiger: „Die Kunst der Interpretation“. In: Ders.: Die Kunst der

Nachkriegslyrik insgesamt als überholt gilt, muss seine Orientierung an der klassisch-romantischen Tradition als Ausdruck eines zeitgenössischen Gattungsverständnisses ernst genommen werden. Denn wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, ist es gerade eine formal traditionelle und teils subjektivistisch geprägte Lyrik, die in den späten 1940er und den 1950er Jahren Produktion und Rezeption der Gattung bestimmt. Und auch im Hinblick auf avantgardistische oder zumindest weniger traditionelle Lyrikkonzeptionen ist das Subjektivitätsparadigma der Gattung, das Staigers Überlegungen prägt, wohl mindestens als Folie von Bedeutung, vor deren Hintergrund innovativere Vorstellungen von Lyrik entwickelt werden.64

Das entscheidende gattungskonstitutive Merkmal der Lyrik stellt für Staiger zunächst der Ausdruck unmittelbar erlebter Stimmungen dar; den Wert ‚echter‘ lyrischer Dichtung mache die Einzigartigkeit des Stimmungsausdrucks aus:

Der Unerfahrene wird Gedichte immer wieder überschätzen. Er meint, so fühle er ungefähr auch;

also seien die Verse gut. Doch echte lyrische Poesie ist einzigartig, unwiederholbar. Sie schließt, ein individuum ineffabile, völlig neue, noch niemals dagewesene Stimmungen auf. Und dennoch muß sie vernehmlich sein und den Leser mit der Einsicht beglücken, daß seine Seele reicher ist, als er selber bis jetzt geahnt hat.65

Der Leser solle von der Stimmung des Gedichts unmittelbar berührt werden und sich daher möglichst ohne Distanz auf den Text einlassen.66 Auch in Staigers Konzept der (emotionalen) Berührung, die jeder guten Interpretation zugrunde liegen müsse, drückt sich aus, dass Lyrik in seinem Verständnis Emotionen sogar beim wissenschaftlich arbeitenden Interpreten hervorrufen müsse.67 Textseitige Faktoren, auf die er dabei explizit eingeht, sind der ‚innere‘ Rhythmus, der das Gedicht präge, und dessen Stil, der sich im harmonischen Zusammenspiel von Reim, Motivwahl und Idee des Gedichts ausdrücke.68 Der Lyriker dichte jedoch keinesfalls mit Blick auf eine leserseitige Wirkung seiner Lyrik, er habe aus Staigers Sicht vielmehr gar keinen direkten Einfluss auf das, was er in seiner Hingabe an eine bestimmte Stimmung schafft:

Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte. Zürich 21957, S. 9-33; hier S. 12f. Von einer „([…] sehr zu Unrecht verallgemeinerten) Bestimmung“ der Lyrik spricht schon Hugo Friedrich, wenn er Staiger auch nicht explizit nennt.

Vgl. Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart. Hamburg 1956, S. 11. Zu Staigers Orientierung an klassisch-romantischen Traditionen vgl. außerdem Bernhard Böschenstein: „Emil Staigers Grundbegriffe: ihre romantischen und klassischen Ursprünge“. In: Wilfried Barner und Christoph König (Hrsg.):

Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Frankfurt a. M. 1996, S. 268-281; Lamping: Das lyrische Gedicht, S. 57 und Lampart: Nachkriegsmoderne, S. 50f.

64 Vgl. hierzu auch ebd., S. 49. Hiltrud Gnüg sieht ein partielles Fortwirken „der Hegelschen Lyrikdefinition“ auch in Konzeptionen absoluter Lyrik in den 1950er Jahren. Hiltrud Gnüg: Entstehung und Krise lyrischer Subjektivität. Vom klassischen lyrischen Ich zur modernen Erfahrungswirklichkeit. Stuttgart 1983, S. 222f.

65 Staiger: Grundbegriffe der Poetik, S. 51f. Vgl. außerdem ebd., S. 37 und Staiger: „Kunst der Interpretation“, S. 19f.

66 Vgl. Staiger: Grundbegriffe der Poetik, S. 53.

67 Vgl. Staiger: „Kunst der Interpretation“, S. 13. Weiter heißt es: „Das Kriterium des Gefühls wird auch das Kriterium der Wissenschaftlichkeit sein.“ Zur doppelten Relevanz des Gefühls – in Bezug auf die von Staiger favorisierte Lyrik und in Bezug auf seine Herangehensweise an literarische Texte – insbesondere in „Die Kunst der Interpretation“ vgl. auch Steffen Martus: „Emil Staiger und die Emotionsgeschichte der Philologie“. In: Joachim Rickes, Volker Ladenthin und Michael Baum (Hrsg.): 1955–2005: Emil Staiger und Die Kunst der Interpretation heute.

Bern 2007 (=Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 16), S. 111-133; hier v. a. S. 114-119.

68 Vgl. Staiger: „Kunst der Interpretation“, S. 14f. und 19f.

Derselbe Abstand, der zwischen Dichtung und Hörer verschwindet, fehlt auch zwischen dem Dichter und dem, wovon er spricht. Der lyrische Dichter sagt meist ‚ich‘. Er sagt es aber anders als der Verfasser einer Selbstbiographie. Vom eigenen Leben erzählen kann man erst, wenn eine Epoche zurückliegt. Dann wird das Ich von höherer Warte aus überblickt und gestaltet. Der lyrische Dichter ‚gestaltet‘ sich so wenig, wie er sich ‚begreift‘. Die Worte ‚begreifen‘ und ‚gestalten‘

setzen ein Gegenüber voraus.69

Zwar kritisiert Staiger die Rede davon, dass lyrische Dichtung ‚subjektiv‘ sei. Er begründet seine Kritik aber – ebenso wie die Abkehr von der Trennung von Innen- und Außenwelt – damit, dass im Gedicht Subjekt und Objekt, Innen und Außen, zusammenfielen und eine Trennung deshalb gar nicht möglich sei. Entsprechend sei auch das dichtende ‚Ich‘ im oben zitierten Sinne eins mit der Stimmung, die im Gedicht ihren Ausdruck finde.70

Wolfgang Kayser distanziert sich 1948 in Das sprachliche Kunstwerk explizit von einzelnen Punkten, die Staiger als gattungskonstitutiv darstellt. ‚Subjektivität‘, verstanden als Reduktion des Lyrischen auf die Stimmung oder die Gefühle einer einzelnen Person, eventuell sogar des Dichters selbst, stellt er als überholt dar.71 Mit der Kategorie des „lyrischen Nennens“ gibt er zudem der Möglichkeit einer distanzierteren Haltung des sich ausdrückenden Subjekts zum Erlebten Raum: „[D]as Ich steht einem ‚Es‘, einem ‚Seienden‘ gegenüber, erfaßt und sagt es“.72 Gleichzeitig gibt er die Kategorien des Subjektiven und der Stimmung jedoch nicht auf. Auch für ihn ‚durchdringen‘ sich Welt und Ich im Lyrischen: „Das Seelische durchtränkt die Gegenständlichkeit, und diese verinnert sich. Die Verinnerung alles Gegenständlichen in dieser momentanen Erregung ist das Wesen des Lyrischen.“73

Wichtig für Kaysers Lyrikverständnis ist zudem der Begriff der Wahrheit, wohl verstanden als ‚Wahrhaftigkeit‘ oder ‚Authentizität des Erlebens‘, die gerade durch das „gefühlsmäßige[]

Erleben“ und dessen Nachvollzug im Gedicht erreicht werde:

Entscheidend ist, daß die ausgesprochene ‚Wahrheit‘ nicht nur als Erkenntnis formuliert und zum Erkanntwerden ausgesprochen wird, sondern daß sie zugleich aus gefühlsmäßigem Erleben kommt

69 Staiger: Grundbegriffe der Poetik, S. 55f. An anderer Stelle heißt es: „Ob aber ein Leser mitschwingt, ob er die Wahrheit einer Stimmung bestreitet, das kümmert den Lyriker selber nicht. Denn er ist einsam, weiß von keinem Publikum und dichtet für sich.“ Ebd., S. 48.

70 „Im Epischen stellt sich der Körper dar. Deshalb gehen uns im epischen Dasein die Dinge als Außenwelt auf. Im lyrischen Dasein gilt das nicht. Da gibt es noch keine Gegenstände. Weil es aber noch keine Gegenstände, noch keine Objekte gibt, gibt es hier auch noch kein Subjekt. […] Wenn lyrische Dichtung nicht objektiv ist, so darf sie darum doch nicht subjektiv heißen. Und wenn sie nicht Außenwelt darstellt, stellt sie dennoch auch keine Innenwelt dar. Sondern ‚innen‘ und ‚außen‘, ‚subjektiv‘ und ‚objektiv‘ sind in lyrischer Poesie überhaupt nicht geschieden.“

Staiger: Grundbegriffe der Poetik, S. 60f. Vgl. auch ebd., S. 63. Zu einer Diskussion des Subjektivitätsbegriffs vgl. Gnüg:

Entstehung und Krise. Zur Orientierung der Lyriktheorie an romantischen Subjektivitätsvorstellungen vgl. z. B. ebd., S. 1f.

71 Dabei scheint für ihn vor allem eine Rolle zu spielen, dass das Subjektivitätsparadigma die „Aufmerksamkeit auf das Subjekt, auf das reale Subjekt des Sprechenden vielleicht“, lenke, „das als solches überhaupt nicht zum lyrischen Werk gehört“. Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Bern, München

81962, S. 336. Vgl. hierzu auch Lampart: Nachkriegsmoderne, S. 52-54 und 129.

72 Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 339 (Hervorh. getilgt).

73 Ebd., S. 336 (Hervorh. getilgt). Im Gegensatz zum „lyrischen Nennen“ fällt diese Form des Ausdrucks wohl unter die „eigentlichste lyrische Grundhaltung“, das „liedhafte Sprechen“. Vgl. zu den drei Grundhaltungen des Lyrischen ebd.

und gefühlsmäßig erlebt werden will. Diese Wirkung nun ist möglich, weil die Wahrheit hier und jetzt erlebt und gesprochen wird.74

Mit dieser Betonung des subjektiven Erlebnisses als Ursprung des Gedichts bewegt sich Kayser ebenfalls im Rahmen eines sehr konventionellen, an der klassisch-romantischen Tradition orientierten Gattungsverständnisses.

Hugo Friedrich schließlich wendet sich 1956 in Die Struktur der modernen Lyrik im Gegensatz zu seinen Vorgängern von dieser traditionellen Lyrik ab und explizit der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen modernen Lyrik zu.75 Das an der Erlebnislyrik orientierte Subjektivitätsparadigma der Gattung lehnt er für die Beschreibung moderner Dichtung ab:

Nach einer an der romantischen Poesie abgelesenen (und sehr zu Unrecht verallgemeinerten) Bestimmung gilt Lyrik vielfach als die Sprache des Gemüts, der persönlichen Seele. Der Begriff des Gemüts deutet auf Entspannung durch Einkehr ins Vertraute, in einen seelischen Wohnraum, den auch der Einsamste mit allen teilt, die zu fühlen vermögen. Eben diese kommunikative Wohnlichkeit ist im modernen Gedicht vermieden. Es sieht ab von der Humanität im herkömmlichen Sinne, vom

‚Erlebnis‘, vom Sentiment, ja vielfach sogar vom persönlichen Ich des Dichters. Dieser ist an seinem Gebilde nicht als private Person beteiligt, sondern als dichtende Intelligenz, als Operateur der Sprache, als Künstler, der die Verwandlungsakte seiner gebieterischen Phantasie oder seiner irrealen Sehweise an einem beliebigen, in sich selbst bedeutungsarmen Stoff erprobt.76

Das traditionelle Lyrikverständnis, das bei Staiger und Kayser zum Ausdruck kommt, betrifft das, was Friedrich als „normale“ Ausprägung der Gattung darstellt.77 Moderne Lyrik weiche hiervon ab, entsprechend müssten neue Kategorien für ihre Beschreibung gefunden werden:

Das Erkennen moderner Lyrik steht vor der Aufgabe, Kategorien zu suchen, mit denen sie zu beschreiben ist. Man kann der Tatsache nicht ausweichen, und die gesamte Kritik bestätigt es, daß sich vorwiegend negative Kategorien einstellen. Entscheidend ist allerdings, daß sie nicht abwertend, sondern definitorisch angewendet werden. Ja, diese definitorische statt abwertende Verwendung ist selbst schon ein Teil des geschichtlichen Vorgangs, mit dem sich die moderne Lyrik von der älteren abgelöst hat.78

Wichtig erscheint im vorliegenden Zusammenhang zudem, was Friedrich in Bezug auf das Verhältnis moderner Lyrik zur Wirklichkeit sagt:

Wenn das moderne Gedicht Wirklichkeiten berührt – der Dinge wie des Menschen –, so behandelt es sie nicht beschreibend und nicht mit der Wärme eines vertrauten Sehens und Fühlens. Es führt sie ins Unvertraute, verfremdet sie, deformiert sie. Das Gedicht will nicht mehr an dem gemessen werden, was man gemeinhin Wirklichkeit nennt, auch wenn es sie, als Absprung für seine Freiheit, mit einigen Resten in sich aufgenommen hat.79

Diese kurzen Einblicke in prägende zeitgenössische Lyriktheorien zeigen nicht nur, dass eine kategoriale Unterscheidung zwischen Traditionalismus und Modernität lyrischer Texte in der

74 Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 337. Er bezieht sich in diesen Ausführungen auf das Gedicht „Epigram.

Respice Finem“ von Francis Quarles.

75 Vgl. hierzu Friedrich: Struktur der modernen Lyrik, S. 7f.

76 Ebd., S. 11 (Hervorh. getilgt). Vgl. hierzu auch Lampart: Nachkriegsmoderne, S. 55f.

77 Vgl. Friedrich: Struktur der modernen Lyrik, S. 12f.

78 Ebd., S. 13. An anderer Stelle spricht er von der ‚Dunkelheit‘ und ‚Rätselhaftigkeit‘ moderner Lyrik und von

„ihre[r] Neigung, sich so weit wie möglich von der Vermittlung eindeutiger Gehalte fernzuhalten“. Ebd., S. 10.

Lampart sieht hier Parallelen zu „den Qualitäten der krisenhaften Moderne-Vorstellungen […], die man von Sedlmayer und Holthusen kennt“. Vgl. Lampart: Nachkriegsmoderne, S. 55.

79 Friedrich: Struktur der modernen Lyrik, S. 11.

akademischen Diskussion Mitte des 20. Jahrhunderts durchaus relevant war, sondern auch, dass diese Unterscheidung nicht zuletzt an der jeweiligen Behandlung von subjektiven Gefühlen festgemacht wurde. Emotionen sind also zum einen in Bezug auf das Gattungsverständnis im Allgemeinen wichtig und zum anderen – zumindest bei Friedrich – auch für die literaturgeschichtliche Unterscheidung von traditioneller (klassisch-romantischer) und moderner Lyrik.