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Wissensvoraussetzungen, Schlussfolgerungen und Erwartungen des Lesers

4. Wissensvermittlung, Wissensdynamik und Wissensmanagement im Krimi- Krimi-nalroman am Beispiel von Andrea Maria Schenkels Tannöd Krimi-nalroman am Beispiel von Andrea Maria Schenkels Tannöd

4.2 Wissensbuchführung anhand einer Mikroanalyse von Tannöd

4.2.7 Wissensvoraussetzungen, Schlussfolgerungen und Erwartungen des Lesers

Im Allgemeinen gilt das Wissensmanagement als eine zentrale kommunikative Aufgabe eines Textverfassers, die er bei der Textproduktion mit sprachlichen Mitteln adäquat zu lösen hat: Da die Wissensvoraussetzungen seines Lesers in hohem Maße beeinflussen, welche Schlüsse dieser aus dem Text zieht, muss er das Wissen, die Fähigkeiten und die Interessen des Lesers antizipierend einplanen, um die im Text zu vermittelnden Informationen zweckmäßig zu ordnen und zu formu-lieren (vgl. Martinez/Scheffel 2002, 132ff.; Fritz 2008, 99ff.). Aufgrund der Textökonomie ebenso wie aufgrund der angestrebten Unterhaltungsfunktion sollte er im Prinzip das, was der Leser leicht erschließen bzw. nachvollziehen kann, lieber weglassen. Beim Romanschreiben kommt es häufig vor, dass der Autor zur Erzeugung bestimmter Wirkungen manche Informationen bewusst ausspart, von denen er annimmt, der Leser könne die Leerstellen im Text anhand seines Vorwissens und des bisher erreichten Wissensstandes selbst füllen.176 Da der Leser unbewusst davon ausgeht, einen kohäsiven und kohärenten Text vor sich zu haben, strebt er beim Textverstehen stets danach, solche Leerstellen bzw. Kohärenzlücken im Text zu überbrücken, indem er durch eigene Inferenzziehun-gen177 Zusammenhänge herzustellen und somit eine Sinnkontinuität der Textwelt178 zu schaffen versucht (vgl. Heinemann/Viehweger 1991, 73f.).

Was den Kriminalroman betrifft, verlassen sich viele Krimiautoren auf das Wissen des Lesers über die Gebrauchs- und Gestaltungstradition des stark schematisierten Texttyps und setzen die im-plizite Wissensvermittlung strategisch ein, um bestimmte Ziele zu erreichen (vgl. Abschnitt 6.4).

176 Aus kognitionspsychologischer Sicht wird eine Unterscheidung zwischen der Bedeutung („meaning“) eines Textes, die aus expliziten Textdaten besteht, und den ohne Textdaten zustande kommenden Schlussfolgerungen („inferences“) gemacht. Durch Experimente über das Verstehen narrativer Texte wurde empirisch bestätigt, dass im Gedächtnis des Lesers die explizit mitgeteilten Informationen sowie die eigenen schlussfolgernden Ergänzungen gleichermaßen in der mentalen Repräsentation der jeweiligen Geschichte gespeichert werden (vgl. Martinez/Scheffel 2002, 149f.).

177 Nach de Beaugrande/Dressler ist von „Inferenzziehungen“ („inferencing“) die Rede, „wenn eigenes Wissen hinzu-gefügt wird, um eine Textwelt zusammenzufügen“ (de Beaugrande/Dressler 1981, 8). Das heißt, der Leser „inferiert das Wissen, das nicht explizit im Text ausgedrückt ist, indem er Brücken zwischen den einzelnen Äußerungen baut und auf diese Weise Zusammenhänge zwischen Sachverhalten herstellt“ (Heinemann/Viehweger 1991, 116). Dabei beschränken sich die Inferenzziehungen keineswegs auf das logische Schlussfolgern bzw. Nachvollziehen des explizit Ausgedrück-ten. Vielmehr orientieren sie sich an Qualitäten wie etwa Präferenzen, Wertungen und Meinungen des Lesers, die in einem bestimmten Interaktionszusammenhang als bedeutsam angesehen werden (vgl. Heinemann/Viehweger 1991, 121). In den meisten Fällen werden Inferenzen um der Kohärenz willen vom Leser unbewusst eingesetzt. Dazu bemerkt Ziem: „Kohärenzlücken, die etwa im Fall indirekter Anaphora entstehen, nehmen wir in der Regel gar nicht als solche wahr, weil Inferenzbildungen gewissermaßen automatisch erfolgen“ (Ziem 2008, 338). Ausführlich zu „Inferenz“ vgl.

Heinemann/Viehweger 1991, 73f.

178 Unter „Textwelt“ versteht man die gesamte einem Text zugrunde liegende Konstellation (vgl. Vater 2005, 157).

Gattungsprägend ist vor allem eine solche strategische Anwendung zum Zweck der krimitypischen Irreführung: In diesem Fall werden die entscheidenden Informationen absichtlich lückenhaft ver-mittelt, sodass der Leser aus den betreffenden Textstellen die vom Autor intendierten Schlüsse zieht, die zunächst völlig plausibel erscheinen, aber letztendlich unzutreffend sind. Auf diese Weise wird der Leser durch eigene Schlussfolgerungen und Annahmen vorübergehend in die Irre geführt und erlebt später beim Erkennen der Pointe eine Überraschung.

Über Tannöd lässt sich sagen, dass offenkundig nicht alle Informationen im Text explizit ge-liefert werden. Vielmehr handelt es sich bei der Wissensvermittlung um eine zielgerichtete Mi-schung aus explizit vermitteltem und implizit mitgeteiltem, also vom Leser durch eigene Schlüsse erreichtem Wissen. Da Tannöd ein Krimi ohne Detektivfigur ist, die die Informationen für den Le-ser sammelt und sortiert, baut die Autorin bei der Wissensvermittlung zu einem beträchtlichen Teil auf die Schlussfolgerungen des Lesers selbst, die für ihn beim Informationsstand des jeweiligen Text-Zeitpunkts am naheliegendsten sind. Auf dieser Basis bringt der Leser nicht nur Ordnung in die aus dem Text aufgenommenen Informationen und vervollständigt sie, sondern baut darauf auch Annahmen, Deutungshypothesen und Erwartungen auf, die er eventuell zu einem späteren Text-Zeitpunkt anhand der neu gewonnenen Informationen revidieren muss. Insofern spielt die im-plizite Wissensvermittlung bei der Wissensdynamik in Tannöd eine entscheidende Rolle.

Sehen wir uns hierzu folgendes Beispiel an: Angesichts des regelmäßigen Vorkommens der in der Ich-Form gehaltenen Erzählungen unterschiedlicher Dorfbewohner kommt der Leser zu dem Schluss, dass der unbekannte Ich-Erzähler in Abschnitt 1 ihr Gesprächspartner sein muss, da sich sonst schwer erklären lässt, wer ihnen all die Fragen über den Fall stellt bzw. wie diese Erzählungen miteinander verknüpft sind. Ferner kann der Leser aufgrund seiner Kenntnisse über die Gestal-tungstradition des Kriminalromans diese Gespräche mit den Dorfbewohnern gewissermaßen als Verhöre, die krimitypischen Textbausteine zur Wissensvermittlung, auffassen und somit aufmerk-sam in ihnen nach ›clues‹ suchen. Beispielsweise kann er bei solchen „Befragungen“ bzw. „Zeu-genaussagen“ die Charakterisierung der Familie Danner sowie die Gerüchte über die In-zest-Geschichte als mögliche ›clues‹ in Bezug auf das Tatmotiv in Erwägung ziehen. Auf diese Weise spielt der Leser selbst Detektiv, indem er Wissenslücken ständig durch eigene Schlüsse auf-füllt, die Geschehnisse in chronologischer Reihenfolge (re)konstruiert und das textuelle Puzzle von Tannöd zusammensetzt. Ohne die Schlussfolgerungen bzw. Inferenzziehungen des Lesers wäre Tannöd wegen seiner besonderen Machart nicht leicht als eine zusammenhängende Geschichte bzw.

ein Krimi rezipierbar.

Das Entscheidende ist, dass sich die implizite Wissensvermittlung, die auf Schlüsse des Lesers baut, in starkem Maße vom Textverständnis sowie von der Textbewertung von Seiten des Lesers abhängt. Die Wissensvoraussetzungen des Lesers sind hierfür von ausschlaggebender Bedeutung, sodass freilich nicht alle Leser zum selben Text-Zeitpunkt denselben Wissensstand erreichen. Das Vorwissen, das ein Leser beim Textverstehen mitbringt, ist von Person zu Person unterschiedlich, deshalb kann der eine Leser zum selben Text-Zeitpunkt aufgrund seines weitergehenden Wissens auch ein weitergehendes Textverständnis haben als ein anderer Leser. In unserem Zusammenhang bedeutet dies m.E.: Je mehr Gattungskompetenz ein Leser in Bezug auf den Kriminalroman in die

Textrezeption mit einbringt, desto weniger anspruchsvoll erscheint ihm die Lektüre von Tannöd, denn die puzzleähnliche Darstellungsweise der Geschichte wirkt auf Krimikenner aufgrund der starken Vorhersehbarkeit beim Zusammensetzen des Puzzles weniger herausfordernd als auf gele-gentliche Krimileser.

Zur Veranschaulichung dieser Behauptung betrachten wir Tannöd nun so, wie es ein Leser be-trachten könnte, der häufig Krimis liest und sich mit ihnen besser auskennt als der im obigen Lese-protokoll dargestellte Leser. Bereits bei Abschnitt 2 kann er aufgrund der Gestaltungstradition des Kriminalromans (insbesondere des Thrillers, vgl. Abschnitt 2.2.2) davon ausgehen, dass es sich bei einem als Perspektivfigur auftretenden Er, dessen Identität ihm derart auffällig vorenthalten wird, um den Täter handelt. Wenn der unbekannte Mann der Täter ist, so kann der erfahrene Leser auf-grund der typischen thematischen Zusammenhänge im Kriminalroman durch die nachdrücklich am Abschnittsende vermittelte Information („Am Abend würde er erneut in den Stall gehen. [...] Dabei würde er stets darauf achten, um den Strohhaufen in der linken hinteren Ecke des Stadels einen Bo-gen zu machen“, 10) weiterhin annehmen, in dem besagten Strohhaufen im Stadel gebe es etwas Verdächtiges, ja vermutlich eine Leiche. Auf diese Weise kommt er bereits zu einer vermeintlichen Täter-Opfer-Konstellation, einer für ihn beim Stand der Informationen naheliegenden Erwartung, die aber gegebenenfalls revidierbar ist (z.B. könnte sich an einer späteren Stelle im Text herausstel-len, dass der unbekannte Er doch nicht der Täter ist, aus anderen Gründen von den Leichen weiß und daher stets einen Bogen um den Strohhaufen macht. In diesem Fall müsste der Leser aufgrund der neu gewonnenen Informationen seine Deutungshypothese revidieren).

Diese anhand der in Abschnitt 2 gelieferten Informationen erreichte Annahme kann der erfah-rene Krimileser im weiteren Erzählverlauf weiterverfolgen bzw. überprüfen, indem er gezielt nach den krimitypisch enthüllten und sprachlich markierten Detailinformationen sucht, die sich in den meisten Fällen als relevant herausstellen werden: So achtet er vor allem auf die Äußerungen am Abschnittsende, da das Abschnittsende nach dem Verzögerungsprinzip beim Wissensaufbau im Kriminalroman eine Stelle von strategischer Bedeutung ist, an der folglich meistens die wichtigen Informationen positioniert werden (vgl. Abschnitt 7.2). So fällt ihm auf der Suche nach den mög-licherweise mit dem verdächtigen Strohhaufen im Stadel zusammenhängenden Informationen sofort auf, dass am Ende der Erzählungen über Marianne (Abschnitt 4), Frau Danner (Abschnitt 18) und den alten Danner (Abschnitt 19) jeweils mitgeteilt wird, dass sie in den Stadel bzw. in den Stall ge-hen, um nach Barbara zu suchen. Da in Abschnitt 2 bereits wiederholt auf die aneinander angren-zenden Gebäude des Stalls und des Stadels aufmerksam gemacht wird, fällt es dem Leser leicht, die weit auseinander liegenden Textstellen aufeinander zu beziehen, ihren thematischen Zusammen-hang zu erschließen und somit zu dem Schluss zu kommen, dass diese Mitteilungen am Ab-schnittsende vermutlich mit dem verdächtigen Strohhaufen im Stadel in engem Zusammenhang stehen. Mit anderen Worten, er nimmt an, diese vier Figuren seien die Opfer, deren Leichen in be-sagtem Strohhaufen versteckt wurden. Diese Annahme wird durch die Schilderung in Abschnitt 12 gestützt, in der der unbekannte Er im Stadel vergeblich versucht, eine Grube auszuheben, denn al-lem Anschein nach hat er vor, dort etwas zu vergraben. Schließlich wird diese Annahme in Sterzers Erzählung (Abschnitt 22) eindeutig bestätigt, der erklärt, er habe zusammen mit Lois und Hauer in

besagtem Strohhaufen im Stadel den leblosen „Danner, die kleine Marianne, ihre Großmutter und ganz zuletzt auch noch die Barbara“ (72) blutüberströmt gefunden.

Bezüglich der Frage, ob es sich bei dem unbekannten Er in Abschnitt 2 tatsächlich wie erwar-tet um den Täter handelt, kann der Leser im Erzählverlauf aufgrund der fortgesetzten, allmählich im Roman einen eigenständigen Erzählstrang bildenden Schilderungen aus der Sicht des Unbekannten annehmen, dass dieser höchstwahrscheinlich der gesuchte Täter ist. Da beim multiperspektivischen Erzählen in Tannöd nur die Erzählungen über den unbekannten Er und den Einbrecher Mich eine Fortsetzung haben, lässt sich anhand der Menge und der damit verbundenen Nachdrücklichkeit der Wissensvermittlung vermuten, dass die beiden Figuren für den rätselhaften Fall besonders relevant sind. Außerdem wird in den weiteren Erzählungen über den Unbekannten nicht darauf eingegangen, aus welchem Grund er über den verdächtigen Strohhaufen im Stadel Bescheid weiß, der sich als Versteck der Leichen entpuppt, und stets einen Bogen um diesen macht, sodass die einzige plausible Erklärung zu sein scheint, dass es sich bei ihm um den Täter handeln muss. Hinzu kommt, dass er durch die ausführlichen Beschreibungen der Versuche, im Stadel zu graben bzw. angsterfüllt sein am Tatort hinterlassenes Taschenmesser zurückzuholen, äußerst suspekt erscheint, ebenso wie durch seine Alpträume, in denen „das Mädchen“ und „der kleine Junge“ (79) tot auf dem Bett liegen.

Denn generell gehören thematische Textbausteine wie das Vertuschen von möglichen Spuren, Angst vor Entdeckung und durch Alpträume von Mordopfern angedeutete Gewissensbisse zu typischen thematischen Aspekten in Bezug auf den Täter. Deshalb ist der Leser zunehmend überzeugt von seiner anfänglichen Annahme, der mehrmals als Perspektivfigur auftretende Unbekannte sei der Täter. Demzufolge bedeutet für ihn der entscheidende Zuordnungsakt in Abschnitt 28, bei dem Hauer eindeutig als der Unbekannte identifiziert wird, dass Hauer der gesuchte Täter ist, was sich später ja auch als zutreffend erweist, sodass für ihn die Hauptfrage nach dem Täter geklärt ist.

Es wurde deutlich, wie ein gattungskundiger Krimileser bereits in Abschnitt 2 eine vermutete Täter-Opfer-Konstellation als Wissensrahmen bzw. Deutungshypothese des in Abschnitt 1 erwähn-ten, und im bevorstehenden Text zu erläuternden Mordfalls annehmen kann. Ausgehend davon kann er bereits zu frühen Text-Zeitpunkten anhand diverser Vermutungen und Deutungen erschließen, wie die erzählten Geschehnisse ins Bild passen könnten – er ist somit in der Lage, die meisten Antworten selbst zu finden. Dies führt dazu, dass derselbe Krimi von Krimikennern und Nicht-Krimikennern völlig unterschiedlich rezipiert und bewertet werden kann.

Somit wird erkennbar, dass das Vorwissen des Lesers, vor allem aber seine Kenntnis über die Gestaltungstradition des Kriminalromans, bei der Wissenserschließung eine entscheidende Rolle spielt: In Form von Erwartungen in Bezug auf die Aufnahme der Textinformationen bildet es einen Wissensrahmen als Grundlage des Verstehens. Daher muss ein Krimiautor, wenn ihm daran gelegen ist, bei einem möglichst großen Publikum Anklang zu finden, die Wissensvoraussetzungen, Schlussfolgerungen und Erwartungen seiner intendierten Leser genau einschätzen und die sprachli-chen bzw. textuellen Verfahren des Wissensmanagements dementspresprachli-chend auswählen.

Die in der obigen Mikroanalyse untersuchten Gesichtspunkte in Bezug auf die Wissensver-mittlung, die Wissensdynamik und das Wissensmanagement lassen sich nicht nur in Tannöd im Speziellen beobachten, sondern sind insgesamt charakteristisch für den Texttyp ‚Kriminalroman‘.

Besonders interessant für unsere Studie sind die Spielarten, mit denen diese Gesichtspunkte in der Praxis strategisch umgesetzt werden, sowie die Formen der sprachlichen Realisation, auf die wir in den folgenden Kapiteln noch genauer eingehen werden.

Nach der obigen Wissensbuchführung anhand eines Leseprotokolls und einer Mikroanalyse wollen wir nun überlegen, welche Vor- und Nachteile das Wissensmanagement in Tannöd mit sich bringt.

Es scheint der Autorin vor allem darum zu gehen, in ihrem Krimi das Prinzip der Originalität um-zusetzen: Indem sie sich zielgerichtet für das oben dargestellte Wissensmanagement entscheidet, gelingt es ihr, auf den Einsatz der Detektivfigur, die im Allgemeinen als unentbehrlich für den Kri-minalroman gilt, gänzlich zu verzichten und die Geschichte trotzdem in zusammenhängender Weise darzustellen. Dies ist eine Leistung, die bisher nur sehr wenige außerordentlich einfallsreiche Kri-miautoren überzeugend und mit Erfolg vollbracht haben.179 Zudem ist die hierfür ausgewählte, puzzleähnliche Struktur der Geschichte, die aus einer kollektiven Perspektive heraus erzählt wird, die beinahe das ganze Figurenensemble umfasst, sehr originell.180 Vor allem zeigt die Autorin sprachliche Kreativität, indem sie die siebzehn in Form einer Ich-Erzählung gestalteten Aussagen der Dorfbewohner jeweils mit einer farbigen Erzählersprache ausstattet, die für die betreffende er-zählende Figur charakteristisch ist, und sie somit in lebendiger Weise präsentiert.

Der Leser ist also aufgefordert, selbst Detektiv zu spielen, die möglichen ›clues‹ aus diversen Zeugenaussagen aufzunehmen, stets nach den im Kriminalroman etablierten rezeptionssteuernden sprachlichen Signale zu suchen und das Mosaikbild zusammenzusetzen, um eine kohärente Textwelt zu (re-)konstruieren und das Mordrätsel zu lösen. Die aktive Teilnahme an der Auflösung des Falls und das damit verbundene hohe Aufmerksamkeitsniveau lösen bei der Lektüre von Tannöd beim Leser eine eigentümliche Spannung aus.

Als Kehrseite der oben aufgeführten Aspekte bringt das Wissensmanagement in Tannöd jedoch auch bestimmte Nachteile mit sich. Zunächst bedeutet das Fehlen der Detektivfigur (bzw. mehrerer Ermittlungspersonen), dass der Täter keinen Gegenspieler hat und folglich die krimitypische Span-nung aus dem Katz-und-Maus-Spiel zwischen Täter und Detektiv in Tannöd nicht vorhanden ist.

Dies führt auch dazu, dass das Romanende, nämlich der angedeutete Selbstmord des Täters, auf den Leser wenig plausibel wirken kann, da der Stand der polizeilichen Ermittlungen nach dem Zei-tungsbericht „Von den Tätern fehlt jedoch jede Spur“ (104) lautet und somit die Existenz des Täters

179 Das Paradebeispiel für einen Kriminalroman ohne Detektiv ist Agatha Christies Krimi And Then There Were None (dt.: Und dann gabs keines mehr), der zu ihren besten Werken zählt. Darin wird geschildert, wie zehn Personen auf ei-ner abgeschiedenen Insel (also in einem überdimensionalen ›locked room‹) zusammen kommen und eine nach der an-deren umgebracht werden, bis die ratlose Polizei schließlich zehn Leichen vorfindet. Dementsprechend sind alle zehn Figuren gleichzeitig potentielle Opfer, Ermittlungsteilnehmer und Verdächtige, denn der Täter muss einer von ihnen sein. Da im Erzählverlauf die detektivischen Aktivitäten auf die noch nicht ermordeten Figuren verteilt sind, wird die Funktion des Detektivs als Leiter der Ermittlung problemlos ersetzt. Ulrich Suerbaum bezeichnet das Buch als einen Triumph der Konstruktionskunst und „ein Musterbeispiel für die Grundstrukturen des Krimis mit Ausnahme der Detek-tivfigur“ (Suerbaum 1984, 100).

180 Da sich die perspektivische Beschränkung auf eine einzige Figur konzentrieren (Monoperspektive), auf mehrere Figuren erstrecken (Polyperspektive oder Multiperspektive) oder sogar eine ganze Gruppe von Figuren (kollektive Per-spektive) umfassen kann (mehr dazu vgl. Freudenberg 1992a, 105ff; Freudenberg 1992b, 165ff.), beeinflusst die Ent-scheidung des Autors in Bezug auf den Numerus der Erzählperspektiven in starkem Maße die lokale Wissensvermitt-lung bzw. das globale Wissensmanagement im Text.

in keiner Weise bedroht ist.

Außerdem hat der Einsatz der Erzählweise in einer kollektiven Perspektive181 zur Folge, dass das Figurenensemble einer Statisterie ähnelt: Wegen der spärlichen Figurencharakterisierung sind alle Figuren klischeehafte „flat characters“,182 und keine wird so lebendig bzw. sympathisch darge-stellt, dass sie dem Leser am Herzen liegt. Aufgrund dieser Machart tritt der Sympathie-Effekt, d.h.

die Tatsache, dass sich der Leser mit der Figur identifiziert und infolgedessen betroffen und ge-spannt weiterliest, nicht ein, obwohl die emotionalen bzw. evaluativen Komponenten beim Roman-lesen normalerweise eine zentrale Rolle spielen und insbesondere die Figurencharakterisierung für die Spannungserzeugung im Kriminalroman sonst eine prägende Bedeutung hat.

Es wird deutlich, dass es bei Vertextungsentscheidungen in Bezug auf das Wissensmanagement im Kriminalroman keine perfekte Lösung gibt. Vielmehr muss der Krimiautor entsprechend den Zielen, die er für vorrangig hält, geeignete Strategien anwenden: So hat die Autorin Andrea Maria Schenkel sich mit ihrem Wissensmanagement in Tannöd für das Prinzip der Originalität entschieden und infolgedessen 2007 den ersten Platz beim Deutschen Krimipreis belegt.