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Wissensbuchführung anhand eines Leseprotokolls von Tannöd

4. Wissensvermittlung, Wissensdynamik und Wissensmanagement im Krimi- Krimi-nalroman am Beispiel von Andrea Maria Schenkels Tannöd Krimi-nalroman am Beispiel von Andrea Maria Schenkels Tannöd

4.1 Wissensbuchführung anhand eines Leseprotokolls von Tannöd

Die Gestaltung von Andrea Maria Schenkels Tannöd, einem Kriminalroman ohne Detektiv, ist ei-nem Puzzle bzw. textuellen Mosaikbild ähnlich. Sehen wir uns nun das folgende Leseprotokoll von Tannöd an, mit dem dokumentiert wird, wie sich der Informationsstand im Erzählverlauf schritt-weise von Abschnitt zu Abschnitt verändert.173 Da die Abschnitte im Roman Tannöd, der

173 Um die folgende Wissensbuchführung anhand des Leseprotokolls zu vereinfachen und somit die wesentlichen Ver-änderungen des Wissensstands von Abschnitt zu Abschnitt deutlich zu machen, lassen wir bewusst die in Tannöd ent-haltenen Zitate aus Myrtenkranz! Ein geistlicher Brautführer und Andachtsbuch für die christliche Frau (Kevelaer 1922, S. 7f., 17, 31, 50f., 77, 88, 125) außer Acht, die keinen wesentlichen thematischen Zusammenhang mit den erzählten Ereignissen zeigen. Um unsere Beobachtungen auf das Wissensmanagement bzw. die Wissensdynamik im Text zu kon-zentrieren, werden hier die paratextlichen bzw. außertextlichen Wissensressourcen (z.B. der Klappentext, Buchrezensi-onen usw.) ebenfalls nicht berücksichtigt.

weile in unterschiedlichen Ausgaben vorliegt, nicht nummeriert sind und viele von ihnen keine Ab-schnittsüberschriften haben, wollen wir um der Klarheit willen die Abschnitte mit fortlaufenden Nummern versehen, die Seitenzahl in der für diese Arbeit verwendeten Ausgabe (2008, Edition Nautilus, 21. Auflage) angeben und die Abschnittsüberschriften bzw. (für die Abschnitte ohne Überschriften) die Worte am Abschnittsanfang hinzufügen. Zu jedem Eintrag gehören sowohl eine Kurzcharakteristik des Abschnitts als auch eine Erläuterung wichtiger Elemente der Wissensdyna-mik aus der Sicht des Lesers, mit der dargestellt wird, zu welchem Text-Zeitpunkt er möglicher-weise wovon wissen kann und warum.

Ein Leseprotokoll von Tannöd

Abschnitt 1 (S. 5, Den ersten Sommer nach Kriegsende):

Ein unbekannter Ich-Erzähler (oder eine Ich-Erzählerin) berichtet, wie er in der Zeitung von einem für ihn mit glücklichen Erinnerungen verbundenen Dorf gelesen hat, das ihm nach Kriegsende wie eine Insel des Friedens erschien und nun als Morddorf bezeichnet wird, weshalb er dorthin gefahren ist und sich mit vielen Dorfbewohnern über das Verbrechen unterhalten hat („Die, die ich dort traf, wollten mir von dem Verbrechen erzählen“, 5).

Als Texteröffnung löst die knappe Erzählung bereits viele Neugier erweckende Fragen im Le-ser aus, z.B. wer ist dieses Ich? Auch der Äußerungszeitpunkt des Ich-Erzählers, nämlich einige Jahre nach Kriegsende, wirft die zwingende Frage auf, von welchem Krieg die Rede ist. Vor allem erscheint der Ausdruck Morddorf erklärungsbedürftig: Welches Dorf? Was für ein Mord? Wer wur-de ermorwur-det? Wer im Dorf erzählt wur-dem Ich-Erzähler davon und was genau erzählt er? So wird die Erwartung beim Leser ausgelöst, dass die durch eine solcherart auffallend unvollständige Wissens-vermittlung erzeugten Wissenslücken früher oder später im Erzählverlauf gefüllt werden. Wichtig ist auch, dass durch die Wörter Morddorf, Verbrechen und Tat die kriminalromangerechten thema-tischen Erwartungen des Lesers aufgebaut werden, wozu etwa die klassische einheitsstiftende, spannungserzeugende Hauptfrage „Whodunit“ gehört, die als Relevanzfilter fungiert und dem Leser deutlich macht, welche Textinformationen hochbedeutend und welche nebensächlich sind.

Abschnitt 2 (S. 9-10, Am frühen Morgen):

Aus der Perspektive eines unbekannten Mannes, auf den stets durch das Pronomen er Bezug ge-nommen wird, wird geschildert, wie er die Arbeit im Stall erledigt.

In diesem Abschnitt wird zunächst die Frage aufgeworfen, wer dieser als Perspektivfigur auf-tretende Mann ist. Aufgrund der Äußerung „Er kennt diese Arbeit schon sein ganzes Leben“ (9) lässt sich vermuten, dass er ein Bauer ist. Allerdings wirkt seine geübte Arbeit im Stall durch die Worte „Die Tiere sind es nicht gewöhnt, von ihm gemolken zu werden. Doch seine Befürchtungen, dass das eine oder andere Tier sich nicht von ihm melken lassen würde, waren umsonst gewesen“ (9) und „Den Inhalt der Milchkanne schüttet er auf den Mist“ (10) sehr merkwürdig auf den Leser.

Dieser Eindruck wird auch noch durch die Beschreibung, dass der Hund „sich bei seinem Kommen stets winselnd in die Ecke verkriecht“ (10), so verstärkt, dass der Leser sich fragt: Warum versorgt

der Mann die Tiere im Stall, die ihm offenbar nicht gehören? Wer ist der Besitzer der Tiere und wa-rum erledigt dieser nicht selbst die Arbeit? Wawa-rum hat der Hund Angst vor dem Unbekannten? Wo befindet sich der Mann eigentlich? Viele Fragen, die eine Antwort verlangen.

Außerdem ist auffällig, dass in diesem Abschnitt mehrmals von dem Stall und dem angren-zenden Stadel die Rede ist. Der Leser vermutet, dass die beiden Orte deshalb so häufig erwähnt werden, weil sie von großer Bedeutung sind. Besonders erklärungsbedürftig erscheinen ihm die Äußerungen am Ende des Abschnitts: „Am Abend würde er erneut in den Stall gehen. [...] Dabei würde er stets darauf achten, um den Strohhaufen in der linken hinteren Ecke des Stadels einen Bo-gen zu machen“ (10). Die nachdrückliche Präsentation dieser rätselhaften Informationen am Ab-schnittsende ruft die zwingenden Fragen nach dem Warum und dem Was hervor (Warum muss er einen Bogen machen? Was befindet sich unter dem Strohhaufen im Stadel?), die den Leser neugie-rig machen.

Abschnitt 3 (S. 11-13, Betty, 8 Jahre):

In der Ich-Form erzählt die 8-jährige Betty, dass ihre beste Freundin Marianne weder am Samstag in der Schule noch am Sonntag in der Kirche gewesen sei. Auch Mariannes Familie sei nicht in der Kirche gewesen.

Wem erzählt Betty das? Im Zusammenhang mit Abschnitt 1 scheint es naheliegend, dass Betty mit dem Ich-Erzähler aus Abschnitt 1 spricht. Trifft diese Annahme zu, gehört Betty zu den Dorf-bewohnern, die ihm „von dem Verbrechen erzählen“ (5). Zudem gewinnt der Leser durch Bettys Erzählung den Eindruck, dass der kleinen Marianne und ihrer Familie (Betty redet von Mariannes kleinem Bruder, ihrer Mutter und dem Großvater) womöglich etwas zugestoßen ist. Dieser Ein-druck steht im Einklang mit der Annahme, Betty erzähle dem Ich-Erzähler aus Abschnitt 1 von dem Verbrechen. In dem Fall steht zu vermuten, dass Marianne und ihre Familie besagtem Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Der Leser zieht also seine ersten Schlüsse, die zu diesem Zeitpunkt noch Vermutungen sind, und die er von nun an weiterzuverfolgen bzw. zu überprüfen hat.

Darüber hinaus wird die in Abschnitt 1 aufgeworfene Frage, nach welchem Krieg das Gesche-hen stattfindet, durch Bettys Äußerung „Meine Tante arbeitet nämlich bei den Amis und ab und zu bringt sie Kaugummi und Schokolade und Erdnussbutter mit“ (11) beantwortet: einige Jahre nach dem zweiten Weltkrieg. Dadurch wird an dieser Stelle die Zeitangabe näher bestimmt.

Abschnitt 4 (S. 14-16, Marianne liegt wach):

Aus Mariannes Perspektive wird im epischen Präsens erzählt, wie sie nicht einschlafen kann und nach ihrer Mutter sucht. Da sie niemanden im Haus finden kann und keine Antwort auf ihre Rufe bekommt, sucht sie vergeblich im Stall und geht schließlich in den Stadel, dessen Tür offen steht.

Der Abschnitt endet mit den Worten: „An der Tür bleibt sie erneut unschlüssig stehen. Keinen Laut vernimmt sie aus dem Dunkel. Sie atmet tief durch und geht hinein“ (16).

In diesem Abschnitt wird Mariannes Großmutter eingeführt. Nun weiß der Leser, dass Mari-annes Familie aus Marianne, ihrem kleinen Bruder, der Mutter und den Großeltern besteht. Bedenkt man Bettys Aussage, am Samstag sei Marianne nicht in der Schule und die ganze Familie am

Sonn-tag nicht in der Kirche gewesen, fragt sich der Leser notwendigerweise, in welcher zeitlichen Rela-tion das hier erzählte Ereignis zu den von Betty genannten Zeitpunkten steht, und was geschah, nachdem Marianne in den Stadel ging. Besonders auffällig ist, dass hier genau wie in Abschnitt 2 mehrfach von Stadel und Stall die Rede ist. Dadurch wird die zuvor erreichte Annahme, die beiden Orte seien vermutlich von großer Bedeutung, noch verstärkt.

Abschnitt 5 (S. 18-19, Babette Kirchmeier, Beamtenwitwe, 86 Jahre):

In der Ich-Form erzählt die alte Frau Kirchmeier von Marie, die früher bei ihr als Haushaltshilfe beschäftigt war und jetzt anscheinend irgendwo eine Stelle als Magd hat. Am Ende fragt die alte Frau, deren Senilität durch ständige Wiederholungen von bereits Gesagtem bzw. Vergessen der ge-stellten Fragen deutlich wird, was Marie jetzt macht und warum sie nicht bei ihrer Schwester ist.

Da die alte Frau sehr häufig ihren Gesprächspartner direkt anspricht, wird die Existenz einer Fragen stellenden Person auf der Textoberfläche sichtbar gemacht, etwa durch Äußerungen wie „Äh, was haben Sie mich gefragt, jetzt hab ich es ganz vergessen“, „lassen Sie mich nachdenken“, „Wis-sen S’“, „Sie wis„Wis-sen ja“ (19). Dem Leser erscheint es naheliegend, dass diese Person der unbekannte Ich-Erzähler in Abschnitt 1 ist, der ja im Morddorf mit vielen Dorfbewohnern über das Verbrechen spricht. Angesichts der Ähnlichkeit hinsichtlich der textuellen Gestaltung zwischen den Erzählun-gen von Betty und Frau Kirchmeier (insbesondere die Form der Ich-Erzählung, die kurze Angabe zur Person als Überschrift des Abschnittes) kommt man leicht zu der Annahme, dass die beiden von derselben Person befragt werden. Wenn der Leser davon ausgeht, dass dies der Fall ist, entsteht bei ihm außerdem der Verdacht, dass Marie in engem Zusammenhang mit dem Fall steht. Der diesbe-zügliche Erklärungsbedarf wird auch noch durch die von der alten Frau direkt geäußerten Fragen

„Was macht die jetzt eigentlich? Ist die nicht bei ihrer Schwester?“ (19) hervorgehoben, sodass der Leser von nun an gezielt nach weiteren relevanten Informationen suchen wird.

Abschnitt 6 (S. 20, Der Winter will):

In der dritten Person wird erzählt, wie an einem Freitagnachmittag im März zwei Frauen (die eine schiebt ein Fahrrad, die andere trägt einen Rucksack) einen Bauer nach dem Weg zum Hof der Fa-milie Danner in Tannöd fragen.

Zwar ist dem Leser noch unklar, wer die beiden Frauen sind, aber da er davon ausgeht, dass irrelevanten Informationen kein Abschnitt gewidmet würde, nimmt er an, dass das hier erzählte Er-eignis irgendwie mit den bisher mitgeteilten ErEr-eignissen zusammenhängt. Daher vermutet er, von den aufeinanderfolgenden Wochentagen bestärkt, dass der Zeitpunkt des Ereignisses am Freitag-nachmittag kurz vor dem Samstagmorgen liegt, an dem Marianne nach Bettys Angabe in der Schule gefehlt hat, und an dem scheinbar zum ersten Mal bemerkt wird, dass etwas geschehen ist. Ferner keimt im Leser der Verdacht, dass es sich bei den Danners vermutlich um Mariannes Familie und bei Tannöd um das Morddorf handelt – wieder, weil er davon ausgeht, dass für einen Tathergang irrelevante Informationen in einem Kriminalroman nicht diesen Raum finden würden. Diese An-nahmen hat der Leser bei seiner weiteren Lektüre zu überprüfen.

Abschnitt 7 (S. 21-26, Traudl Krieger, Schwester der Magd Marie, 36 Jahre):

In der Ich-Form schildert Maries Schwester Traudl, wie sie Marie am Freitagnachmittag zur Familie Danner in Tannöd begleitet hat, wo Marie eine Stelle als Magd antreten sollte: Auf dem Weg trug sie Maries Rucksack, während Marie das Fahrrad mit einer Tasche auf dem Gepäckträger schob. Da die beiden sich verlaufen hatten, mussten sie jemanden nach dem Weg fragen. Bei den Danners lernte Traudl Frau Danner („die alte Dannerin“, 24), einen 2-jährigen Jungen und Frau Danners Tochter kennen, die ihr alle unsympathisch waren. Kurz danach verabschiedete sie sich von Marie und fuhr mit dem Fahrrad nach Hause.

Aufgrund der Übereinstimmung der Zeitangabe, der Personen (zwei Frauen) und der Art des Sachverhalts (sie erkundigen sich nach dem Weg zur Familie Danner in Tannöd) geht der Leser nun davon aus, dass es sich bei den Frauen im vorigen Abschnitt um Marie und Traudl handelt. Auch Traudls Beschreibung der alten Frau Danner, ihrer Tochter und des kleinen Jungen passt zu den bis-lang gewonnenen Informationen über Mariannes Familie, sodass eine Referenzidentität naheliegt.

Da Traudl davon erzählt, dass Marie früher eine Stelle bei Frau Babette Kirchmeier hatte, wird außerdem deutlich, dass in diesem Abschnitt von derselben Person die Rede ist wie in Abschnitt 5.

Was den Leser allerdings stutzig macht, ist, dass Traudl im Gegensatz zu Frau Kirchmeier in der Vergangenheitsform über Marie redet („Die Marie war eine gute Haut, wissen Sie. Eine richtig gute Haut, die konnte wirklich hinlangen und arbeitete gern, aber sie war auch sehr einfältig“, 23). Zu-dem bemerkt sie im Nachhinein über den geschilderten Weg zum Hof der Familie Danner: „Immer denk ich, wir hätten bei diesem Wetter nicht gehen sollen. Alles wäre jetzt anders, alles“ (24). Mit der Irrealis-Verwendung des Konjunktivs II drückt sie Gewissensbisse aus, sodass der Leser an-nimmt, dass Marie bei den Danners ein tragisches Schicksal erlitten hat. Daher vermutet der Leser, dass auch Traudl zu den Dorfbewohnern gehört, die mit dem unbekannten Ich-Erzähler aus Ab-schnitt 1 über das Verbrechen reden, und dass Marie in dieses Verbrechen verwickelt ist.

Abschnitt 8 (S. 27-30, Marie geht gleich):

Aus Maries Perspektive wird im epischen Präsens erzählt, wie sie sich am Tag ihrer Ankunft nach dem Abendessen mit der Familie Danner in ihrer Kammer einrichtet und über ihr Leben nachdenkt.

Aus ihrer Sicht werden nun alle Mitglieder der Familie Danner eingeführt und näher charakterisiert, die offenkundig mit Mariannes Familie, wie sie in Abschnitt 3, 4 und 7 vorgestellt wurde, überein-stimmen. Der Abschnitt endet mit den Worten: „Die Tür steht leicht offen. Marie will sie schließen.

Da bemerkt sie, wie sich die Tür langsam, knarrend immer mehr öffnet. [...] Steif und starr bleibt sie einfach nur stehen. Den Blick auf die Tür gerichtet. Bis sie ohne ein Wort, ohne eine Silbe von der Wucht des Schlages zu Boden fällt“ (30). Da im vorigen Abschnitt Traudl in der Vergangen-heitsform über Marie redet und hier am Abschnittsende offensichtlich eine Gewalttat beschrieben wird, zieht der Leser den Schluss, dass Marie ermordet wurde. Da der Leser in Abschnitt 7 bereits erfahren hat, dass Marie an einem Freitag bei den Danners ankam, weiß er nun auch, dass der Mord an einem Freitagabend geschah.

Abschnitt 9 (S. 32-33, Am Morgen steht er):

Im epischen Präsens wird erzählt, wie ein unbekannter Mann, auf den stets durch das Pronomen er referiert wird, an einem Wintermorgen in der Küche frühstückt. Aufgrund der Beschreibung einer ähnlichen Szene (es handelt sich in beiden Fällen um eine Hof-Szene am Morgen, in diesem Ab-schnitt finden sich die Worte „Der Hof ist mittlerweile erwacht und er geht seinem Tagwerk nach“, 32) geht der Leser davon aus, dass an dieser Stelle erneut auf den unbekannten Mann in Abschnitt 2 Bezug genommen wird. Bis auf die Identität des unbekannten Ich-Erzählers in Abschnitt 1 werden in den anderen Abschnitten die Identitäten der befragten Dorfbewohner bzw. der jeweiligen Per-spektivfiguren stets eindeutig angegeben, auch dies lässt den Leser vermuten, dass hier von dem unbekannten Er in Abschnitt 2 weitererzählt wird.

Abschnitt 10 (S. 34-35, Hermann Müllner, Lehrer, 35 Jahre):

In der Ich-Form erzählt Mariannes Lehrer Hermann Müllner, Marianne habe damals seit Samstag unentschuldigt gefehlt. Beachtenswert ist, dass er in der Vergangenheitsform über sie redet, z.B.

„Die kleine Maria-Anna, wie sie eigentlich hieß, war in meiner Klasse. Sie war eine ruhige Schüle-rin“ (34). Infolgedessen entsteht beim Leser der Verdacht, Marianne sei etwas Schlimmes zugesto-ßen. Zudem wird beim Leser aufgrund von Müllners Bemerkung, dass er eigentlich vorgehabt hatte, wegen Mariannes Fehlen am Dienstag zum Hof ihrer Großeltern nach Tannöd zu fahren, der Schluss bestätigt, dass es sich bei den Danners in Tannöd höchstwahrscheinlich um Mariannes Fa-milie handelt. Auch die im Konjunktiv II stehende Bemerkung am Abschnittsende „Seitdem zer-breche ich mir den Kopf, ob ich vielleicht eher hätte rausfahren sollen. Aber hätte dies der kleinen Maria-Anna geholfen? Ich weiß es nicht“ (35) dient als Hinweis, dass Müllner bereits über den Grund von Mariannes Fehlen Bescheid weiß und sich im Nachhinein darüber äußert. Darüber hin-aus lässt sich an der den vorhin-ausgehenden Abschnitten ähnlichen textuellen Gestaltung sowie an den dem Gesprächspartner geltenden Äußerungen wie „Ich werde Ihnen nicht viel weiterhelfen können“,

„Ansonsten ist mir nichts aufgefallen“ (34) erkennen, dass es sich bei Müllners Erzählung wieder um eine Befragung handelt (und zwar bisher die vierte nach denen mit Betty, Frau Kirchmeier und Traudl), die vermutlich von dem unbekannten Ich-Erzähler in Abschnitt 1 durchgeführt wird, um mehr über den Mord in dem Morddorf in Erfahrung zu bringen.

Abschnitt 11 (S. 36-37, Ludwig Eibl, Postschaffner, 32 Jahre):

In der Ich-Form berichtet der Postbote Ludwig Eibl, er habe am Montag die Post zum Hof der Fa-milie Danner gebracht, es sei aber keiner da gewesen. Er spricht über die Danners in der Vergan-genheitsform („Der alte Danner war ein misstrauischer Mensch. Ein Eigenbrötler. Seine Frau, die Dannerin, war auch nicht anders“, 36f.) und beschreibt Danner, seine Frau und seine schöne Toch-ter Barbara Spangler als höchst unsympathische Menschen. Darüber hinaus erwähnt der Postbote Gerüchte darüber, dass die beiden Kinder aus der inzestuösen Beziehung zwischen Danner und sei-ner Tochter Barbara stammten. Allerdings äußert er sich abschätzig über die Gerüchte („Wer kennt die nicht, und als Postbote erfährt man ja so einiges, aber wenn einer immer alles glauben müsst“, 37), sodass die Gewissheit der soeben eingeführten Inzest-Geschichte wegen der betont als

unzu-verlässig gekennzeichneten Informationsquellen in Frage gestellt wird und somit beim Leser dies-bezüglich eine weitere offene Frage entsteht.

Dass es sich auch bei dieser Erzählung um eine Befragung handelt, erkennt der Leser deutlich an Äußerungen wie „Sie stellen vielleicht Fragen“ (36) und „Da müssen Sie schon andere fragen.

Ich bring die Post und halt mich raus“ (37). Da liegt beim bisherigen Informationsstand die Ver-mutung nahe, dass der unbekannte Ich-Erzähler in Abschnitt 1 in Bezug auf das Morddorf Befra-gungen mit vielen Dorfbewohnern durchführt, und dass noch weitere BefraBefra-gungen folgen werden.

Abschnitt 12 (S. 38-39, Das Wetter ist):

Aus der Perspektive eines unbekannten Mannes wird geschildert, wie dieser im Dunkeln mit einem großen Schlüssel eine Haustür aufschließt, die Post ins Haus legt, die Arbeit im Stall erledigt, ver-geblich versucht, im Stadel mit der Spitzhacke eine Vertiefung in den harten Boden zu schlagen, hungrig ein Stück vom Rauchfleisch abschneidet, es mit dem letzten Kanten Brot isst und schließ-lich das Haus wieder verlässt.

Durch thematische Ähnlichkeiten stellt der Leser Verknüpfungen zu zuvor gelesenen Textstel-len her und vermutet, dass es sich bei dem Unbekannten hier um denselben Mann handelt, der in Abschnitt 2 die Arbeit im Stall erledigt (hier: „Dieses Mal verlässt er jedoch das Haus nicht, nach-dem er die Arbeit im Stall erledigt hat“, 38f.) und in Abschnitt 9 in der Küche frühstückt (hier:

„Nimmt den letzten Kanten Brot, der im Küchenschrank liegt“, 39). Ferner erweckt die Äußerung

„Nach dem Öffnen der Tür kommt ihm ein Schwall abgestandener, leicht modrig riechender Luft entgegen. Kurz bevor er in das Haus tritt, dreht er sich um, blickt nach allen Seiten“ (38) den Ein-druck, dass mit dem Haus etwas nicht in Ordnung ist und dass der Mann etwas zu verbergen hat.

Vor allem erscheint der Mann dem Leser durch seinen erfolglosen Versuch, im Stadel eine Grube auszuheben, verdächtig: Es stellt sich die zwingende Frage nach dem Wozu. Auf diese Weise ent-steht beim Leser die Erwartung, dass die Erzählung in der dritten Person über diesen suspekten un-bekannten Mann eine Fortsetzung haben wird, in der er in Erfahrung bringen kann, wie die an die-ser Stelle dargestellten Geschehnisse ins Bild passen.

Anzumerken ist auch, dass in diesem Abschnitt wichtige Hinweise bezüglich der Zeit- und Ortsreferenz vorhanden sind: Da der Unbekannte die Post ins Haus holt, kann man im Zusammen-hang mit der Aussage des Postboten im vorigen Abschnitt (er habe am Montag die Post zum Hof der Familie Danner gebracht, aber es sei keiner da gewesen) schlussfolgern, dass die hier erzählten Ereignisse wahrscheinlich am Montagabend im Haus der Familie Danner stattfinden. Dies führt wiederum zu den Fragen, was der Unbekannte dort zu suchen hat, was mit den Danners geschehen ist und wer der Unbekannte ist.

Abschnitt 13 (S. 40-45, Kurt Huber, Monteur, 21 Jahre):

Der Monteur Kurt Huber erzählt, wie er auf Danners eine Woche zuvor erfolgten Anruf hin am Dienstagvormittag zum Hof der Familie Danner gefahren sei, dort niemanden angetroffen, aber trotzdem die Maschine im Motorhäuschen repariert habe. Dabei habe ihn jedoch das Gefühl be-schlichen, es sei jemand dagewesen.

In diesem Abschnitt findet der Leser genaue Zeitangaben wie „Am Dienstag war’s, ja am Dienstag, dem 22.03.195...“ (40), „Wann ich dann draußen war? So kurz vor neun Uhr, denk ich mal, war das“ (41), „Kurz nach zwei Uhr muss ich fertig gewesen sein“ (45). Dadurch wird einer-seits der zuvor angegebene Zeitpunkt des ganzen Geschehens, nämlich einige Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, näher bestimmt, und andererseits lässt sich die zeitliche Relation der erzählten Ereignisse genauer rekonstruieren. Außerdem dient die diesbezügliche Bemerkung des Monteurs

„Über fünf Stunden war ich auf dem Hof, bei dem Danner in Tannöd, und keiner ist gekommen.

Fünf Stunden alleine auf dem Hof, ohne eine Menschenseele zu sehen“ (45) durch die augenfällige Wiederholung bzw. Nachdrücklichkeit der Wissensvermittlung als ein rezeptionssteuerndes sprach-liches Signal, mit dem der Leser auf das Erklärungsbedürftige daran aufmerksam gemacht wird.

Darüber hinaus wird die Mitteilung, dass anscheinend jemand am Dienstag während der Arbeit des Monteurs auf dem Hof der Familie Danner war, durch die Worte „Genau in dem Augenblick, in dem ich mich bücke, [...] war mir, als huscht da ein Schatten vorbei. Sehen konnte ich es nicht, es war mehr so ein Gefühl. Eine innere Stimme, die einem sagt, da ist einer, auch wenn man die be-treffende Person nicht sieht. Aber sie ist da, man spürt es, da ist einer“ (44) sowie durch die Wie-deraufnahme „Ich habe mich bestimmt geirrt, da war niemand, aber der Schatten, meine innere Stimme, das Gefühl, ich weiß nicht“ (45) betont als „prekäres“ Wissen dargestellt, dessen Gewiss-heitsgrad der Leser noch zu überprüfen hat. Auf diese Weise wird wieder eine neue Wissenslücke etabliert.

Abschnitt 14 (S. 46-47, Das Messer):

Aus der Perspektive desselben unbekannten Mannes wie in Abschnitt 12 und, wie der Leser vermu-tet, Abschnitt 2 und 9, wird erzählt, wie dieser mit Entsetzen feststellt, dass er sein Taschenmesser nach dem Abschneiden des Rauchfleischs im Haus liegen gelassen hat. Aus Angst, dass sein Messer dort entdeckt wird, schleicht er sich am helllichten Tag hinein, um es sich zurückzuholen, während ein Mann im Motorhäuschen mit Reparaturen beschäftigt ist.

Durch diese Erzählung (vor allem durch die Äußerung „Auf diesen Augenblick hat er gewartet.

Er huscht an der offenen Türe vorbei. Ehe der andere aus der Wassergrube heraussteigen kann, ist er bereits ums Haus“, 47) werden die Angaben des Monteurs bestätigt, die Anwesenheit eines Menschen auf dem Hof der Familie Danner gespürt zu haben. Demnach stellt der Leser hier im Zu-sammenhang mit den Aussagen des Monteurs im vorigen Abschnitt fest, dass es sich bei besagtem Haus um das Danner’sche Haus und bei dem Zeitpunkt des Geschehens um Dienstag zwischen etwa neun Uhr morgens und zwei Uhr am Nachmittag handelt. Der Leser fragt sich erneut: Was hat der Unbekannte im Danner’schen Haus zu suchen? Wo sind die Danners? Durch diese Fragen erscheint dem Leser der Unbekannte noch suspekter als zuvor. Zudem entstehen durch Äußerungen wie „Pa-nik erfasst ihn. Er muss ins Haus. Er muss das Messer, sein Messer, holen. Er kann nicht warten bis zum Abend [...]. Das dauert noch Stunden, zu lange. Bis zum Abend kann viel geschehen“ und „Am helllichten Tag muss er, die Gefahr auf sich nehmend, ins Haus“ (47) beim Leser zwingendermaßen die Fragen: Was kann bis zum Abend geschehen? Was für eine Gefahr? Auf diese Weise häufen sich die Fragen über den Mann, sodass der Leser in Erwartung baldiger Antworten gespannt weiterliest.

Abschnitt 15 (S. 48-49, Dagmar, Tochter des Johann Sterzer, 20 Jahre):

Dagmar Sterzer erzählt, wie der Junge Hansel Hauer am Dienstagnachmittag von seinem Vater zu ihrer Familie geschickt wurde und ihnen mitteilte, bei den Danners stimme etwas nicht, da sie seit Samstag nicht mehr gesehen worden seien und bei Hansels Besuch niemand aufgemacht habe. Da-raufhin gehen Dagmars Vater und ihr Verlobter Lois gemeinsam mit Hansel zum Danner’schen Hof, um dort Hansels Vater zu treffen und mit ihm zusammen nach dem Rechten zu sehen. Das Ergebnis teilt Dagmar am Ende des Abschnitts kurz und knapp mit: „Dort haben sie sie ja auch gefunden.

Alle“ (49).

Zwar liegt die Vermutung nahe, dass alle Personen auf dem Danner-Hof tot sind, doch weckt die knappe Mitteilung beim Leser Erklärungsbedarf darüber, wie genau sich das Auffinden der Per-sonen ereignet. Bringt der Leser nun diese Information über die Danners mit den Abschnitten über den unbekannten Mann in Verbindung, der sich vor dem Dienstagnachmittag im Danner’schen Haus aufgehalten hat, so entsteht nun die Vermutung, dass hier ein Mord geschehen ist und der unbe-kannte Mann aus den Er-Erzählungen der Täter ist.

Abschnitt 16 (S. 52-56, Michael Baumgartner):

Als Perspektivfigur wird eine zwielichtige Gestalt namens Michael Baumgartner (der Mich genannt) eingeführt: ein Dieb, der früher Gelegenheitsarbeiter bei den Danners war und seitdem deren zu Hause verstecktes Geld gewissermaßen schon als sein Eigentum betrachtet. Im epischen Präsens wird erzählt, wie besagter Mich am Freitagmorgen („Heute ist Freitag. In ein paar Stunden würde die Sonne aufgehen“, 55) auf den Dachboden des Stadels auf Danners Hof in Tannöd gelangt und geduldig auf eine günstige Gelegenheit wartet, um ins Haus einzudringen und das Geld zu stehlen.

Durch die Mitteilung, Mich habe sich seit dem Freitagmorgen auf dem Dachboden im Stadel versteckt gehalten, werden beim Leser die Erwartungen geweckt, dass Mich entweder der Täter ist oder möglicherweise zumindest etwas Wichtiges beobachtet hat.

Abschnitt 17 (S. 57-59, Georg Hauer, Bauer, 49 Jahre):

In der Ich-Form erzählt Georg Hauer, der Vater von Hansel Hauer, wie er am Freitag (mit der ge-nauen Zeitangabe „den 18. März“, 57) seinen Nachbarn Danner zum letzten Mal lebend gesehen hat.

Dieser habe ihn gefragt, ob er etwas beobachtet hat, da in der Nacht jemand einzubrechen versucht habe und es Fußspuren im Neuschnee gegeben habe, die zum Haus hin-, aber nicht wieder weg-führten. Obwohl Danner nach einer gründlichen Durchsuchung des Hauses bzw. des Dachbodens nichts gefunden habe, wolle er sein Gewehr auf alle Fälle bereit halten. Zudem habe Danner ihm mitgeteilt, dass er seinen Haustürschlüssel nicht mehr finden könne. Über die Geschehnisse am Dienstagnachmittag berichtet Hauer nur kurz am Abschnittsende: „Am Dienstag hat dann die Schwägerin, die Anna, den Hansel zum Hof rübergeschickt, zum Nachschauen. Erst da ist mir die Sache mit dem Einbruch und dem verlorenen Haustürschlüssel wieder eingefallen. Alles Weitere wissen Sie ja“ (59).

Hauers Mitteilung über den angeblichen Einbruch bei den Danners stimmt mit den Informati-onen über den Dieb Mich aus dem vorigen Abschnitt überein. Da die Rede vom Gewehr die