5. Der systematische Wissensaufbau im Kriminalroman
5.1 Die Frage-Wiederaufnahme-Antwort-Sequenzen
5.2.3 Wie werden ›clues‹ in unauffälliger Weise vermittelt?
Französin usw.), oder auf ihre Rolle in der Romangesellschaft (ein Frauenheld, ein Kinderschänder, ein patriarchalisches Familienoberhaupt, eine untreue Frau, eine religiöse Fanatikerin usw.) be-schränkt.192 Indem der Autor die Figuren zielgerichtet in schablonenhafter Weise skizziert, ist der Leser in der Lage, sich ein Bild von solchen stereotypen Figuren zu machen. Dies kann der Autor auch als eine wirksame Strategie für die unauffällige Vermittlung von ›clues‹ benutzen, damit der Leser angesichts einer derart stereotypen Figurencharakterisierung aufgrund seiner eigenen kli-scheehaften Vorstellung unbewusst bestimmte Deutungsmöglichkeiten außer Acht lässt – so, wie Keating es am Beispiel von vicar erläutert. Zur Verdeutlichung betrachten wir ein weiteres Beispiel aus Der Knochenmann von Wolf Haas, in dem eine Beschreibung der Kellnerin der Grillstation Löschenkohl erfolgt:
Sie hat ein grobes Gesicht gehabt, nicht vom Alter, weil so alt ist sie noch nicht gewesen. Einfach kein feines Ge-sicht, ein grobes. Dabei ist sie ein feiner Mensch gewesen. Aber einen stämmigen Körper, so wie die Berufs-fußballer, die ihre Karriere beenden. Dann trainieren sie weniger, essen aber gleich viel, gehen sie natürlich ein bisschen auseinander. Jetzt ist ihr roter Lederrock natürlich eine gewagte Sache gewesen. (Der Knochenmann, 51, Hervorhebung von mir)
Auf den ersten Blick handelt es sich hierbei um eine gewöhnliche Charakterisierung einer neu ein-geführten Figur: Die Kellnerin hat ein grobes Gesicht und einen stämmigen Körper, der durch den Vergleich mit den Figuren der Berufsfußballer, die ihre Karriere beenden nachdrücklich beschrie-ben wird, und ihr roter Lederrock scheint sie nicht besonders vorteilhaft zu kleiden. Aufgrund seiner
›stock responses‹, die durch die Grillstation Löschenkohl als Setting193 aktiviert werden, hat der Leser sofort eine kräftige Kellnerin vor Augen, die (wie etwa beim Oktoberfest) während des Hochbetriebs viele Maßkrüge, Brathähnchen und Wurstteller trägt. So entgeht ihm der hier steckte ›clue‹: Die Kellnerin ist ein Mann. Durch die Mitteilung in der Erzählerrede, dass der ver-misste Künstler Horvath „seit fast einem Jahr als Kellnerin in der Grillstation Löschenkohl gear-beitet hat“ (124), entpuppt sich die oben zitierte Beschreibung der Kellnerin als ein entscheidender
›clue‹, der zur Beantwortung der Frage nach dem Verschwinden von Horvath führt.194
Mit dieser Erkenntnis fällt dem Leser auf, wie vielsagend die Beschreibung der Kellnerin ei-gentlich ist: Warum vergleicht der Erzähler die Figur einer Frau mit den Körpern von (männlichen) ehemaligen Berufsfußballern?195 Eben darauf beruht die Raffinesse dieses Vergleichs: Auf den ers-ten Blick passt er nahtlos zur klischeehafers-ten Vorstellung einer kräftigen, schweres Bier und Hähn-chen tragenden Kellnerin, und erst bei einer nachträgliHähn-chen genaueren Betrachtung ist der Leser in
192 Aus diesem Grund wird vielerorts kritisiert, dass die Figuren in Krimis meist flach und schablonenhaft sind. Dazu bemerkt Helmut Heißenbüttel: „Keine Person wird um ihrer selbst willen geschildert. Die ganze Statisterie ist fest ins Schema eingebunden“ (Heißenbüttel 1963/1966, in: Vogt 1998a, 113).
193 Zum Setting vgl. die folgende Erläuterung aus The Oxford Companion to Crime and Mystery Writing: „Setting re-fers to the physical background against which a plot occurs. A setting may be a specific geographic location, a general environment, or a particular historical period. Whether based on an actual place or an invented one, setting is an imagi-native construction conveyed through selected significant details that may facilitate or limit plot elements, reflect or illuminate characters, and reinforce mood and theme“ (Herbert 1999, 403).
194 Zur Erklärung des ›clue‹ vgl. ausführlich 115, 124, 132ff. in Der Knochenmann.
195 Da der Berufsfußballer generell als ein Männerberuf gilt und bei den in Der Knochenmann vorkommenden Fuß-ballmannschaften nur von männlichen Fußballern die Rede ist, geht man davon aus, bei dem Vergleich handele es sich um männliche Berufsfußballer.
der Lage zu erkennen, wie auffällig der Vergleich eigentlich ist, und warum er zuvor den in der Fi-gurenbeschreibung unauffällig vermittelten ›clue‹ achtlos überlesen hat.
Das folgende Beispiel aus Tess Gerritsens Schwesternmord zeigt, mit welchen Mitteln die
›stock responses‹ beim Leser ausgelöst und verstärkt werden, die effektvoll dafür sorgen, dass er einen wichtigen ›clue‹ nicht richtig deuten kann, selbst wenn der ›clue‹ eigentlich in auffälliger Weise vermittelt wird. An einem Textabschnittsende gegen Romanende wird mit folgenden Worten geschildert, wie die Ermittlerin Jane Rizzoli eine entscheidende Entdeckung macht, aus der sie schlussfolgert, dass der Täter höchstwahrscheinlich aus den Reihen der Bostoner Polizei stammt, eine besondere Art von Munition bei einer Razzia entwendet und bei dem Mord benutzt hat.
Sie blätterte weiter und stieß auf eine Liste der bei der Razzia anwesenden Beamten. Zehn Cops, alle vom Bos-ton PD. Ihr Blick blieb an einem bestimmten Namen hängen, einem Namen, der ihr nicht aufgefallen war, als sie den Bericht vor einer Woche gelesen hatte. Ein reiner Zufall. Das muss noch längst nicht bedeuten...
Doch dann dachte sie noch einmal darüber nach. Sie erinnerte sich an eine Drogenrazzia, an der sie als junge Streifenpolizistin teilgenommen hatte. An den Lärm, die Aufregung. Und das Chaos – wenn ein Dutzend vom Adrenalin aufgeputschte Cops ein Gebäude stürmten, in dem sich vielleicht ein Verdächtiger versteckt hält, dann ist jeder nervös, dann achtet jeder nur auf sich selbst. Und merkt nicht unbedingt, was sein Nebenmann gerade macht. Was er heimlich in seine Tasche gleiten lässt. Geld, Drogen. Oder eine Schachtel Munition, die kein Mensch je vermissen wird. Die Versuchung, ein Souvenir mitgehen zu lassen, ist immer da. Ein Souvenir, das man irgendwann später vielleicht gut gebrauchen kann.
Sie nahm den Hörer ab und rief Frost an. (Schwesternmord, 393f., Hervorhebungen von mir)
Es ist für den Leser unschwer zu erkennen, dass hier ein wichtiger ›clue‹ in Bezug auf den Täter vermittelt wird, denn der ›clue‹ wird nicht nur am Textabschnittsende geliefert, sondern auch durch rezeptionssteuernde „Achtung, Spur!“-Signale hervorgehoben, wie z.B. Ihr Blick blieb an einem bestimmten Namen hängen, Ein reiner Zufall. Das muss noch längst nicht bedeuten... und die Be-schreibung am Schluss, wie die Ermittlerin Rizzoli darauf reagiert. Es ist von einem bestimmten Namen der zehn Cops auf der Liste der bei der Razzia anwesenden Beamten die Rede, obwohl der entscheidende Name nicht preisgegeben wird. Im Anschluss daran wird Rizzolis Vermutung durch den Konditionalsatz wenn ein Dutzend vom Adrenalin aufgeputschte Cops ein Gebäude stürmten, in dem sich vielleicht ein Verdächtiger versteckt hält, dann ist jeder nervös, dann achtet jeder nur auf sich selbst eingeführt und mit den darauffolgenden verallgemeinernden Aussagen fortgesetzt, bei denen Ausdrücke wie Nebenmann (was sein Nebenmann gerade macht), er (Was er heimlich in sei-ne Tasche gleiten lässt), man (Ein Souvenir, das man irgendwann später vielleicht gut gebrauchen kann) jedoch nicht generisch gebraucht werden, wie es wortwörtlich erscheinen könnte. Denn ge-meint ist offensichtlich der Täter, der die Munition vermutlich bei der besagten Razzia gestohlen hat.
Auf diese Weise erhält der Leser den eindeutigen ›clue‹, nämlich dass der Täter einer der zehn Poli-zisten vom Boston PD ist, der an dieser Razzia teilgenommen hat.
Doch wer unter den vielen im Roman auftretenden Polizisten vom Boston PD kann es sein? Da im vorangehenden Text erzählt wird, dass der Polizist Rick Ballard eine Affäre mit dem Mordopfer hatte, scheint es naheliegend, dass er der gesuchte Cop/Täter ist. Im darauffolgenden Textabschnitt, in dem geschildert wird, wie der vermeintliche Täter bei der zweiten Romanheldin, der Rechtsme-dizinerin Maura Isles, einen aufdringlichen Annäherungsversuch unternimmt, scheint sich dieser Verdacht zunächst zu bestätigen. Allerdings wird dem Leser bald klar, dass Rick Ballard unschuldig