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Der Widerspruch zwischen Norm und Funktion im pädago- pädago-gischen Kontextpädago-gischen Kontext

6. Den Widerspruch zwischen Norm und Funktion im Modus der Kälte verarbeiten Modus der Kälte verarbeiten

6.1 Der Widerspruch zwischen Norm und Funktion im pädago- pädago-gischen Kontextpädago-gischen Kontext

Im Kontext dieser Studie ist der Widerspruch zwischen Norm und Funktion auf den Bereich der Pädagogik zu beziehen. Es ist zu zeigen, welche konkrete Gestalt dieser Widerspruch im pädagogischen Handeln in der Institution Schule hat.

50 In der Pädagogik, so Gruschka, konkretisiere sich die Kälte in besonderer Form (vgl. 1994: 117): „Das Schulsystem dient der bürgerlichen Gesellschaft als der Ort, an dem die nachwachsende Generation unter differierenden Einzelinteressen lernen soll, in die Aufgaben hineinzuwachsen, die zur gesellschaftlichen Reprodukti-on zu bewältigen sind“ (Gruschka 1994: 119). Um dies zu verdeutlichen, rekurriert Gruschka auf die funktionalistische Bildungssoziologie, mit der die objektiven Auf-gaben des Schulsystems erfasst werden, nämlich die Funktion der Qualifikation (die vor allem für die Reproduktion des Arbeitsmarktes erforderlich ist), der Selektion (zum Zwecke der Zuteilung entsprechender Kräfte im Dienste der Arbeitsteilung) und der Legitimation (der gesellschaftlichen Ordnung), die ihrerseits einander bedin-gen. Diese Funktionen stehen insofern im Widerspruch zu pädagogischen Normen, als Qualifikation einerseits der Integration in den Arbeitsmarkt dienen soll, während sie hingegen im Sinne einer Bildungserfahrung auf die Entwicklung der Persönlich-keit und die Förderung der Individualität der Kinder zielt. Der funktionale Zweck der Qualifikation zeigt sich dort, wo die Grundschullehrerin Gruppenarbeitsphasen im Unterricht damit begründet, dass diese die Fähigkeit der Teamarbeit im Erwerbsle-ben fördere. Zugleich kann Qualifikation dialektisch in Bildung umschlagen, wenn diese Arbeitsform pädagogisch motiviert ist, so dass Gruppenarbeit neben ihrer sozi-alintegrativen Wirkung primär der Erschließung der Sache und damit der Erschlie-ßung der Welt dient: „Mit jedem Unterrichtsgegenstand, der eine formal bildende Potenz besitzt, ist darüber hinaus die Dialektik der Bildung gesetzt: Abhängig von ihrer objektiven Qualität, aber auch abhängig von ihrer Vermittlungsform ist, ob die Gegenstände nur funktional oder zugleich kritisch werden“ (Gruschka 1994: 121).

Mit der Selektionsfunktion wird den Anforderungen eines arbeitsteiligen Arbeits-marktes Rechnung getragen. Dieser steht im Widerspruch zur Norm sozialer Allge-meinheit der Bildung. Nicht alle Schüler lernen, den gesamten Stoff zu beherrschen, sondern meistens nur einen Teil. Die Verantwortung für diese Ungleichheit hat nicht der Lehrer zu tragen, sondern der Lernende, und zwar auch dort „wo seine Erfolglo-sigkeit der Art geschuldet ist, wie ihm etwas gelehrt wurde“ (Gruschka 1994: 122).

Das führt zu Kälte, sowohl bei denen, die im Unterricht mitgekommen sind, wie auch bei denen, die auf der Strecke geblieben sind. Denn die einen holen das Potenti-al kritischer Urteilsbildung ihres Schulwissens nicht ein, sondern sehen in ihm vor allem eine Legitimation für die Besetzung einer entsprechenden beruflichen Position.

51 Die anderen lernen in ihrer Ohnmacht, die Dinge resignativ hinzunehmen, wie sie sind. Das hat zur Folge, dass „Kritik mangels Urteilskraft von den ungebildet Blei-benden nicht mehr sachangemessen artikuliert werden kann, und wo Selbstkritik weitgehend blockiert wird durch die Abwehr der Einsicht in das Privileg des Wissens und in die Verantwortung des Wissens, gedeiht Kälte als Hinnahme oder als Verfü-gungsgewalt“ (Gruschka 1994: 122).

Die gelungene Legitimation der gesellschaftlichen Ordnung wird bereits da deutlich, wo die Schüler selbst die Selektion einfordern, deren Unterworfene sie sind: „Das ist als eine beachtliche Leistung des Systems anzusehen. Es organisiert die Selektion augenscheinlich so geschickt und flexibel, dass noch ihre Opfer es akzeptieren. Die pädagogisch-politische Norm lautet Chancengleichheit, die Funktion Selektion“

(Gruschka 1994: 124). Letztere wird immer dann gerechtfertigt, wenn der Ausge-schiedene auf sein Unvermögen hingewiesen wird und ohnmächtig sich diese Zu-schreibung auch aneignet, währenddessen der Erfolgreiche sich seinen Erfolg auf die eigenen Fahnen schreibt, wiewohl beide dabei kein Bewusstsein darüber gewinnen, wie sehr ihre Niederlage und ihr Sieg das Resultat der Anforderungen gesellschaftli-cher Reproduktion bzw. bürgerligesellschaftli-cher Kälte sind.

Die Verschränkung von Norm und Funktion wird nach Gruschka in der öf-fentlichen Erziehung in der Trias Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit deutlich (vgl. Gruschka 1994: 125 ff): Freiheit findet in der Pädagogik ihre Entsprechung in der Mündigkeit. Aus funktionaler Perspektive sind damit die Qualifikationen ge-meint, mit denen man als Arbeitskraft sich selbst erhält. Im emphatischen Sinne ist mit Mündigkeit der autonome Gebrauch individueller Vernunft gemeint, der sich auf das Ideal der Subjektwerdung durch Bildung bezieht. Die Leistung der Pädagogik besteht darin, die Prinzipien bürgerlicher Synthesis aus Norm und Funktion im öf-fentlichen Erziehungswesen durchzusetzen. Dabei zeige sich aber die Dominanz der Funktion gegenüber der Norm insofern, als dass Schüler sich an die positivistische Vermittlung des „Stoffs“ anzupassen hätten, währenddessen ihre individuelle Mün-digkeit bloß in der Präambel des Lehrplans eingefordert werde. Die Schüler reagier-ten desillusioniert, weil sie Unterricht kaum als einen Ort wahrnähmen, an dem sie durch die Fähigkeit zur Distanz zum Zwecke vernunftgeleiteter Kritik zur Mündig-keit freigesetzt würden. Vereinnahmt durch die Kulturindustrie orientierten sie sich

52 vielmehr pragmatisch an funktionalem Kompetenzgewinn. Dadurch würden Jugend-liche „nicht nur wehrlos gegenüber Kälte, sondern ihr gegenüber immer bewusstlo-ser“ (Gruschka 1994: 127). Auf diese Befunde reagierten manche Erziehungswissen-schaftler mit Zweifeln darüber, ob man der Norm der Mündigkeit durch Bildung im emphatischen Sinne überhaupt noch gerecht werden könne und man deshalb auf sie verzichten sollte.

Der gesellschaftlichen Norm der Gleichheit entspricht in der Schule diejenige der Gerechtigkeit, derart, dass der Lehrer die Schüler ohne Ansehen der Person gleichermaßen fördern und nach allgemein gültigen Kriterien bewerten soll. Sympa-thie gegenüber einem einzelnen Kind darf den Lehrer nicht leiten. Das verlangt die Norm der Gerechtigkeit. „Die Person wird dem Lehrer gleichgültig. Das pädagogi-sche Ethos der Gleichbehandlung der Schüler hält den Lehrer damit dialektisch auch zur Kälte an“ (Gruschka 1994: 128). Der Anspruch individueller Förderung werde dadurch unterlaufen, dass jeder Schüler – unabhängig von seinem Interesse – die gleiche Aufgabe gestellt bekommt, weil angeblich nur unter dieser Voraussetzung eine gerechte Notengebung möglich wäre. So entstehe eine Spannung zwischen dem normativen Anspruch der individuellen Förderung und der funktionalen Leistungs-differenzierung, die dazu führe, allen Schülern das Gleiche abzuverlangen.

Brüderlichkeit soll in der Schule als Norm der Solidarität vermittelt werden.

Die Schüler sollen miteinander ihrer Ziele erreichen, der Stärkere möge dem Schwä-cheren dabei helfen. Das erfordere, der Einzelne müsse seine individuellen Interessen zugunsten der gemeinschaftlichen zurückstellen. Der Widerspruch zu dieser Norm zeigt sich in der Klassenarbeit, in der das Abschreibenlassen umgehend geahndet wird, damit das Leistungsprinzip und die darauf aufbauende Funktion der Selektion zur Geltung kommt.

Was allen Normen gemein sei, sei die Tatsache, dass sie im Moment ihrer Einfügung in das schulische Regelwerk in unauflösbare Widersprüche zu diesem gerieten. Dabei stelle sich die Frage, so Gruschka, wie Lehrer inmitten aller Wider-sprüche konkret operieren. Denn es müsse davon ausgegangen werden, dass die strukturellen Widersprüche „keinen linearen und zwingenden Ableitungszusammen-hang konstituieren“ (Gruschka 1994: 132). Pädagogik folge aus dem Widerspruch pragmatisch wie auch intentional in unterschiedlicher Weise. Deshalb müsse eine

53 Analyse praktischer Pädagogik, die nicht subsumtionslogisch verfahre, zeigen, wie die je spezifische Praxis unter den Bedingungen der Kälte konkret zum Ausdruck kommt (vgl. Gruschka 1994: 132). Deshalb stelle sich die Frage, wie eine Praxis möglich werde, die ihren eigenen normativen Anspruch unterläuft, indem sie sich an der funktionalen Realität orientiert, und wie die Handelnden sich dazu verhielten.

Man könne die Normen nicht einfach ignorieren. Denn solange man das Bildungs-system vor dem Hintergrund der „europäischen Bildungstradition“ (Blankertz) ver-stehe, die das Bildungssystem auf deren historisch entwickelte Normen verpflichte, bestehe eine Spannung, die aus dem in der Praxis uneingelösten Anspruch jener Normen resultiere (vgl. Gruschka 1994: 134). Aus dem Bemühen der Lehrer, diese Spannung möglichst gering zu halten, folge Kälte, die sie vor dem Verlust ihrer be-ruflichen Identität schütze:

„Der Schutz gegen die Bedrohung signalisiert nicht eine Disparatheit von Anspruch und Wirklichkeit, so als ob Praktiker in zwei Welten lebten, derjenigen ihrer realen Praxis und der ihrer Ideen und Normüberzeugungen. Vielmehr spricht viel dafür, dass die Praktiker allenthalben bemüht sind, die Norm in ihrer Praxis zu fixieren und mit der Normauslegung ihre Praxis zu reflektieren. Gerade dadurch, dass sie ein Kontinuum von Theorie und Praxis anstreben, während sie zugleich von dem Erleben der Diskontinuität ausgehen müssen, verhalten sie sich zur Erfahrung ihres Widerspruchs.

Das ist alles andere als trivial. Denn die Strategien der Bewältigung solcher Insuffizienserfahrungen führen hinein in die bürgerliche Kälte. Mit ihr wird es möglich, die Widersprüche stillzustellen und die Reproduktion einer Praxis zu betreiben, die der Norm entgegengesetzt ist“ (Gruschka 1994: 135).

Das bedeutet aber nicht, so Gruschka weiter, dass derjenige, der den Widerspruch pragmatisch überbrücke, deshalb auch frei von ihm sei. Vielmehr stellt Gruschka fest, dass seine empirischen Forschungen die Abwehr und die Verdeckung der Wi-dersprüche zeigten, beispielsweise dadurch, dass sie offen das Realitätsprinzip ver-träten, statt dass sie ihre Praxis an den pädagogischen Normen ausrichteten (vgl.

Gruschka 1994: 136). Andere Pädagogen externalisierten den Widerspruch mit dem Hinweis auf äußere Restriktionen, was unter dem Verzicht auf die Normen und auf-grund einer Praxis des „Durchwurstelns“ zu einer fragmentierten beruflichen Identi-tät führe. Die dominante Form, den Widerspruch zu verarbeiten, sei die Idealisierung falscher Praxis, damit „der Pädagoge sich virtuell außerhalb des Widerspruchs stellen kann“ (Gruschka 1994: 136).8 Das erfordere mehr als nur Rhetorik, sondern immer auch Beispiele einer Praxis, mit der der Pädagoge zeigen könne, dass er die Norm erfülle, was ihm freilich nur vermeintlich gelingen könne.

8 Eine systematische Darstellung der empirisch bekannten Typisierungen der Widerspruchsverarbei-tung ist zu finden in Kersting (2011): 211

54 Die Entscheidung, Gruschkas Kältetheorie als theoretische Fundierung dieser Studie zu wählen, beruht auf folgendem Sachverhalt: Trotz der Unauflösbarkeit des Widerspruchs zwischen Norm und Funktion existieren auf pragmatischer Ebene in-dividuelle Interpretationsspielräume. Diese ermöglichen es dem einzelnen Lehrer, sich in seinem konkreten Handeln eher an der pädagogischen Norm (dem Sollen) oder eher an der Funktion von Schule (dem Sein) zu orientieren. Vor diesem Hinter-grund ist die Aufforderung zur pädagogischen Reform einer Schule kältetheoretisch als eine Aufforderung zu verstehen, die Einlösung pädagogischer Normen anzustre-ben, obgleich dieser Aufforderung die funktionalen Ansprüche der Gesellschaft ent-gegenstehen. Dieser Widerspruch ist bereits vor der Interpretation der Interviews mit den Probanden dieser Studie erkennbar geworden: In einigen Studien zur Schulent-wicklungsforschung thematisieren Lehrer implizit den kältetheoretischen Wider-spruch zwischen dem Sein und dem Sollen. So stellen beispielsweise Gruschka et al.

(2003) in ihrer Schulprogrammstudie fest, dass in keinem Schulprogramm nur an-satzweise eine überzeugende Konzeption zur individuellen Förderung von Schülern zu erkennen gewesen sei, weil eine solche Konzeption im Widerspruch zur Selekti-onsfunktion von Schule stehe. Zugleich kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass diejenigen Spielräume, die die Schulen für die Entwicklung ihrer pädagogischen Ar-beit hätten, nicht genutzt worden seien. Die Unterbietung der Möglichkeiten von Schulprogrammarbeit sei insgesamt betrachtet rational und irrational zugleich. Rati-onal, weil Reformlimitierungen tabuisiert würden, um die Einsicht in unerfüllbare pädagogische Normen zu vermeiden. Irrational, weil die Schulen die Spielräume, die sie haben, um „ein wenig besser zu werden“, verschenken würden. Es zeigt sich also, dass die kältetheoretische Perspektive einen verstehenden Zugang zur Handlungslo-gik des Lehrers als Reformer seiner Schule eröffnet.

Die Entscheidung einer kältetheoretischen Bezugnahme rührt außerdem da-her, dass die erste punktuelle Analyse der Interviews dieser Studie deutliche Hinwei-se darauf liefert, dass die Probanden sich in ihrem Bemühen um eine Reformkonzep-tion vor allem an dem Widerspruch zwischen Norm und FunkReformkonzep-tion abarbeiten – und das obwohl diese Studie nicht als eine Kältestudie konzipiert war: So repräsentieren die Szenarien, die den Probanden am Anfang des Interviews zur Lektüre vorgelegt wurden, keinen kältetheoretischen Konflikt, sondern einen prototypischen Konflikt zwischen konkurrierenden pädagogischen Konzepten. Trotzdem reagieren die

Pro-55 banden auf die Szenarien so, als habe man ihnen einen Konflikt zwischen Norm und Funktion vorgelegt. Es scheint, als sei die Deutung der Probanden derart präformiert, dass sie einen pädagogischen Konflikt primär als einen kältetheoretischen deuten.

Offenbar ist die Kälte – zumindest im Kontext eines Reformdiskurses – das zentrale Moment der pädagogischen Deutungsmuster und daher auch der entscheidende Be-stimmungsfaktor für Grad und Güte der Reformaspiration der Probanden. Vor allem deshalb wurde entschieden, die Rekonstruktion des Deutungsmusters in einem ersten Zugriff kältetheoretisch zu lesen.

6.2 Synthese: Kälte – wie sie in den skizzierten Studien