3. Das europäische Bedrohungsbewusstsein von 1890 bis 1914
3.4 Das Bewusstwerden eines drohenden Krieges in Europa am Beispiel der
3.4.3 Vorschläge für eine friedliche Lösung der elsässisch-lothringischen Frage …. 90
Besonders zutreffend beschreibt der deutsche Botschafter in Paris, Wilhelm Eduard von Schoen, in seinem Brief an Bethmann Hollweg vom 5. Januar 1911 das sinkende Interesse in der französischen Öffentlichkeit an einer gewaltsamen Lösung der elsässisch-lothringischen Frage:
„Freilich, Elsaß-Lothringen spielt immer eine bedeutende Rolle im Gefühlsleben der Franzosen, die Wunde von 1870/71 ist nicht vernarbt, aber an Wiedergewinnung der provinces perdues mit Blut und Eisen denken nur noch wenige.“370
Pläne für eine Lösung der deutsch-französischen Streitfrage auf dem Weg der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit.375 Die zwei wichtigsten Vorschläge für ihre Lösung waren, wie bereits betont, die Idee einer Umbildung Elsass-Lothringens bzw. eines Teils seines Gebiets in eine neutrale Zone und der Gedanke eines Austauschs des Reichslands gegen eine französische Kolonie. Diese Aspekte der Elsass-Debatte werden von mir im Folgenden eingehend untersucht.
Die Idee einer Neutralisierung des Elsass wurde bereits in der Zeit des deutsch-französischen Krieges von dem belgischen Aristokraten Agénor de Gasparin entwickelt. In seiner 1870 erschienenen Studie „La République neutre d‟Alsace“ verwies er auf die Errichtung eines neutralen elsässischen Staates als beste Garantie für den Erhalt des europäischen Friedens. Die Umbildung des Elsass in eine neutrale Zone ging nach Einschätzung des Autors zudem mit den zeitgenössischen Tendenzen in der europäischen Politik einher: „L‟Europe actuelle a précisément une tendance marquée à chercher dans les neutralités la solution des compilations qui la troublent, et les garanties de l‟avenir“376. Diese Umbildung in eine neutrale Zone bedeutete für Gasparin dennoch nur eine Notlösung, um die Annexion des elsässischen Gebiets durch die Deutschen unmöglich zu machen. Diese Absicht lässt sich danach in seiner 1883 erschienenen Studie „Trois paroles de paix“ ablesen. Die zentrale Fragestellung dieses Werks hängt mit der Suche nach den Möglichkeiten für eine dauerhafte Lösung der deutsch-französischen Auseinandersetzung um das Elsass zusammen.
Die Zielsetzung seiner Neutralisierung wurde von Gasparin hier wie folgt formuliert: „On voit quel est le caractère de ce projet: ne pouvant laisser l‟Alsace à la France, éviter de la donner à l‟Allemagne: la donner à l‟Europe, à la paix publique et avant tout à elle-même.“377 Diese Idee der Errichtung einer neutralen elsässischen Republik erfreute sich vor allem in Frankreich lebhafter Aufmerksamkeit. Ein maßgeblicher Vertreter dieser Idee war u. a. auch Romain Rolland.378 Diachron betrachtet, verlor die Idee einer Neutralisierung des Elsass dann aber doch an Popularität.379 Das Interesse der Elsässer selbst für eine derartige Lösung wurde sowohl von deutschen als auch von anderen europäischen Autoren bezweifelt.380 Der schwedische Autor Anton Nyström vertrat darüber hinaus die Ansicht, dass die
375 Stellvertretend für derartige Lösungen: Eduard Loewenthal, Ein französisch-deutscher Ausgleich, Berlin 1891, S.
376 Agénor Gasparin, La République neutre d‟Alsace, Genève 1870, S. 72. 6.
377 Agénor Gasparin, Trois paroles de paix, Paris 1883, S. 54.
378 Die Haltung Rollands zur Idee einer Neutralisierung des Elsass wird im Kapitel 7.6.2 dieser Arbeit behandelt.
379 Hierzu siehe Nyström,Elsaß-Lothringen, S. 53.
380 Siehe Molenaar, La question d‟Alsace-Lorraine, in: L‟Européen, 19. 11. 1904, Nr. 155, Jg. 4, S. 12 und La France veut-elle la guerre, S. 4.
Neutralisierung Elsass-Lothringens von ökonomischem Nachteil für seine Bevölkerung wäre.381 Die Komplikationen wirtschaftlicher Natur, die sich aus der Gründung einer neutralen Republik auf elsässischem Boden ergeben müssten, und gleichzeitig das geringe Interesse der Elsässer selbst an dieser Idee hat in gleicher Weise der Elsässer Jean Heimweh betont.382 Weiterhin haben Kritiker an der Neutralisierung Elsass-Lothringens neben dem wirtschaftlichen Aspekt auch auf die Tatsache hingewiesen, dass beide Gebiete noch nie ein politisch selbständiges Ganzes gebildet hatten. Vorrangig in den ersten zwei Jahrzehnten nach 1871 verwies man darüber hinaus auf die profranzösische Orientierung der Bevölkerung in den annektierten Gebieten als ein Hindernis für die Realisierung derartiger Projekte.
Auch Vorschläge für einen Tausch Elsass-Lothringens mit einer französischen Kolonie tauchten in den 1890er-Jahren in der Publizistik auf. Sie wurden zum ersten Mal von dem Herausgeber der Zeitschrift „Bibliothèque universelle et la Revue Suisse“ Edouard Tallichet formuliert:
„Il va sans dire qu‟il ne saurait être question de demander à l‟Allemagne de se dessaisir de l‟Alsace-Lorraine sans compensation et sans garanties. La France est en mesure de donner en échange une de ses colonies, le Tonkin par exemple, qui est d‟un grand avenir, ou son protectorat de Madagascar. L‟Allemagne pourrait aussi mettre pour condition le démantèlement des forteresses et l‟engagement de n‟en poit établir de nouvelles.“383
Derartige Projekte wurden vor allem in der französischen Presse diskutiert. Ihre Befürworter haben als Ausgleich für Deutschland vier Gebiete vorgeschlagen, die zur französischen Einflusssphäre gehörten. Hierzu zählten: Kongo, Madagaskar, Marokko und Tonkin. Die Wahl des Territoriums, das im Falle einer Rückkehr Elsass-Lothringens nach Frankriech an das Wilhelminische Kaiserreich abzutreten wäre, hat in der Presse heftige Diskussionen ausgelöst. Diese Debatten liefern zugleich einen wichtigen Beleg für das imperialistische Denken in Frankreich an der Wende des 20. Jahrhunderts, wie etwa die Zukunftserwartungen, die mit der Kolonialpolitik verbunden waren. Besonders aufschlussreich hierfür sind die Beiträge des französische Abgeordneten Jules Simon und des Historikers Anatole Leroy-Beaulieu. Simon hat die zukunftsträchtige Bedeutung von Tonkins für Frankreich hervorgehoben. Demzufolge richtete sich der Autor gegen den Vorschlag Tallichets für einen Tausch des Reichslands gegen die chinesische Provinz:
381 ,,Elass-Lothringen, als neutraler Staat, würde sich durch die Zollgesetze zugleich von Frankreich und von Deutschland isoliert befinden, und diese Zollgrenzen würden für dasselbe von grösstem Nachteil sein. Die erhebliche industrielle Bedeutung des Elsass erfordert einen grossen Markt und es muss aus diesem Gesichtspunkt einem grossen Staate angehören, entweder zu Deutschland oder zu Frankreich.“Nyström, Elsaß-Lothringen, S. 54.
382 Siehe Heimweh, L‟Alsace-Lorraine & la Paix, S. 74.
383 Tallichet, La Paix en Europe, in: Bibliothèque Universelle et Revue Suisse, Januar 1892, Nr. 157, S. 149.
„Je suis cependant opposé à l‟échange proposé par M. Tallichet […] Songez quel empire d‟Extrême-Orient l‟Allemagne fonderait au Tonkin, surtout alors qu‟elle serait debarrassée de la nécessité de soutenir l‟armement formidable qui la ruine aujourd‟hui! […] J‟ai la conviction que le Tonkin deviendrait pour la France ce que les Indes sont pour l‟Angleterre.“384
Anatole Leroy-Beaulieu hob hingegen die zentrale Bedeutung Kongos für die französische Zukunft hervor:
„Notre patriotisme serait bien aveugle s‟il se pratait à une pareille combinaison. L‟Afrique est pour nous la terre de l‟avenir. Nous espérons bien, à travers le Sahara, atteindre un jour par le Transsaharien, la region du lac Tchad et mettre notre „Soudan“ à quelques journées de Paris. […] Un pareil sacrifice ne serait pas trop payé de la retrocession de toute l‟Alsace-Lorraine. Au point de vue de la puissance politique et économique, je suis coinvaincu, quant à moi, que les Allemand, en pareil échange, seraient encore les bons marchands. […] Avec le Congo français et avec le Congo belge, reunis tous deux par le Tchad et par un Transsaharien à l‟Algerie, nous pouvons espérer etendre la langue française sur toute l‟Afrique septentrionale et centrale. Un siècle y peut suffir.
Il serait coupable de notre part de renoncer à ce legitime espoir pour reconquerir une ville d‟Europe, nous fut-elle aussi chère que Metz. […] Ce serait trop clairement un marche de dupe.“385
Die umstrittenen Projekte für einen Umtausch Elsass-Lothringens gegen eine französische Kolonie werden deutlich veranschaulicht, wenn man die Haltung A. Leroy-Beaulieus mit der Einstellung seines Landsmanns Yves Guyot vergleicht. Guyot machte den Vorschlag, das Gebiet Kongos für die lothringische Stadt Metz abzutreten. Der Autor hatte damit nicht nur eine besondere Bedeutung Kongos für die französische Zukunft in Frage gestellt, sondern bezweifelte sogar ein deutsches Interesse an einer derartigen Transaktion. Die zu erwartende Reaktion der öffentlichen Meinung Deutschlands auf einen derartigen Vorschlag wurde von Guyot folgendermaßen formuliert: „Metz est un des grands trophées de 1870; pourquoi donc le rendre? et en échange de quoi? de territoires dans le Congo, où les troupes, décimées par les fièvres, n‟ont pas d‟autre rôle que de maintenir une certaine forme d‟esclavage.“386 Die Realisierungschancen der Projekte für einen Austausch des elsässisch-lothringischen Gebiets gegen eine französische Kolonie wurden oftmals in Zweifel gezogen, und zwar bereits im Hinblick auf die Schwierigkeiten bei der Auswahl der Kolonie, welche im Austausch abgetreten werden sollte. Das französische Interesse an einem Tausch der „provinces perdues“ mit einer Kolonie hat im Verlauf der Zeit deutlich abgenommen. Der größten Aufmerksamkeit erfreute sich diese Idee lediglich im ersten Jahrzehnt nach ihrem Aufkommen in der Öffentlichkeit. Jedoch bereits im Jahr 1904 konstatierte der französische Anthropologe Vacher de Lapouge: „Il est trop tard pour parler de retrocession ou d‟échanges de territoire. Il faut laisser le temps et l‟oubli faire leure oeuvre.“387 1913 wurde die Idee eines
384 Zit. nach: Tallichet, La guerre en Europe, S. 517 f.
385 La question d‟Alsace-Lorraine: un article de M. Robert Stein, S. 5.
386 Ebenda, S. 4.
387 Ebenda, S. 6.
Tauschs Elsass-Lothringens gegen eine französische Kolonie dem französischen Historiker Charles Sancerme nur noch als eine „Utopie“388 bewertet.
Die Lösung der elsässisch-lothringischen Streitfrage hat vorrangig französische Autoren beschäftigt. Im Wilhelminischen Deutschland wurde ihre Existenz, abgesehen von einigen wenigen pazifistisch gesinnten Autoren, grundsätzlich bestritten. Unter den zahlreichen Vorschlägen für eine Lösung dieser Streitfrage stößt man ausschließlich auf einen einzigen Plan, der von deutscher Seite kam. Es handelt sich hier um die Entwicklung des Projekts einer Aufteilung der annektierten Gebiete entlang der Sprachgrenze. Diesem Plan zufolge würde das elsässische Gebiet weiterhin einen Teil des deutschen Staatsgebiets bilden, Lothringen müsste dagegen an Frankreich abgetreten werden. Zu den Befürwortern einer Aufteilung des elsässisch-lothringischen Gebiets entlang der Sprachgrenze gehörten u. a. der Generalsekretär der Deutsch-französischen Liga Henri Molenaar und ein amerikanischer Autor deutscher Herkunft namens Robert Stein.389 Derartigen Plänen lag das ethnisch-linguistische Verständnis der Nation zugrunde, das für deutsche Auffassungen typisch war. In der französischen Elsass-Debatte stößt man dafür auf zahlreiche Paradigmen für die kritische Ablehnung einer solchen Definition der Nation. Demzufolge lassen sich mit der Elsass-Debatte die Unterschiede in der deutschen und französischen Auffassung des Begriffs der Nation sehr gut dokumentieren. Für die Franzosen war die Nation wesentlich kein ethnischer, sondern ein territorial-politischer Begriff. Von besonderer Bedeutung für das französische Verständnis der Nation war ferner die freie Entscheidung des Individuums. „Pour nous Français, nous ne saurions confondre la nationalité avec la langue, nous la plaçons dans le Coeur et dans la conscience du peuple. Pour nous, Genève et Lausanne, quoique de langue française ne sont pas françaises; pour nous Metz n‟est pas seulement française parce que Metz parle français, mais parce que le Coeur et le sentiment de ses habitants étaient et restent encore français.“390 - so der bereits oftmals zitierte zeitgenössiche Historiker Anatole Leroy-Beaulieu. Das ethnisch-linguistische Verständnis der Nation wurde im Rahmen der Elsass-Debatte auch von einem anderen französischen Autor, Alfred Naquet, hinterfragt:
„Je n‟attribue pas une action prépondérante à la langue dans la formation des nationalités […] J‟estime en consequence que l‟Allemagne n‟aurait pas à rendre Metz ou Sarrebourg à la France parce qu‟on y parle français, si ces villes voulaient demeurer allemandes“391.
388 Charles Sancerme, Vers l‟Entente, Paris 1913, S. 8.
389 Siehe Molenaar, La question d‟Alsace-Lorraine, S. 11.; La question d‟Alsace-Lorraine: un article de M. Robert Stein, S. 4.
390 La question d‟Alsace-Lorraine: un article de M. Robert Stein, S. 5.
391 Ebenda.
Die Bedeutung der Sprache als entscheidenden Faktor für die Bestimmung der nationalen Zugehörigkeit eines Individuums stellte zudem Yves Guyot in Frage.392
392 Ebenda.
4. Zur Spezifik des europäischen Integrationsgedankens um 1900
Das europäische Bedrohungsbewusstsein lieferte für viele Zeitgenossen die einzig denkbare Voraussetzung für die Errichtung eines europäischen Staatenbundes.393 Im Hinblick auf die sich vertiefende Gefährdung der europäischen Position in der Welt an der Schwelle zum 20.
Jahrhundert infolge der Modernisierung in den USA und Japan sowie einer bestehenden Kriegsgefahr in europa selbst haben selbst einige Skeptiker auf die Möglichkeit der Erschaffung zumindest eines zeitweiligen europäischen Bündnisses hingewiesen.