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Urteilen und Könnerschaft in der Theorie des impliziten Wissens

3 Theoretische Fundierung

3.7 Urteilen und Könnerschaft in der Theorie des impliziten Wissens

3.7 Urteilen und Könnerschaft in der Theorie des impliziten

ob die Patientin unruhig ist, ob das Gesicht entspannt ist, die Stirn sich runzelt oder ob sich ein spastisches Muster im Vergleich zu einer vorgängigen Situation verstärkt hat. Sie wird in den Prozess integrieren, ob die Patientin unruhig mit den Augen hin und hergeht oder ob sie diese geschlossen hat bzw. ob sie ruhig das Geschehen um sich herum verfolgt. Zudem wird ihr theoretisches Wissen zu Apoplex, Spastik, Lage-rung, nonverbale Kommunikation, Dekubitusentstehung usw. Einfluss auf ihre Ent-scheidung haben. Dies alles sind Beispiele für eine Vielzahl von Hinweisen, welche die Pflegekraft für eine implizite Integration nutzt. Die einbezogenen Subsidien weisen also auf einen Gesamtkontext hin.

Einige dieser Elemente wird sie vielleicht ganz bewusst wahrnehmen, andere hingegen werden sich für sie unbewusst in das Gesamtbild integrieren. Selbst wenn sich die Pflegekraft Teile ihres Hintergrundes bewusst machen würde, wäre sie auf gar keinen Fall in der Lage, eine allgemeingültige, explizite Regel aufzustellen, die hinreichend erklären könnte, welche Faktoren wie zusammentreffen müssten, damit die Folgerung, ein Mensch liege entspannt im Bett, zutreffend sei. Dies zeigt die Nichtformalisierbar-keit von Wissen. Vielmehr integriert sie implizit Interpretationen von Wahrnehmungs-eindrücken und theoretischem Wissen, wie zum Beispiel das Konzept der Basalen Stimulation oder Bobath. Diese geben der Pflegekraft einen bestimmten Blickwinkel und Interpretationsrahmen vor, den sie benutzt, um zu einer Integration zu gelangen.

Sie wird sich dabei auf die Validität dieser Konzepte und der Subsidien verlassen.

Die Subsidien werden dabei nicht einzeln fokussiert, sondern sind in den Gesamtkon-text eingebettet. Die Pflegekraft nutzt sie funktional, indem sie von ihnen ausgehend auf das Gesamte achtet. Diese Einbettung transformiert die Einzelelemente zu einer in diesem Zusammenhang stimmigen Bedeutung. Der Muskeltonus, die Atmung, die Augenbewegung usw. werden nicht einzeln explizit wahrgenommen, sondern phäno-menal und bekommen dabei im Kontext ihre Bedeutung. Dies wird von Polanyi als semantischer Aspekt bezeichnet und wird an einer in Falten geworfene Stirn der zu Pflegenden beispielhaft verdeutlicht. Diese lässt für sich genommen eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten offen. So kann die in Falten geworfene Stirn in einer Situation Erschrecken bedeuten, in einer anderen Schmerzen, in einer weiteren Nach-denken. Sie kann jedoch auch der Versuch sein, zu verstehen, was um einen herum passiert, oder die Wirkung der Sonne wiedergeben, die ins Zimmer scheint und die zu Pflegende blendet. Die Einzelelemente an sich sind zunächst einmal bedeutungslos und

werden erst durch die Konstruktion der Pflegekraft zu einem bedeutungstragenden Rahmen, der zu einem sinnvollen Urteil beiträgt. Die Pflegekraft ist als dritter Part einer impliziten Integration wesentlich an dieser beteiligt. Die Vieldeutigkeit einzelner Subsidien zeigt auf, dass es nicht möglich ist, durch das Wissen um Einzelelemente ein Urteil zu fällen. Vielmehr muss die Pflegekraft durch ein aktives Suchen nach dem Gesamtzusammenhang die Einzelelemente integrieren. Diese Ausrichtung nennt Pola-nyi Imagination, ein Erahnen der Gestalt, bevor diese sich klar und deutlich darstellt.

Das Entdecken eines Gesamtbildes wird dem Subjekt nur möglich durch Erfahrung, paradigmatische Fälle, vormals explizites Wissen, einverleibte Theorien usw. Diese werden einbezogen und richten die Subsidien intuitiv aus, um eine sinnvolle Ordnung der Elemente zu ermöglichen und damit den Gesamtkontext als klare Gestalt darzu-stellen.

Die Pflegekraft verlässt sich darauf, dass die Subsidien in einer sinnvollen Art und Weise geordnet werden. Jedoch kann ihr getroffenes Urteil falsch sein, wenn sie bestimmte Elemente zu sehr in den Vordergrund stellt und diese die nachfolgende Interpretation damit erheblich stören. Sie könnte bspw. ihren Fokus auf den im Zimmer befindlichen Lagerungsplan legen und dabei feststellen, dass die Patientin erst in einer Stunde gelagert werden muss. In dieser Situation hätte sich der distale Term verschoben. Angenommen, sie wäre eine Pflegekraft, die solch einem Plan sehr viel Gewicht beimisst, könnte das Wissen darum auch in einer Reintegration das Urteil verändern. Sie würde unter Umständen Einzelelemente anders bewerteten, um zu ihrem Urteil "Positionierung erst in einer Stunde nötig" zu gelangen. Dabei würde sie dem Protokoll ein zu großes Gewicht beimessen, nähme dieses fokal in ihr Bewusstsein und stellte sich auf die sichere Seite des expliziten Wissens über die Entstehung von Dekubiti. Andere Elemente, wie vielleicht die stockende Atmung oder die Zunahme des Muskeltonus, würden von ihr in ein Gesamtbild integriert und zurechtgerückt, das trotz der Widersprüche dann zu ihrem Urteil passt.

3.7.2 Könnerschaft und Pflegeverständnis

Es kann geschlussfolgert werden, dass Urteilskraft im Sinne Polanyis das Erkennen von Ähnlichkeiten und Mustern aus einer Vielzahl von Subsidien ist. Diese werden

kon-textabhängig14 sinnvoll integriert. Wichtig ist anzuerkennen, dass Menschen in dieser Weise zu ihren Urteilen gelangen. Für Expertise und Könnerschaft hieße es aber, sich dieser Prozesse bewusst zu sein. Dabei gilt es sich nicht nur auf die Integration zu verlassen, sondern auch der Fehleranfälligkeit Rechnung zu tragen. Das heißt, nicht blind auf ein Urteil bauen, sondern es auch in einem Prozess von Integration, Analyse und Reintegration zu überprüfen. Könnerschaft wird damit nicht zu einem statisch erreichbaren Ziel, sondern ist immer in einer dynamischen Bewegung zwischen implizi-tem und expliziimplizi-tem Wissen zu sehen. Somit bleibt auch der Könner gleichzeitig Lernender, der mit der Zeit zu immer differenzierteren Aussagen gelangt (Neuweg, 2001, S. 263ff).

Daraus lässt sich ein fall-, subjekt- und situationsorientiertes Pflegeverständnis ablei-ten. Handlungskompetent wäre eine Pflegekraft dann, wenn sie in einer konkreten Pflegesituation zu einem sinnvollen Urteil gelangt. Dabei würde sich die betreffende Pflegekraft auf ihr implizites Wissen verlassen und dennoch der Fehleranfälligkeit der impliziten Integration in soweit Rechnung tragen, dass sie in einem Wechselspiel von Analyse und Reintegration das Urteil untermauert und evtl. verändert. Ein Pflegeex-perte wäre also jemand, der Handlungen richtig durchführt und explizierbare Anteile benennen und kritisch reflektieren kann. Mangelnde Expertise würde im Gegenzug dazu führen, dass sich Menschen auf explizierbare Regeln, Anordnungen und Stan-dards verlassen und diese umsetzen. Dies führte dann zu einer einseitig funktionalisti-schen Ausrichtung, da der Einzelfall oder die Situation in einer solchen Sichtweise nicht mit bedacht werden kann.

Das Urteil ist eingebettet in einen interaktiven Prozess, in dem sich Bedeutung heraus-schälen kann. Die dabei integrierten Subsidien von interaktiven Elementen wie bspw.

Atemrhythmus, Muskelspannung usw. bleiben bei der Ausführung der Bewegungssitua-tion implizit und doch sind es InterakBewegungssitua-tionselemente, die Einfluss auf das Urteil und die weitere Interaktionshandlung der Pflegekraft nehmen.

Wurde bisher herausgearbeitet, dass Handeln immer auf Interaktionen aufgebaut ist, wie diese Interaktionen aussehen können und wie berufliches Handeln mit

14 Analytisch unterscheidet Neuweg dabei zwei Formen von Kontextualität. So bezeichnet er den inneren Kontext als „die Aufgehobenheit des Elements im Ganzen“. Unter dem äußeren Kontext versteht er die

„Aufgehobenheit dieses Ganzen in einem Umfeld“ (vgl. Neuweg, 2001, S. 289).

schaft und einer Form von Urteilsbildung beschrieben werden kann, so soll in einem letzten Schritt deutlich werden, dass Interaktionen immer das zentrale Element von pflegerisch-professionellem Handeln sind. Dabei wird auf die Aufwertung von Erfah-rungswissen, wie sie durch die hier vorgenommene Konzeption des Handlungswissens mit Hilfe der Theorie von Michael Polanyi vorgenommen wurde, Bezug genommen.

Eingeordnet werden diese Elemente in das Konzept des subjektivierenden Arbeitshan-delns, das von Fritz Böhle formuliert wurde.