• Keine Ergebnisse gefunden

Die totalitäre SED-Diktatur

Im Dokument Politik und Film in der DDR (Seite 49-69)

Mit dem Totalitarismusbegriff72 soll in Anknüpfung an die wissenschaftli-chen Traditionen der Arbeiten von Hannah Arendt, Carl J. Friedrich und Zbigniew Brzesinski ein auf totale Unterwerfung von Gesellschaft und Indi-viduen zielender, weder durch Menschen- und Grundrechte noch durch Ge-waltenteilung charakterisierter Typus politischer Herrschaft gekennzeichnet werden. Der Totalitarismus-Begriff dient also dazu, „etwas zu bezeichnen, das es in der Geschichte bis dahin nicht gegeben hatte und vielleicht auch nicht einmal hatte geben können: den ernstlichen Versuch nämlich, von einem einzigen leitenden Zentrum her Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, Kultur und Erziehung und schließlich auch das individuelle Leben der ein-zelnen Bürger, kurzum das ‚Totum’ eines Gemeinwesens zu erfassen und zu gestalten“; dabei lässt sich der Begriff des Totalitären „gerade an den komm-unistischen Regimen des 20. Jahrhunderts erst in seiner vollen Bedeutung entfalten; während die faschistischen Diktaturen und auch der Nationalsozia-lismus diesem Begriff nur zum Teil entsprochen haben.“ 73

Das Ende des Zweiten Weltkriegs im Mai 1945 bedeutete unter diesem As-pekt eine folgenreiche Zäsur im 20. Jahrhundert, dem „Zeitalter des Totalita-rismus.“74 Das Jahr 1945 bedeutete nämlich „das Ende der einen Erschei-nungsform totalitärer Herrschaft, der faschistischen beziehungsweise natio-nalsozialistischen. Die andere, die kommunistische, ging gestärkt aus dem Zweiten Weltkrieg hervor. Die Sowjetunion konnte ihren Einflußbereich bis weit in die Mitte Europas hinein ausdehnen.“75 Allen Staaten des

bis zur Gegenwart, München 1999, S. 467. In Deutschland „aus dem Ersten Weltkrieg, in Rußland dazu noch aus revolutionärem Bürgerkrieg, in China aus dem zweiten Weltkrieg und revolutionärem Bürgerkrieg.“ Reinhard, a. a. O., S. 468.

72 Vgl. zur Diskussion u. a.: Seidel, Bruno u. Siegfried Jenkner (Hrsg.), Wege der Totalita-rismus-Forschung, Darmstadt 1968; Funke, Manfred (Hrsg.), Totalitarismus. Ein Studien-Reader zur Herrschaftsanalyse moderner Diktaturen, Düsseldorf 1978; Jesse, Ekkehard (Hrsg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1996; Söllner, Alfons: Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997; Linz, Juan J., Totalitäre und autoritäre Regime, Berlin 2000 (1975); Vetter, Matthias, Terroristische Diktaturen im 20. Jahrhundert. Strukturelemente der nationalso-zialistischen und stalinistischen Herrschaft, Opladen 1996.

73 Koenen, Gerd, Utopie der Säuberung, a. a. O., S. 17.

74 Jesse, Eckard, 1917 – 1933 – 1945 –1989. Das 20. Jahrhundert als Zeitalter des Totalita-rismus, in: Heydemann, Günther u. E. Jesse, Diktaturvergleich als Herausforderung, Ber-lin 1998, S. 23 – 40.

75 Winkler, Heinrich August, Der lange Weg nach Westen, Bd. 2, München 2000, S. 116.

schen Imperiums wurde nach 1945 eine am sowjetischen Modell orientierte politische Ordnung oktroyiert. Die totalitäre Entscheidungs- und Gewalten-konzentration und die Nutzung des Staats durch die jeweiligen kommunisti-schen Parteien bezweckte eine umfassende Lenkung und Kontrolle aller gesellschaftlichen Bereiche und sollte dem programmatischen politischen Ziel der Errichtung einer kollektivistisch und zentralistisch organisierten sowie sozial homogenisierten „Neuen Gesellschaft“ und der Schaffung eines

„Neuen Menschen“ dienen.

Es lassen sich die folgenden Merkmale dieser politischen Ordnung mit totali-tären Herrschaftsanspruch feststellen: eine das politische und soziale Leben dominierende und mit dem Anspruch auf Alleingültigkeit auftretende Ideo-logie, eine auf einen Führer zentrierte Einheitspartei, eine systematisch über-wachende Geheimpolizei sowie die terroristische Ausgrenzung bzw. Liquid-ierung des „Feindes“, eine zentral gelenkte Wirtschaft sowie schließlich ein Monopol der Medien und der Gewaltmittel. Diese „ sechs Wesenszüge, die untereinander in enger Verbindung“ stehen, bestimmen „den Charakter der totalitären Diktatur“76; sie gelten gleichermaßen zur Bestimmung der natio-nalsozialistischen wie der kommunistischen Regime.

Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ist wesentlich geprägt von der

„totalitären Erfahrung“ (Bracher), die sich in der faschistischen, der national-sozialistischen und der kommunistischen Form als politische Herrschaft ausgestaltet hat. Sowohl die nationalsozialistische als auch die kommunisti-sche Diktatur weisen bei aller Gegensätzlichkeit ihrer sozialen und ideolo-gischen Positionen und Ziele in ihrer jeweiligen Herrschaftspraxis, in den Methoden und Techniken der Kontrolle, der ideologischen Steuerung, Erzie-hung und Mobilisierung der Menschen unverkennbare Ähnlichkeiten auf.

Daraus ergibt sich die Folgerung: „Die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts und ihre Taten sollten als wissenschaftlich vergleichbar gelten.“77

Gerade im Vergleich der kommunistischen Herrschaft mit der Herrschaft des Nationalsozialismus lassen sich Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen

76 Friedrich, Carl J. , Totalitäre Diktatur. Unter Mitarbeit v. Z. Brzezinski, Stuttgart 1957, S.

19.

77 Rudzio, Wolfgang, Die Aufarbeitung des Totalitarismus – Eine politikwissenschaftliche Kontroverse, in: Kevenhörster, Paul, Dietrich Thränhardt (Hg.): Demokratische Ordnun-gen nach den ErfahrunOrdnun-gen von Totalitarismus und Diktatur. Eine international verglei-chende Bilanz, Münster 2003, S. 47 - 61, hier: S. 60.

sowie Unterschiede und Gegensätze dieser beiden totalitären Herrschafts-formen zeigen. Es ist eine Selbstverständlichkeit, die dennoch auch in die-sem Kontext immer wieder zu betonen ist, dass Vergleich nicht Gleich-setzung bedeutet. Vergleich ist eine Grundoperation aller Wissenschaften, deren Ziel die Bezeichnung der differentia spezifica zwischen den Dingen ist. Dabei kann es freilich unangemessene Vergleiche moralischer Art geben, aber dies trifft in diesem Fall nicht zu: „Von den großen Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts, die hier zur Debatte stehen, kann man wohl kaum sa-gen, daß sie nach moralischen und rechtlichen Maßstäben ‚unvergleichbar’

seien (...). Wer die Vernichtung einer bestimmten Kategorie von Menschen - etwa der Kulaken oder anderer Volksfeinde der Sowjetunion - für historisch verständlicher oder sogar begründeter erklären wollte als die einer anderen Kategorie von Menschen - etwa der europäischen Juden - , landet bei einer ziemlich zynischen Argumentationsweise.“78

Eine Gemeinsamkeit der Totalitarismen tritt sofort hervor: Beiden ist die entschiedene Gegnerschaft zum liberal-demokratischen Rechtsstaat gemein-sam; „dies ist eine fundamentale, auch ideologisch destruktive Gemeinsam-keit totalitärer Ideologien im 20. Jahrhundert.“79 Beide totalitären Herr-schaftssysteme waren entschlossene Feinde der „offenen Gesellschaft“ (Pop-per); sie unterwarfen das Individuum und die Gesellschaft ideologisch, poli-tisch und organisatorisch dem Monopolanspruch einer Partei; „beide verletz-ten systematisch Menschen- und Bürgerrechte, beiden fehlte die Begrenzung

78 Koenen, Gerd, Utopie der Säuberung, a. a. O., S.17. Es gibt es wichtige Unterschiede zwischen beiden Totalitarismen, aber sie bedeuten hierfür nichts: „Deshalb geht es auch nicht an und ist eine Form des moralischen Relativismus wie er auf der Linken und in ei-nem breiten, liberalen juste milieu gang und gäbe war -, den ‚utopischen’ ,‚univer-salistischen’ und `im Kern humanistischen’ Charakter des Kommunismus als eine schüt-zende Folie zwischen sich und die historische Realität zu legen ...“ Koenen, Utopie der Säuberung, a. a. O., S. 18. Zur „intellektuellen Erbschaft linker Bewegungen“ gehört es,

„bei unangenehmen Sachverhalten nicht zu fragen: Stimmt das - und welche Konsequen-zen sind zu ziehen, falls es stimmt?, sondern: Wessen Interessen nutzt die Veröffent-lichung der in Frage stehenden Fakten“ - Christian Semler: Das Elend linker Immunisie-rungsversuche, in: die tageszeitung 30./31. 05. 98; vgl. dazu Werner Müller, Im Namen des Marxismus-Leninismus. Das Schwarzbuch des Kommunismus und seine Kritiker, in:

Deutschland Archiv 6/98 S. 1006 ff.

79 Möller, Horst, Zur Auseinandersetzung mit den beiden Diktaturen in Deutschland in Vergangenheit und Gegenwart, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag , neun Bde. in 18 Teilbänden, Baden-Baden- Frankfurt/M. 1995, Band IX, S.580.

der Macht durch Recht und Gesetz. Ebenso fehlte ihnen die Absicherung relativ autonomer gesellschaftlicher Teilbereiche und der Schutz des Priva-ten. Offene oder kaum verschleierte Ein-Partei-Herrschaft, der Ausschließ-lichkeitsanspruch einer institutionalisierten Ideologie und die Ablehnung von Pluralismus in Staat und Gesellschaft kennzeichneten beide Systeme. Beide Regime setzten moderne Massenbeeinflussungs- und Massenüberwachungs-mittel ein, sie negierten die Meinungs- und Versammlungsfreiheit für poli-tisch Andersdenkende, sie tabuisierten oder verfolgten jede Opposition.

Beide Systeme wollten die Gesellschaft umgestalten und den `neuen Men-schen` erziehen – allerdings mit sehr unterschiedlichen Zielen, Methoden und Folgen.“80

Damit wird auch bereits einer der wesentlichen Unterschiede deutlich: es hat

„in der DDR systematischen, staatlich sanktionierten Massenmord, der auch nur entfernt der nationalsozialistischen Vernichtung der Juden und anderer als ‚volksfremd’ oder ‚rassisch minderwertig’ erklärten Minderheit geähnelt hätte, nicht gegeben“81 Auch ist von der DDR „kein Krieg ausgegangen, der auf Eroberung von ‚Lebensraum’ und die Vernichtung oder Versklavung als minderwertig definierter Völker gerichtet war.“82

Im Gegensatz zum jeweiligen Selbstbild, das eine strikte Opposition unter-stellte, weisen Nationalsozialismus und Kommunismus also erhebliche Ge-meinsamkeiten auf. Neben die Gegnerschaft zur liberal- rechtsstaatlichen Demokratie und der Negation ihrer Kernelemente der institutionell ver-ankerten Freiheits- und Bürgerrechte, der Gewaltenteilung und der Herr-schaft des Rechts tritt ein weiteres: Beide Regime stützten ihre HerrHerr-schaft auf die Selbst-Legitimation aus geschichtsmetaphysischen bzw. rasse-biologistischen Weltanschauungen und negierten das Erfordernis einer de-mokratischen Legitimation.

80 Bericht der Enquete Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ vom 31. Mai 1994, Themenfeld I: Machtstrukturen und Ent-scheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, a. a. O., Bd. 1, S. 201 – 258, hier S. 212.

81 Ebd.

82 Bericht der Enquete Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, a. a. O., S. 744.

Zu diesen negativen, aus der Frontstellung gegen die liberale Demokratie abgeleiteten Gemeinsamkeiten, ergeben sich weitere relevante Gemeinsam-keiten aus ihrer jeweiligen Spezifik: „Während die stalinistische Herrschaft entsprechend dem kommunistischen Glauben historische Zeit zu beschleuni-gen sucht und dabei bereit war, Verganbeschleuni-genes wie Gebeschleuni-genwärtiges einer ver-meintlich besseren Zukunft zu opfern, stemmte sich der Nationalsozialismus durch seine biologistische Fiktion von Gesellschaft, der Rasse, gegen den Lauf der Zeit. Das geschichtsphilosophische Vorhaben von Beschleunigung oder Aufhalten der Zeit erhebt sich über den einzelnen und verbraucht ihn als bloßes Material eines Weltprojekts, ob im Namen einer universellen Menschheit oder einer zu züchtenden Rasse. Beide Projekte sind auf eine Utopie hin angelegt und bedürfen zu ihrer Realisierung anstaltlicher Gewalt.

Durch ihre ungeheuerlichen Verbrechen haben sich beide Regime als Zwil-lingspaar des Schreckens in das Gedächtnis des 20. Jahrhunderts einge-kerbt.“83

Die Gemeinsamkeiten der Totalitarismen lassen sich daher wie folgt resü-mieren:

Der Herrschaftsanspruch auf totale Verfügungsgewalt einer omniszienten, omnipotenten und omnipräsenten Partei und ihrer Führung, die alle anderen politischen Parteien und selbständigen gesellschaftlichen Gliederungen aus-schaltet bzw. gleichaus-schaltet.

Der totalitäre Ein-Parteien-Staat stützt sich dabei auf eine pseudo - wissen-schaftliche Ideologie mit Wahrheitsmonopol und Ausschließlichkeitsan-spruch, die die rigorose Unterdrückung jeglicher Opposition und die Formie-rung der Staatsbürger zu einer homogenisierten Einheit sowohl historisch wie utopisch begründet und legitimiert.

Eine umfassende Kontrolle und Überwachung der Bevölkerung durch die Geheimpolizei, die Internierung politischer Gegner sowie die perfektionierte Indoktrination durch ein Medienmonopol, das zugleich das Bild eines dämo-nisierten Feindes konstruiert, sollen der Parteiführung die Macht sichern helfen.

83 Diner, Dan, Gedächtnis und Erkenntnis. Nationalismus und Stalinismus im Vergleichs-diskurs, in: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens, 50. Jahrgang, Heft 6, Juni 2000, S. 698 - 708, hier. S. 702.

„Mit dem Anspruch auf völlige Verfügung über Leben und Glauben seiner Bürger verneint der totale Staat jedes Recht auf Freiheit, jeden letzten Wert und Zweck neben sich selbst als der allein verbindlichen `Totalität aller Zwecke`“. 84

Auf die Ebene des vorliegenden Untersuchungsgegenstandes rückbezogen, ergibt sich daraus folgende Feststellung: Die Herrschaftsgeschichte der DDR zählt zu den „am ausgiebigsten und genauesten“ erforschten Gebieten, die

„Institutionen und Instrumente, das Personal, die Orte und die Methoden der Herrschaft, der Unterdrückung, der Verfolgung, der Diktatur, auch des Ter-rors“ sind weitgehend bekannt: „Damit ist der diktatorische Charakter der DDR scharf und akzentuiert herausgearbeitet worden. Zwar hat sich hin-sichtlich der begrifflichen Kategorisierung keine Einigkeit ergeben. Doch ist die Kennzeichnung ‚totalitär’ heute viel breiter akzeptiert als in den 80er Jahren...“85 Seit dem Ende des Kommunismus ist es auch in der Aufarbei-tung der SED-Diktatur möglich geworden, die Instrumentalisierung des Begriffs Totalitarismus als „Kampfbegriff des kalten Krieges“86 zu überwin-den. Damit ist auch deutlich geworden, dass er „einen notwendigen Typen-begriff“ darstellt, mit dessen Hilfe es gelingt, „das Neu- und Andersartige im Vergleich zu autoritären Systemen zu erfassen. Als Syndrom von Merkma-len (Reichweite, Ideologie, Terror, Machtkonzentration, Massenbewegung) bildet er einen brauchbaren Typenbegriff, der ... auch Unschärfen enthält und unterschiedliche Varianten umfasst.“87

Die Übereinstimmung der im übrigen unterschiedlichen wissenschaftlichen Positionen eröffnet die Möglichkeit, wie Habermas es formuliert hat, endlich zur Etablierung eines „antitotalitären Konsens“ zu gelangen, „der diesen Namen verdient, weil er nicht länger selektiv ist. Jedenfalls können liberale Haltung und demokratische Gesinnung der Geburtshilfe durch Antikommu-nismus oder Antifaschismus erst dann entbehren, wenn sich die politische

84 Bracher, Karl-Dietrich, Die totalitäre Erfahrung, München 1987, S. 24.

85 Kocka, Jürgen, Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Hermann Weber zum 75.

Geburtstag, in: Deutschland Archiv 36. Jg. 2003, H. 5, S. 764 – 771, hier. 765.

86 Rudzio, Wolfgang, Die Aufarbeitung des Totalitarismus, a. a. O., S. 47.

87 Rudzio, Wolfgang, Die Aufarbeitung des Totalitarismus, a. a. O., S. 59.

Sozialisation der Nachwachsenden nicht mehr unter dem polarisierenden Generalverdacht gegen innere Feinde vollziehen.“88

Für den vorliegenden Gegenstandsbereich muss freilich der totalitarismus-theoretisch fundierte Ansatz sich um die Einziehung dessen bemühen, was

„bei der Analyse der Herrschaftsgeschichte“ unbeachtet bleibt, nämlich jene

„weitgehend im Verborgenen gebliebenen Spuren von Gesellschaftsge-schichte“, die „sich dem totalitären Lenkungsanspruch entzogen.“89 Die Verbindung von Herrschafts- und Sozialgeschichte wird in dieser Arbeit mit der Einbeziehung des Mediums Film geleistet werden; die Paradoxie, das ein Apparat des Medienmonopols der Staatspartei, das doch der Indoktrination und Lenkung der Massen dienen soll, zugleich Auskunftsmittel über sozial relevante Sinnbildungsprozesse gegen die Indoktrination sein kann, ist leicht aufzulösen: sie liegt begründet in der Ambivalenz des Mediums als Teil des Herrschafts- und des Lebensweltdiskurses. Gleichwohl ist für eine metho-disch reflektierte und gegenstandsadäquate Untersuchung die Kategorie

„Totalitarismus“ unverzichtbar; Francois Furet hat die Bedeutung dieser Kategorie deutlich herausgestellt: „Der Bolschewismus unter Stalin und der Nationalsozialismus sind im 20. Jahrhundert die beiden prägnantesten Bei-spiele für totalitäre Regime. Sie sind nicht nur vergleichbar, sondern sie bilden eine Art politischer Kategorie, die seit Hannah Arendt Anwendung findet. Es handelt sich hierbei nicht um eine allgemein anerkannte Kategorie, doch mir ist keine andere Konzeption bekannt, die so treffend wäre für die Definition eines Regimes oder einer atomisierten Gesellschaft, die aus Indi-viduen besteht, denen systematisch jegliche politische Einbeziehung vorent-halten wird und die der ‚totalen’ Herrschaft einer ideologischen Partei und ihres politischen Führers unterstehen. Da es sich um einen Idealtypus han-delt, beinhaltet diese Vorstellung nicht, daß beide Staatsformen identisch oder in jeder Beziehung vergleichbar wären (...). Dennoch ist den beiden Regimen, und dieses Merkmal kommt nur ihnen zu, die Zerstörung der staat-lichen Ordnung durch die absolute Unterwerfung der Individuen unter ihre

88 Habermas, Jürgen, Die Bedeutung der Aufarbeitung der Geschichte der beiden deutschen Diktaturen für den Bestand der Demokratie in Deutschland und Europa, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, a. a. O., Bd. IX, S. 690.

89 Schroeder, Klaus, Die DDR: eine (spät-)totalitäre Gesellschaft, in: Anatomie der Partei-zentrale. Die KPD/SED auf dem Weg zur Macht, hrsg. von Manfred Wilke, Berlin 1998, S. 525-562, hier: S. 525.

Ideologie und unter den Terror des Einparteienstaates gemeinsam. In beiden Fällen – und zwar nur in diesen beiden Fällen – hat die Mythologie der Ein-heit des Volkes innerhalb und durch den Einparteienstaat – unter der Leitung eines unfehlbaren Führers – Millionen von Opfern gefordert (...) Es ist rich-tig, daß die ‚totalitären’ Gemeinsamkeiten der beiden Systeme die scheinbar offenkundige ideologische Gegensätzlichkeit widerlegen. Das national-sozialistische Deutschland gehört zur Familie der faschistischen Regime, während das stalinistische Rußland der bolschewistischen Tradition ent-stammt. Hitler imitierte Mussolini, während Stalin Lenins Lehren folgte.

Diese Einordnung ist ideengeschichtlich beziehungsweise intentional be-gründet, denn es lassen sich zwei revolutionäre Zielsetzungen erkennen: die eine beruht auf dem Besonderen, auf Nation und Rasse, die andere auf dem Universellen, wenn man davon ausgeht, daß die Befreiung der Arbeiterklasse derjenigen der gesamten Menschheit vorausgeht. Dieser klassische Gegen-satz in der Begrifflichkeit beider Ideologien ist kein Hindernis dafür, daß die eine wie die andere geschlossene, der Geschichte der Menschheit immanente Interpretationssysteme begründet, aus der jede von ihnen eine Art Heilsver-sprechen angesichts des Elends des bürgerlichen Egoismus bezieht.“90 Es gibt eine Reihe von Vorschlägen einer Differenzierung des totalitären Charakters der SED-Herrschaft, in der eine frühe totalitäre Phase von einer spät-totalitären91 unterschieden werden soll; diese begrifflichen Differenzie-rungsversuche erscheinen, trotz unbezweifelbarer Wandlungen der SED Herrschaftspraxis, in heuristischer Sicht wenig ertragreich.

1.1.2 Ideologie und Gewalt

Das totalitäre Herrschaftssystem der SED in der DDR hatte ein doppeltes Fundament: die Präsenz der sowjetischen Garantiemacht mit ihren militäri-schen Gewaltmitteln92 bildete ihre conditio sine qua non, den Boden, aus dem eine zweite Grundlage erwachsen sollte: ihre alle politischen und

90 Furet, F., Das Ende der Illusion, a. a. O., S. 237 f.

91 Vgl. dazu u. a. Klaus Schroeder, Die DDR: eine (spät-) totalitäre Gesellschaft, in: Wilke, Manfred (Hrsg.), Anatomie der Parteizentrale, a. a. O., S. 525 – 562.

92 Vgl. dazu u .a. : „Das System der SED-Diktatur konnte in erster Linie deshalb vier Jahr-zehnte überdauern, weil die Sowjetunion seine Existenz garantierte.“, Bericht der Enque-te Kommission „Aufarbeitung von GeschichEnque-te und Folgen der SED-Diktatur in Deutsch-land“, a. a. O., Bd.1, S. 201 – 258, hier S. 213. - „Wesentliche Grundlage der über vier-zigjährigen SED-Diktatur war der totalitäre Machtanspruch der sowjetischen und deut-schen Kommunisten.“ , Bericht der Enquete-Kommission, Bd.1, a. a. O., S. 208.

schaftlichen Bereiche überwölbende Ideologie. Dieses ideologische Funda-ment verschaffte den politischen „Hoffnungsschwärmern“, die sich „im Bunde wähnen mit dem Weltgesetz der Geschichte“93 und daraus die Sus-pension der Gegenwart im Namen einer besseren Zukunft ableiteten, die Gewissheit, als Funktionäre einer „historischen Mission“94 zu handeln.

Durch ihre Politik der Vertagung der „Parusie des menschlichen Glücks“, des Aufschubs also seiner Anwesenheit in die beanspruchten „über-dimensionierten Zeiträume“ einer anthropozentrischen Teleologie, mit der

„die Gegenwart als notwendige Vor- und Durchgangsstufe zu jener fernen Zukunft“ des Kommunismus gerechtfertigt erscheinen sollte, mußte der Mensch als Individuum „seine Nichtigkeit und Ohnmacht gegenüber der Zeit als dem Allesvermögen empfinden.“95

Exkurs: Real existierender Sozialismus – eine begriffliche Klarstellung Die Verwendung des Menschen für den „Diesseitsheilweg“ (Odo Marquardt) - das ist das entscheidende Kennzeichen der Herrschaft der SED unter dem Aspekt ihrer Fundierung durch die zur Staatsideologie erhobene „Lehre des Marxismus-Leninismus.“ Dies ist aber zugleich das Kennzeichen kommunis-tischer Herrschaft überhaupt. Eine nicht nur terminologisch bedeutsame Begriffsklärung ist daher in diesem Kontext erforderlich im Hinblick auf den Gebrauch des Ausdrucks „real existierender Sozialismus“. Der heute gängig gewordenen Verwendung dieser Formel für die kommunistische Herrschaft schlechthin, bezogen auf die DDR also als Synonym für die gesamte Dauer der SED-Diktatur, ist zu widersprechen; sie übersieht eine wesentliche Diffe-renzierung in der Herrschaftsgeschichte der kommunistischen Staatenwelt und damit auch der SED, nämlich den „Verlust der Utopie“, an deren Stelle ein nicht-utopischer, eben ein „realer“ Sozialismus getreten sein sollte. Dies ist ein blockweit auftretender Vorgang, er wird belegt mit der Formel vom

„real existierenden Sozialismus“.

93 Blumenberg, Hans, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt./M. 1981, S. 31.

94 Programm der SED, zit. nach: Programm und Statut der SED vom 22. Mai 1976 mit einem einleitenden Kommentar von Karl Wilhelm Fricke, Köln 21982, S. 46.

95 Blumenberg, Hans, Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt / M.

31997, S. 257.

„Dieser Begriff ist von Erich Honecker wohl erstmals auf der 9. Tagung des ZK der SED am 28./ 29. 5. 1973 gebraucht worden. ... Er findet sich seitdem sowohl bei Honecker selbst als auch in anderen Publikationen der DDR.“96 Diese Formel sollte die neue Konzeption der SED-Politik nach dem VIII.

Parteitag kennzeichnen, in der der Abschied von der ‚Utopie’ zugunsten des

‚real Möglichen’ als „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ vollzogen wurde. Dies bedeutet auch einen Wandel der „Legitimationsgrundlage“ der Herrschaft, die sich nicht auf zukünftig zu erreichendes Glück bezieht, son-dern auf die reale „Verbesserung des materiellen und kulturellen Lebensni-veaus“. Die herrschaftsbedrohende Problematik in die die SED sich damit begeben hat, nämlich am realen Erreichen der versprochenen Verbesserung von den Beglückten der Wohltaten auch gemessen zu werden, hat Siegrid Meuschel betont; der DDR-Dramatiker Heiner Müller hat darin messerscharf die Gefahr für das „Projekt des Sozialismus“ erkannt und statt dessen eine neue „Utopie“ gefordert.

Ende 1985 beschwört Müller den revolutionären Elan und betont die Not-wendigkeit der Utopie: „Was wir brauchen, ist mehr Utopie. Und das ist gefährdet, die Utopie, hier. Vor allem der Wille zur Utopie ist in Gefahr, durch Alltag paralysiert zu werden, und da muß man aufpassen. Diesen Wil-len darf man sich nicht nehmen lassen. Was gebraucht wird, ist, wie gesagt mehr Utopie, mehr Phantasie und mehr Freiräume für Phantasie. (...) Das Wichtigste scheint mir im Moment doch, daß es ... um die Herausbildung von Eliten geht. Ich weiß, das Wort hat einen Blutgeruch. Was ich meine, ist eine Avantgarde, die bereit und fähig ist, auch die Risiken von Produktivität zu tragen. ... darauf muß man bestehen, auf der Kritik der Bedürfnisse, und das wäre unsere Aufgabe bei gleichzeitiger Befriedigung der Bedürfnisse.

...Wir müssen uns darauf einstellen, daß eine sozialistische Gesellschaft, der Staat, in ihrer historischen Situation die DDR, eine Vorhut braucht. Sie muß in Stand gesetzt werden, auch eine Talsohle zu überstehen ohne Verlust an utopischer Kraft. Das ist eigentlich die Aufgabe, auch von Literatur.“97

96 Zimmermann, Hartmut, Die DDR in den 70er Jahren, in: Günter Erbe u. a..: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in der DDR, Opladen 1979, S. 79 Fn 29. Vgl. dazu Hone-cker, Erich, Die Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei in der sozialistischen Gesell-schaft, Berlin 1974, S. 317.

97 Ulrich Dietzel, Gespräch mit Heiner Müller: in: Sinn und Form, 37. Jg. 1985, H. 6, S.

1215 ff. Vgl. zur Erfüllungsfalle: Meuschel, S., Legitimation und Parteiherrschaft, a. a.

O., S. 221 ff; zu Müllers Meinung im politischen Kontext vgl. Finke, K., Utopie und

Im Dokument Politik und Film in der DDR (Seite 49-69)