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Theoretische Grundlagen des Kinästhetik-Konzeptes

4 Bewegungskonzepte und Interaktion

4.3 Die Kinästhetik

4.3.2 Theoretische Grundlagen des Kinästhetik-Konzeptes

Hatch und Maietta geben die Verhaltenskybernetik, die Humanistische Psychologie und den Modernen Tanz als Einflussfaktoren auf die Entwicklung des Kinästhetik-Konzeptes an (Hatch, Maietta, et al., 1996, S. 20). Dezidiert gehen sie dabei auf die Verhaltenskybernetik ein, die anderen beiden Einflussfaktoren werden nicht explizit vorgestellt (Hatch, Maietta, 2003 S. 198 ff). Ihre Bedeutung bildet sich in den Veröf-fentlichungen bestenfalls implizit ab. Überhaupt ist eine klare Zuordnung der theore-tischen Annahmen und Ableitungen aufgrund der Literatur nicht möglich. Legt man die ausgearbeiteten bewegungswissenschaftlichen Kategorien an das

Kinästhetik-Konzept an, zeigt sich, dass sich die Kinästhetik-Konzeptionen sowohl der Biomechanik als auch des Regelkreises als zentrale Elemente wiederfinden lassen. Die Grundlegung der kybernetischen Regelkreise findet sich auch in der Motorikforschung der Bewegungs-wissenschaften und bietet sich als Bewegungserklärung „von innen“ heraus an. Die äußeren Prozesse werden in der Kinästhetik über die funktionale Anatomie und durch biomechanische Prozesse erklärt, ohne dabei jedoch konkret auf Grundlagenforschung in diesem Bereich einzugehen. So wird bspw. dargelegt, dass Spiralbewegungen weniger Anstrengung benötigen als Parallelbewegungen und darauf verwiesen, wie das Gewicht zu welchem Zeitpunkt Einfluss auf die Bewegung nimmt. Dabei wird mit physikalischen Grundlagen argumentiert, ohne diese explizit herauszuarbeiten und bzw. auf die Quellen hinzuweisen. Das erschwert eine klare Zuordnung und lässt gleichzeitig Fragen in Bezug auf die konkrete Gestaltung von Bewegungssituationen offen. So führen die Ausführungen von Hatch und Maietta über Massen und Zwi-schenräume, also von stabilen und beweglichen Anteilen des Körpers, zu sieben Grundpositionen, die in der Bewegungsgestaltung umgesetzt werden:

„Wir betrachten sie zum einen als Grundpositionen, weil sie die stabilsten Kombi-nationen zur Organisation der sieben Körpermassen in unterschiedlichen Haltun-gen darstellen. Sie sind auf der anderen Seite grundleHaltun-gend, weil sie das mechani-sche Ergebnis einer schrittweisen und vollständigen Nutzung der stabilen und in-stabilen Bewegungsressourcen sind, die für die Anordnung der Massen und Zwi-schenräume des menschlichen Körpers charakteristisch sind.“ (Hatch, Maietta, 2003, S.92).

Aussagen wie diese können richtig sein. Es fehlen an dieser Stelle jedoch eindeutige Hinweise, auf welche funktionalen oder mechanischen Grundlagen sie sich stützen.

Diese Problematik erschwert einen Zugang zu der Konzeption und den theoretischen Einordnungen. Ergänzend zu den auch in der Bewegungsforschung etablierten Grund-lagen der Kybernetik wie sensomotrischer Kreislauf, Feedbackkontrolle usw. integriert die Kinästhetik in ihren theoretischen Grundlagen aus der Verhaltenskybernetik ein Interaktionsmodell, das darüber hinausgeht, Menschen rein funktional als informati-onsverarbeitendes System zu betrachten. Es bleibt im Modell des kybernetischen Kreislaufes und bezieht sich auf die Theorie des „Social Tracking“:

„Das Konzept des Social Tracking besagt, dass zwei oder mehrere Personen, die in einem geschlossenen motorisch-sensorischen Kreislauf interaktiv miteinander

verbunden sind, in dem sie gegenseitig den sensorischen Input des jeweiligen an-deren durch Berührung kontrollieren ihre Bewegung aufeinander abstimmen.“

(Hatch, Maietta, 2003, S. 208).

Damit ist also gemeint, dass über die gemeinsame Gestaltung von Bewegungen ein interaktiver Abgleich beider Beteiligten über die Sensomotorik erfolgt und sich Bewe-gungen dadurch synchronisieren und zu einer gemeinsamen Bewegung werden können.

Die Kinästhetik nennt dies eine „gleichzeitige gemeinsame Interaktion“ und grenzt davon die „schrittweise Interaktion“ und die „einseitige Interaktion“ ab. Bei der

„schrittweisen Interaktion“ kommt es zu einer längeren zeitlichen Verzögerung des Miteinander-Gestaltens, während bei der „gleichzeitig gemeinsamen Interaktion“ die zeitliche Amplitude von Aktion und Reaktion nicht mehr auszumachen ist, sondern ein ständiges aufeinander Eingehen zu einer gemeinsamen Durchführung der Bewegung leitet. Einseitige Interaktion findet dann statt, wenn jemand eine Aufforderung gibt, den Arm zu bewegen. Der Ausführende muss jedoch dann in der Lage sein, diese Aufforderung kognitiv zu verstehen und körperlich funktional auch durchzuführen. Je mehr Einschränkungen bei den zu Pflegenden vorhanden sind, umso wichtiger ist es nach dem Konzept der Kinästhetik, einen geeigneten anderen Kommunikationskanal zu finden, wobei die gemeinsame sensomotorisch fundierte Kommunikation über Berührung als zentrale Vermittlung herausgehoben wird15 (Hatch, Maietta, 2003, S.

41f, S. 83ff, Citron, 2004, S. 10f). Während die von Hatch angeführten Studien vor allem aus den 70er-Jahren sind, nutzen Ansätze aus jüngerer Zeit auch neurobiologi-sche Erkenntnisse als theoretineurobiologi-schen Bezugsrahmen (Kaufmann, 2007a; Kaufmann, 2007b). Dabei beziehen sich die neurowissenschaftlichen Grundlagen immer auf die Entdeckung der Spiegelzellneurone und die damit einhergehenden theoretischen

15 Berührung wird also als ein wesentliches Element angenommen, um Interaktionen zu gestalten. Diese Vorstellung findet sich auch in späteren Ausführungen dieses Kapitels wie in der Basalen Stimulation, Basalen Kommunikation und auch im Konzept von Andreas Zieger wieder. Berührung und Berüh-rungsverhalten wäre für sich eine eigene Forschungsarbeit, deren Forschungsstand hier nicht komplett dargelegt werden soll. In Deutschland hat Anke Helmbold sich in ihrer qualitativ phänomenologischen Untersuchung zur Berührung dem Thema gewidmet und dabei auch den vorhandenen Forschungs-stand aufgearbeitet. In ihrer Analyse von 24 Interviews mit Pflegenden kommt sie zu dem Schluss, dass sich Berührung klar als Interaktion verstehen lässt, wobei gerade die Kopplung von Berührung an sich und das Eingebettet-Sein in eine pflegerische Handlung interessant ist. Sie stellt deutlich heraus, dass durch Berührungen Botschaften vermittelt werden. Selbst wenn Pflegekräfte mit konkretem Handlungsziel eine Berührung eher funktional ausführen (sie benennt das als einen Aspekt von Fertig-keiten), ist auch diese Berührung eine Botschaft auf der Interaktionsebene (Helmbold, 2007). Ihre Er-gebnisse sind damit kongruent zu der in der theoretischen Fundierung der vorliegenden Arbeit heraus-gearbeiteten Annahme, dass jegliches Bewegungshandeln, das ja mit Berührung verbunden ist, auch immer eine Interaktion darstellt.

Implikationen (Rizzolatti, Arbib, 1998; Bauer, 2005; Bauer, 2007). In den dort statt-findenden Diskussionen zeigen sich Argumentationsmuster, die von einer über den Körper vermittelten Interaktionsfähigkeit ausgehen und diese als „embodied simulati-on“ bezeichnen. Spiegelzellneuronen verweisen auf das Verstehen und Einfühlen von körperlichem Ausdruck sowie auf Bewegungshandeln, ohne dass dazu eine kognitive Verarbeitung notwendig ist. Intersubjektivität ergibt sich in der neurowissenschaftli-chen Perspektive dieser Forschung dadurch, dass Spiegelzellneurone verantwortlich dafür sind, dass die gleichen Hirnareale beim Ausführenden einer Handlung wie beim Beobachter aktiviert werden und es damit zu einer Synchronisierung und einem Verstehen über den Körper kommen kann. Es gibt zunehmend Hinweise, dass auch sensomotorische Informationen über Spiegelzellen vermittelt werden, was die Idee des social tracking von neurowissenschaftlicher Seite untermauern würde (Gallese, 2007;

Gallese, 2008; Niedenthal, 2007).