Teil I: Theoretische Grundlagen und einführende Diskussion
2. Entstehungsgeschichte der ‘Taraškevica’ und ‘Narkamaŭka’
2.1. Taraškevica
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zaristischen Russland im offiziellen Gebrauch eingeschränkt oder gar verboten war (vgl. Bieder 2014a, 1417; Dingley 2001, 445 ff.; Wexler 1992, 42). Das trug dazu bei, dass die gebildeten Schichten entweder Polnisch oder Russisch sprachen, während die bäuerliche Bevölkerung belarussischsprachig war (vgl. Golz 2011, 41). Anfangs des 20. Jahrhunderts existierte im zaristischen Russland kein Volksschulwesen mit belarussischer Unterrichtssprache.31 Das geschah einerseits, weil die Nationalbewegung unter der überwiegend bäuerlichen belarussischen (zum größten Teil analphabeten) Bevölkerung nicht stark verbreitet war, andererseits die belarussische Sprache im zaristischen Russland als ein Dialekt der russischen Sprache angesehen wurde (vgl. Heyl 1992, 407). In den Städten, die damals multinational waren32 und in denen das Russische als Amts- und Kultursprache fungierte, übte die belarussische Sprache eine Randfunktion aus (vgl. Gutschmidt 2002, 331).33 In der Forschungsliteratur wird oft beklagt, dass die Belarussen jener Zeit ein mangelndes nationales Selbstbewusstsein aufgewiesen hätten, was in der damals verbreiteten Selbstbezeichnung tutėjšyja / тутэйшыя ‘die Hiesigen’ zum Ausdruck komme. So spricht Mečkovskaja (2003, 33) in diesem Zusammenhang von einer ‘gedächtnislosen Selbstbezeichnung’ (bespamjatnoe samonazvanie; s. auch Ramza 2008, 305 f.). Es ist allerdings nicht bekannt, welche Bedeutung, abgesehen von der lokalen Bindung, diese Selbstbezeichnung in jener Zeitperiode enthielt.
Peršaj (2012, 260) sieht in der Selbstidentifikation als tutėjšyja eine Taktik, die den Einwohnern des belarussischen Territoriums die Möglichkeit gegeben hat, sich einer Zuordnung zu bestimmten sozialen Kategorien, die ihnen von den ständig wechselnden politischen Regimes angeboten wurden, zu entziehen und auf diese Weise ihre soziale Mobilität zu bewahren.34 Peršaj (2012, 259) vermutet außerdem, dass die Sprache kein Kriterium darstellte, das die Zugehörigkeit zu tutėjšyja bestimmt hat: Die Sprecher der in mündlicher Form existierenden belarussischen Dialekte hatten je nach Lebenssituation im unterschiedlichen Umfang tägliche Kontakte mit anderen Sprachen wie Russisch, Polnisch, Jiddisch und konnten sich wahrscheinlich in einer dieser Sprachen verständigen.35 Diese Sprachen wurden allem Anschein nach auch nicht als Sprachen von ‘Fremden’ empfunden.36 Für die Sprache der
31 Unterricht in der belarussischen Sprache wurde von einigen Aktivisten illegal im privaten Rahmen durchgeführt (vgl. Bieder 2017b, 299). In den Jahren 1906-1907 veranstalteten belarussische Lehrer mehrere Konferenzen, in denen die Problematik der belarussischsprachigen Volksschulen diskutiert wurde. Die Teilnehmer der Konferenz wurden danach vom zaristischen Regime verfolgt und aus dem Schulunterricht auf dem belarussischen Territorium entlassen (sie durften jedoch als Lehrer auf dem russischen Territorium tätig sein) (vgl. Bieder 2017b, 300).
32 Neben der russischen Sprache war auch die jiddische Sprache in den Städten stark vertreten, denn jiddisch-sprechende Personen machten einen hohen Prozentsatz der städtischen Bevölkerung aus. Laut der Volkszählung von 1897 waren es in z.B. Vilnja 40%, in Minsk 51,2%, in Witebsk 50,8% (vgl. Marples 2001, 135).
33 Da die belarussische Sprache vorwiegend auf dem Lande gesprochen wurde, etablierte sich gegen Ende des 19.
bis Anfang das 20. Jahrhunderts die Assoziation der Belarussischsprachigkeit mit der Bäuerlichkeit: Belarussisch wurde als Bauernsprache angesehen (vgl. Zaprudski 2007a, 103).
34 Interessante Parallelen findet man auch in der Umfrage zur Selbsteinschätzung der Weißrussen von Hentschel/Kittel (2011a): So haben 141 Respondenten von 1230 als Antwort auf die Frage „Als was sehen sie sich: als Weißrusse, als Weißrusse und Russe, als Russe?“ keine der drei angebotenen Optionen, sondern eine andere (meistens ‘als Slave’) gewählt. Die Autoren sehen dahinter ein „Ausweichmanöver“ gegenüber einer als
„zu politisch“ empfundenen Frage (Hentschel/Kittel 2011a, 132). Dabei handelt es sich um Personen, die laut eigenen Angaben weißrussischer Nationalität sind (vgl. Hentschel/Kittel 2011a, 109).
35 So galten auch in der 1919 gegründeten BSSR fast bis zum Ende der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts vier Sprachen als offiziell: Belarussisch, Russisch, Polnisch, Jiddisch (vgl. Cychun 2002, 577; Zaprudski 2007b, 104) (was auch auf dem damaligen offiziellen Wappen der BSSR abgebildet war, auf dem der Slogan Proletarier aller Länder, vereinigt Euch! in diesen vier Sprachen dargestellt wurde).
36 Die folgende Passage eines Internetnutzers zeugt ebenfalls davon, dass die Menschen, die Anfang des 20.
Jahrhunderts geboren wurden, die russische Sprache nicht als Fremdsprache, sondern als ‘Stadtsprache’
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tutėjšyja existierte damals keine festgelegte Eigenbezeichnung. Die nationale Sprache der Belarussen wurde als einer der bedeutendsten Marker der Nationalität von der national-gesinnten Elite konstruiert (vgl. Peršaj 2012, 257 f.).37
Der Anfang des 20. Jahrhunderts zeichnet sich durch eine Konsolidierung der belarussischen Intelligenz aus und gilt als der Zeitraum, in dem die belarussische Sprache nach einer langen Unterbrechungsperiode, in der sie vor allem in mündlicher Form existierte, ihr modernes Bild eingenommen hat. Nach der Revolution von 1905 entstand die Möglichkeit, belarussische Zeitungen, Zeitschriften, Bücher legal herauszugeben sowie belarussische Verlage zu gründen (vgl. Bieder 2014a, 1417). Den Zeitabschnitt von 1906 bis 1915 bezeichnet Bieder (2001, 451) als Naša-Niva-Periode. Die belarussische Zeitung Naša Niva, in der solche Klassiker der belarussischen Literatur wie Ja. Kolas, Ja. Kupala, Jadvihin Š., M. Bahdanovič, Z. Bjadulja schrieben, wurde zum Zentrum der national-kulturellen Bewegung in Belarus (vgl. Bieder 1998, 123 f.). Die Zeitung publizierte nicht nur Werke verschiedener Schriftsteller und Dichter, sondern setzte sich mit kulturell-historischen und sozial-politischen Themen auseinander. Die Zeitung veröffentlichte außerdem zahlreiche Leserbriefe, Berichte freier Korrespondenten, Werbeanzeigen in belarussischer Sprache. Da diese in jener Periode nicht kodifiziert war, zeichnete sich die Sprache der Naša Niva durch eine hohe Variation in Grammatik und Lexik sowie durch eine hohe Anzahl an dialektalen Elementen (in Abhängigkeit von der territorialen Herkunft des jeweiligen Autors; vgl. Lemcjuhova 2005, 11)) aus. Die Naša Niva, die eine große Anzahl an Texten in der belarussischen Sprache umfasst, diente als Stütze für die Grammatik des Belarussischen, die 1918 B. Taraškevič zuerst auf Latinica und danach auf Kyrillica verfasst hat (vgl. Klimaŭ 2004a, 42).
Bieder (2014b, 1921) weist darauf hin, dass die ersten Versuche, eine Grammatik der belarussischen Sprache zu schaffen, bereits im 19. Jahrhundert unternommen wurden. So schrieben P. M. Špileŭski und K. Njadzvecki 1845 bzw. 1854 zwei handschriftliche Kurzgrammatiken, die allerdings im zaristischen Russland nicht publiziert wurden. Die erste umfassende wissenschaftliche sprachhistorische und vergleichende Beschreibung der
empfunden haben: „Если Вам интересно: мои полуграмотные дедуля/бабуля 1910/1912 г.р. и все их земляки-соседи (восточная часть Могилёвской области) разговаривали на таком великолепном белорусском языке, какого я потом не слышал нигде, ни у каких преподавателей "белмовы", ни в каком театре Янки Купалы и т.п. Их дети (первое белорусское послевоенное городское поколение) уже разговаривали на другом языке (не на белорусском и не на русском). А мы, их внуки, приезжавшие на каникулы "в деревню", разговаривали уже (по выражению деда) на ‘городском языке’.“ (Nutzer Vlad64;
https://talks.by/showthread.php?t=14383490; 01.030.2020) ‘Wenn es Sie interessiert, sprachen meine halbalphabetisierten Opa und Oma, geboren 1910 bzw. 1912, sowie alle ihre Landsleute-Nachbarn (im östlichen Teil des Mogilev-Gebiets) solch eine perfekte belarussische Sprache, die ich später nirgendswo hörte: weder von Lehrern des Belarussischen noch im Janka-Kupala-Theater usw. Ihre Kinder (die erste Nachkriegszeitgeneration) sprachen eine andere Sprache (die weder Belarussisch noch Russisch war). Und wir, ihre Enkelkinder, die in den Ferien auf das Land kamen, sprachen (nach dem Ausdruck meines Großvaters) die ‘Stadtsprache’)’.
37 So wussten angeblich auch viele Dorfbewohner, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Schule gingen, nicht, dass die Sprache, die sie sprachen, ‘belarussisch’ heißt. Hierfür eine Passage aus dem Interview eines Handwerksmeisters (geb. ca. 1934) aus dem Dorf Vaŭkanosava im Mogilev-Gebiet: „Мы тады асабліва не задумваліся, на якой мове гаварылі. Гаворка для нас была зразумелай, а болей нічога і не трэба было. І ў школах гэтак жа гаварылі. А тое, што яна беларуская, нам жа тады ніхто не казаў.“
(https://news.tut.by/society/520561.html; 10.11.2018) ‘Wir haben uns damals keine besonderen Gedanken darüber gemacht, welche Sprache wir sprachen. Die Sprechweise war für uns verständlich, mehr brauchten wir nicht. In den Schulen hat man auch so gesprochen. Und dass die Sprache [die wir sprachen] ‘belarussisch’ ist, hat uns damals keiner erzählt’.
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belarussischen Sprache wurde von J. Karski in seinen zahlreichen Werken angeboten. Važnik (2011, 205) vergleicht den zweiten Band der Reihe Belarusy (1903-1922), der in drei Teilen unter dem Titel Jazykʺ bělorusskaho plemeni jeweils 1908, 1911 und 1912 erschienen ist, mit der Grammatik von Lomonosov.
Den nächsten Versuch, „die grammatischen Strukturen der weißrussischen Literatursprache zu erfassen, eine linguistische Terminologie zu schaffen und die orthographischen und grammatischen Normen der weißrussischen Literatursprache zu regeln“ (Bieder 2014b, 1221), unternahm während des Ersten Weltkriegs A. Luckevič: 1916 verfasste er eine handschriftliche Grammatik, die zum ersten Mal 2017 durch H. Bieder in Oldenburg publiziert wurde (Bieder 2017a,b). Die Grammatik von Luckevič ist in Belarus früh in Vergessenheit geraten (vgl. Bieder 2017b, 104); dazu trug unter anderem bei, dass keine der belarussischen Bibliotheken bzw.
keines der belarussischen Archive ein Exemplar davon besaß (vgl. Bieder 2017a, 15). Die Handschrift, die als Grundlage für Bieders Publikation diente, wurde 1991 von dem deutschen Slavisten K. Gutschmidt am Slavischen Seminar der Universität Hamburg zufällig entdeckt (vgl. Bieder 2010b, 87; 2017a, 15). Dabei handelt es sich allerdings nicht um das Original, sondern um eine hektographische Kopie, die mit großer Wahrscheinlichkeit in der Zwischenkriegszeit entstanden war (vgl. Bieder 2017a, 43 f.). Dem Titel der Handschrift zufolge handelt es sich um den ersten Teil der Grammatik; es ist allerdings unbekannt, ob der Autor je den zweiten Teil geschrieben hat (vgl. Bieder 20017a, 37). Die Grammatik wurde in
„Lateinschrift polnisch-tschechischen Typs“ geschrieben (Bieder 2010b, 86; vgl. auch Bieder 2017a, 45). Sie behandelt unter dem Untertitel Fonetyka i ėtymologija ‘Phonetik und Etymologie’ kurz die phonetischen Aspekte der belarussischen Sprache und ausführlich die Wortarten inklusive Flexionslehre (der Terminus Etymologija bezieht sich somit nicht auf Herkunft der Wörter, sondern auf die Wortarten, was der antiken Tradition der Grammatikschreibung und auch dem konservativen Geist der damaligen Grammatikschreibung entsprach; vgl. Bieder 2010b, 88; 2017a, 37 f.; Daiber 2014, 1794 f.).38 Die zwei Teilbände von Bieder enthalten neben der Grammatik von Luckevič biographische Angaben über den Autor sowie zahlreiche Kommentare und Analysen der wissenschaftlichen Terminologie der Luckevič-Grammatik. Eine ausführliche kontrastive Analyse der Grammatiken von Luckevič (1916) und Taraškevič (1918) wird in Bieder (2014c; 2017b) durchgeführt. Die Grammatik von Luckevič war im Gegensatz zu der von Taraškevič für die Lehrerbildungskurse konzipiert, die zum ersten Mal 1915, während der deutschen Besatzung, in Vilnja (Vilnius) stattgefunden haben (vgl. Bieder 2010b, 85; 2017a, 43). In demselben Zeitraum erschienen die ebenfalls für die Lehrerausbildung gedachte Kurzgrammatik von Pačobka, die jedoch von den zeitgenössischen Fachleuten sehr kritisch aufgenommen wurde (vgl. Bieder 2014b, 1921;
2017b, 110), und die Schulfibel Prosty sposab stacca ŭ karotkim čase hramatnym (1918) des deutschen Slavisten R. Abicht und des belarussischen Philologen und Politikers J. Stankevič (vgl. Bieder 2017b, 106).
Die belarussische Nationalbewegung verstärkte sich nach der Oktoberrevolution von 1917 im Zuge der Lenin’schen Nationalitätenpolitik, die die „Gleichheit aller Nationen und ihrer Sprachen“ proklamierte (Comrie 1999, 820). Die Nationalitätenpolitik zielte auf die
38 Erst im 20. Jahrhundert finden die Begriffe ‘Morphologie’ oder ‘Formenlehre’, die anstelle von ‘Etymologie’
auftreten, Verbreitung (vgl. Bieder 2010b, 88).
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Verschriftlichung der noch nicht verschrifteten Sprachen, die Beseitigung des Analphabetismus unter der Bevölkerung sowie die Verwendung im Bildungssystem, in der Verwaltung und in den Massenmedien neben der russischen Sprache auch der Sprache der jeweiligen Nationalität (vgl. Comprie 1999, 821 ff., 827). Nach der Oktoberrevolution von 1917 öffneten die ersten legalen Schulen mit der belarussischen Unterrichtssprache (vgl. Snapkoŭskaja 1995, 63).39 Am 11. Juli 1921 wurde die Belarussische Staatsuniversität gegründet. Kurz darauf wurden das Institut für belarussische Kultur und die belarussische Staatsbibliothek eröffnet (vgl. Heyl 1992, 412 f.; Marples 2001, 140).
Die im Jahr 1918 in Vilnja erschienene Grammatik von B. Taraškevič (Biełaruskaja hramatyka dla škoł) wurde für den Schulunterricht konzipiert. Neben den theoretischen Teilkapiteln enthält sie zahlreiche Beispiele und praktische Übungen. Die erste Auflage der Grammatik ist in Latinica geschrieben und besteht aus fünf Kapiteln. Auf der letzten Seite der Grammatik befindet sich der Hinweis, dass die gleiche Grammatik, gedruckt mit ‘russischen Buchstaben’, in Kürze erscheinen werde. Die kyrillische Ausgabe erschien noch im selben Jahr.
Abb. 3. B. Taraškevič. 1918. Belaruskaja hramatyka dlja škol (Latinica)40
39 Chronologisch gesehen wurden die ersten Schulen mit der belarussischen Unterrichtssprache in den Jahren 1915 und 1916, während der deutschen Besatzung im Rahmen des Ersten Weltkriegs, auf Anregung des Kriegsopferkomitees, an dessen Spitze A. Luckevič stand, eröffnet (vgl. Bieder 2010b, 85; Golz 2011, 42;
Zaprudski 2015, 6).
40 Quelle:
http://knihi.com/Branislau_Taraskievic/Bielaruskaja_hramatyka_dla_skol_1918_zip.html#1918TaraskLat.pdf_1 (02.03.2020).
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Abb. 4. B. Taraškevič. 1918. Belaruskaja hramatyka dlja škol (Kyrillica)41
Wie Luckevič vermeidet auch Taraškevič die damals in der Grammatikschreibung verbreiteten griechischen Termini und führt eigene belarussische ein, die durch ihre Motiviertheit verständlicher werden sollten (vgl. Bieder 2012, 305). Im ersten Kapitel Huki ‘Laute’ behandelt der Autor Vokale und Konsonanten der belarussischen Sprache und geht auf die Palatalitäts- und Stimmtonkorrelation sowie das Akanne42 ein. Im zweiten Kapitel Čaściny movy ‘Redeteile’
beschäftigt sich der Autor mit den neun Wortarten Substantiv, Adjektiv, Numerale, Pronomen, Verb, Adverb, Präposition, Konjunktion und Interjektion aus morphologischer und syntaktischer Sicht. Im dritten Kapitel Padziéł43 słowa ‘Wortteilung’ werden Morpheme und einzelne Aspekte der Wortbildung behandelt. Im Kapitel Pravapis ‘Rechtschreibung’ werden unter anderem die Regeln, die das Akanne und Jakanne betreffen, dargestellt. Im fünften Kapitel Skaz ‘Satz’ werden Satzglieder und Satzzeichen knapp behandelt.
41 Quelle:
http://knihi.com/Branislau_Taraskievic/Bielaruskaja_hramatyka_dla_skol_1918_zip.html#1918TaraskKiryl.pdf_
1 (02.03.2020)
42 Unter Akanne versteht man die Neutralisierung der Opposition zwischen /o/ und /a/ sowie /e/ und /a/ in unbetonter Position, d.h., in unbetonter Position tritt anstelle von /o/ bzw. /e/ ein /a/ auf (vgl. Mayo 1993, 891).
Eine analoge Neutralisierung (‘Jakanne’) kommt auch nach palatalen Konsonanten vor. Diese Besonderheit des Belarussischen wird auch in der Schrift berücksichtigt (in Bezug auf das Jakanne finden sich aber einige Abweichungen) (vgl. Mayo 1993, 892).
43 Die Schreibweise in Latinica wird von Taraškevič (1918) übernommen. Der Autor verwendet ł für den nicht-palatalen Laut und l für den nicht-palatalen. Für das betonte e empfiehlt Taraškevič das Zeichen é zu verwenden, um die Nicht-Reduktion des Lautes unter Betonung zu unterstreichen (vgl. Taraškevič 1918, 89).
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Im Jahr 1929 erscheint die umfassend überarbeitete und erweiterte fünfte Auflage der Grammatik: Der Autor ändert ihre Struktur und den Aufbau einzelner Kapitel sowie zum Teil die Terminologie. In seinem Vorwort räumt Taraškevič ein, dass einige Aspekte, die in seiner ersten Grammatik auf bestimmte Art und Weise behandelt werden, umstritten seien und revidiert werden müssten. In diesem Zusammenhang erwähnt er die Behandlung von Entlehnungen (vor allem das Fehlen des Akanne in Entlehnungen scheint für den Autor umstritten zu sein; vgl. Taraškevič 1929, 127) und einige orthographische Aspekte. Weiterhin schreibt der Autor, dass er keine Änderungen auf eigene Faust vornehmen würde, denn dadurch könne der Schulunterricht durcheinander gebracht werden.
B. Taraškevič (1892-1938) wurde auf dem Territorium des heutigen Litauens geboren (Bieder 2012, 304). Er studierte Philologie an der St. Petersburger Universität und verfasste seine Grammatik unter der wissenschaftlichen Leitung des russischen Philologen A. A. Šachmatov (vgl. Bieder 2014b, 1921; 2017b, 111).
Im Jahr 1919 erfolgte im Laufe des sowjetisch-polnischen Krieges eine Teilung von Belarus, die im Friedensvertrag von Riga (1921) offiziell bestätigt wurde. Ein Teil der belarussischen Intelligenz (darunter auch B. Taraškevič) unterstützte in den ersten Jahren die polnische Seite in der Hoffnung, mit ihrer Hilfe eine Vereinigung des belarussischen Territoriums sowie die kulturelle und politische Autonomie zu erzielen (vgl. Bergman 1996, 38 ff.). Bald wurde jedoch klar, dass die tatsächliche Politik der polnischen Regierung weit von den anfänglichen Versprechen entfernt war: Maßnahmen wie Schließung der belarussischen Schulen, Katholisierungspolitik, Repressionen gegen die belarussischen Intellektuellen und Führungspersonen zeichneten sie aus (vgl. Marples 2001, 141). Taraškevič, der im westlichen Belarus zu den bekanntesten Politikern und öffentlichen Persönlichkeiten gehörte, kritisierte immer mehr die polnische Regierung und unterstützte die sowjetische Politik der jeweiligen Periode. Mit der zunehmenden Unterstützung der in der Politik tätigen Vertreter der nationalen Minderheiten (darunter auch die politische Organisation Hramada, in der Taraškevič tätig war) unter der Bevölkerung verstärkten sich die Repressalien gegen diese (vgl. Bergman 1996, 57 ff.). Infolge des Wandels seiner ideologisch-politischen Weltanschauung trat Taraškevič 1925 der Kommunistischen Partei des westlichen Belarus und Polens bei (vgl. Bergman 1996, 88).
Wegen seiner Tätigkeit in der politischen Organisation Hramada wurde Taraškevič im Jahre 1927 verhaftet (vgl. Bergman 1996, 97). Im Jahre 1930 wurde er freigelassen und kurz darauf wieder verhaftet. 1933 fand ein Austausch der Häftlinge zwischen der SSR und Polen statt: die polnische Seite übergab der SSR B. Taraškevič gegen den in der SSR verhafteten Dramaturgen F. Aljachnovič (Bergmann 1996, 167 f.). Während der Stalin’schen Repressionen wurde Taraškevič 1937 verhaftet und im Jahr 1938 hingerichtet (vgl. Bergman 1996, 179).
Die Grammatik von Taraškevič wird heutzutage zu den bedeutendsten Grammatiken der Periode der nationalen Bewegung in Belarus gezählt. Sie erlebte sechs Auflagen und hatte große Bedeutung für die Entwicklung und Normierung der belarussischen Sprache der Gegenwart (vgl. Bergman 1996, 37): „Diese auf den Schulunterricht ausgerichtete, aber auf einem wissenschaftlichen Niveau verfasste Grammatik eignete sich gut für die Verwendung im weißrussischen Schul- und Verlagswesen, weil sie im Prinzip erstmalig und umfassend die grammatischen und orthographischen Normen der weißrussischen Sprache regelte und den Prozess der Stabilisierung der Sprachnormen einleitete.“ (Bieder 2017b, 112). Laut Bergman
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(1996, 37) spielte Taraškevičs Grammatik eine wichtige Rolle bei der kulturellen Konsolidierung der Belarussen, denn sie wurde von belarussischsprachigen Kindern nicht nur im sowjetischen Belarus verwendet, sondern auch in Polen, Litauen und Lettland. Padlužny (2005, 14 f.; 2015, 211) schreibt allerdings, dass die grammatischen Regeln von Taraskevič im sowjetischen Belarus bis 1933 anhand der Grammatik von Ja. Lësik, der die Regeln der Grammatik von Taraškevič übernommen und später seine Grammatik um einige Teile erweitert hat, gelehrt worden seien, während die Grammatik von Taraškevič in dem zwischen 1919 und 1939 zu Polen gehörenden westlichen Teil von Belarus sowie unter der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg und unter Emigranten verwendet wurde.