6. André Suarès als Vertreter europäischer Bedrohungsängste gegenüber einer
6.3 Suarès und das europäische Bedrohungssyndrom
6.3.1 Suarès‟ Beitrag in der europäischen Debatte über die „Gelbe Gefahr“
866 Suarès, Idées et visions, in: Idées et visions et autres écrits, S. 507.
Das Urteil von Suarès über die ostasiatischen Völker fiel sehr pauschalisierend aus. Es fehlte bei dem Autor jegliche Anerkennung der stürmischen Modernisierung der Japaner, wie sie eine große Zahl seiner deutschen Zeitgenossen, wie etwa Alfons Paquet, an den Tag legte.867 Dennoch teilt Suarès die für das europäische Asien-Bild an der Wende zum 20. Jahrhundert charakteristische Differenzierung zwischen aktivem Japan und passivem China. Sowohl die Japaner als auch die Chinesen sah er jedoch gleich unfähig zur Entwicklung einer höheren Kultur. Im Einklang mit den politischen Prämissen seiner Zeit vertrat er die Auffassung von einer kulturellen und zivilisatorischen Unterlegenheit nichteuropäischer Gesellschaften. Auch darin erschien der aristokratische, exklusive Eurozentrismus des Dichters. Suarès hat dem europäischen Kontinent, zumindest seinem westlichen Teil, die Rolle des Schutzherrn der Hochkultur zugewiesen.868 In Verbindung mit seiner Vorstellung von der privilegierten Position Europas als Schutzherr der Kultur in der Welt steht das für ihn typische Verständnis der „Gelben Gefahr“ als Bedrohung der europäischen Kultur durch asiatische „Barbaren“.
Dabei ist erneut hervorzuheben, dass der Begriff eines Barbaren von Suarès vorrangig als Synonym für eine mangelnde geistige Kultur verwendet wurde. Kennzeichnend für sein Asien-Bild ist nicht zuletzt der abwertende Charakter seiner Äußerungen über die Asiaten.
Der negative Ton dieser Äußerungen folgte aus dem Suprematiebewusstsein des Dichters als
„Weißer“ und vor allem als (West-)Europäer. Der negative Zug seiner Sicht auf China tritt insbesondere in der folgenden Feststellung hervor: „Pour moi, je ne puis voir des hommes dans les Chinois – et, dans les Yankees, à peine. Je parle d‟un grand serieux.“869 Abwertende Züge tragen auch solche Bezeichnungen der Chinesen durch Suarès wie etwa „ces demons“870, „la chimie fatale“871, „le type de la fourmilière“872 und „êtres hideux“873. Im Unterschied zur Mehrzahl seiner literarischen Zeitgenossen, die in Asien eine Alternative zu den Veränderungsprozessen in Europa, wie etwa seinem unterstellten moralischen Niedergang, dem modernen Lebensstil und dem Materialismus als Grundlage der vorherrschenden Lebensphilosophie suchten, stand Suarès der kulturellen und geistigen Tradition Ostasiens stets kritisch gegenüber.
867 Hierzu siehe Kapitel 5 dieser Arbeit.
868 Siehe Suarès, Sur la vie, in: Idées et visions et autres écrits, S. 211.
869 Ebenda.
870 Suarès an Romain Rolland, 20. Juli 1900, unveröffentlicht, Fonds RR, correspondance André Suarès à Romain Rolland, Nr. 51.
871 Ebenda.
872 Suarès, Voici l‟homme, S. 289.
873 Suarès an Romain Rolland, 20. Juli 1900, unveröffentlicht, Fonds RR, correspondance André Suarès à Romain Rolland, Nr. 51.
Das Schlagwort von der „Gelben Gefahr“ implizierte, wie an anderer Stelle nachgewiesen, ein weitgefächerteres Bedeutungspotenzial. Einen wichtigen Ausdruck der europäischen Debatte über die Bedrohung Europas durch die „gelben Völker“ bildeten die Warnungen vor einer von ihnen drohenden ökonomischen Gefahr. Von besonderer Bedeutung war ferner die Angst der Europäer vor den Folgen der militärischen und politischen Modernisierung des Fernen Ostens unter der Führung Japans. Suarès sah in der militärischen und machtpolitischen Emanzipation Japans eine größere Gefahr als die Bedrohung durch einen wirtschaftlichen Aufschwung im Fernen Osten. Bedrohliche Auswirkungen für Europa befürchtete er darüber hinaus im Wachstum der chinesischen Bevölkerung und in der Instrumentalisierung des chinesischen Reiches durch Russland bei der Verfolgung seiner eigenen Interessen in Europa. Auch die letzten beiden Gesichtspunkte sind repräsentativ für die damalige europäische Debatte über die „Gelbe Gefahr“. Eine weitere Gefährdung des europäischen Kontinents sah Suarès ebenso wie Teil europäischer Militärs in der Bildung einer Allianz zwischen Russland und China. Kennzeichnend für ihn ist dabei, dass diese mögliche russisch-chinesische Zusammenarbeit in seiner Sicht nicht nur auf den militärischen Bereich beschränkt bleiben würde. Suarès befürchtete in diesem Zusammenhang den Ausbruch einer Revolution, die zur Entstehung einer „Commune générale“ zwischen Russland und China führen musste. Zugleich griff der Dichter die politischen Annäherungsprozesse zwischen England und Russland an:
„La Chine et la Russie lieront partie dans la Révolution: l‟une et l‟autre mieux faites pour la Commune générale que l‟Occident. Face à face, l‟Angleterre avec le Japon et la Russie avec la Chine: les insulaires feront la loi et la machine; les puissances de la terre et du nombre fourniront les ouvriers de la mécanique universelle. Le monde des automates, qui doit être gris, sera donc accompli cette fois.“874
Charakteristisch für Suarès als Anhänger der europäischen Bedrohungsängste an der Wende zum 20. Jahrhundert ist es darüber hinaus, dass er aus einer chinesischen Bedrohung größere Gefahren für Europa hervorgehen sah, als aus einer japanischen Bedrohung. Maßgebend hierfür war, dass seine Bedrohungsgefühle häufig quantitativer Art waren, denn er sah sich in erster Linie durch die Bevölkerungszahl der Chinesen in Unruhe versetzt. Wie bereits in einem der hervorgehenden unter anderem Kapitel am Beispiel von G. d‟Azambuja, Jocelyn Pène-Siefert und Albrecht Wirth gezeigt wurde, bildete diese Sicht der Dinge die zentrale Komponente der damaligen europäischen Debatte über eine für Europa drohende chinesische Gefahr.875
874 Suarès, Voici l‟homme, S. 289.
875 Hierzu siehe Kapitel 3.2 der vorliegenden Arbeit.
Suarès‟ Beitrag zu dieser Debatte lässt sich besonders ausdrucksvoll anhand seiner essayistischen Schriften und seiner umfangreichen Korrespondenz nachweisen.
Aussagekräftig für die Untersuchung der Bedrohungsängste bei Suarès und den aus diesen Bedrohungsgefühlen hervorgehenden Einflussnahmen auf seine Europa-Idee ist insbesondere der Briefwechsel mit Romain Rolland. Hierin betonte Suarès: „Tu sais mieux que personne […] ma répugnance de tout temps à l‟égard de ces démons (Chinesen; M. G.)“876 Von der Entstehung eines Bedrohungssyndroms bei Suarès kündet insbesondere sein Brief an Rolland vom 20. Juli 1900.877 In ihm gab er seiner Furcht vor einem Krieg zwischen der weißen und der gelben Rasse Ausdruck: „La guerre des Blancs et des Jaunes ça serait la vraie guerre des mondes.“878 Dieser als Reaktion auf den Boxeraufstand entstandene Brief ist für den Nachweis eines Bedrohungsgefühls, das sich auf den Fernen Osten bezog, bei Suarès aus mehrfachen Gründen von ausschlaggebender Bedeutung. Ähnlich wie ein bedeutender Teil der europäischen Öffentlichkeit hat Suarès dem Boxeraufstand eine maßgebliche Rolle bei der Ausprägung eines Bedrohungsbewusstseins zugemessen. Der Dichter selbst hingegen wies 1900 in seiner Korrespondenz mit Rolland darauf hin, dass er bereits seit etwa zehn Jahren vor einer asiatischen Gefahr für den europäischen Kontinent warnte879 , was sich indes mit seinen Veröffentlichungen aus den 1890er-Jahren nur begrenzt belegen lässt. Selbst dem chinesisch-japanischen Krieg von 1894/95, der für die Verbreitung des Schlagworts von der
„Gelben Gefahr“ in Europa von auslösender Kraft war, hatte Suarès noch keine ins Gewicht fallende Wirkung für die europäische Zukunft einräumen wollen. Dabei muss erneut betont werden, dass dieser Krieg sich zu einem globalen Medienereignis entwickelte und für die Wahrnehmung imperialistischer Ambitionen der Japaner in Europa eine ausschlaggebende Rolle spielte.