2. Textlinguistische Charakterisierung des Texttyps ‚Kriminalroman‘
2.2 Eine entwicklungsgeschichtliche Betrachtung des Kriminalromans anhand seiner Strukturmuster seiner Strukturmuster
2.2.2 Strukturmuster 2: Der Thriller
Bis heute machen die auf dem oben ausgeführten Strukturmuster beruhenden Detektivromane in der Praxis noch immer die Mehrheit der Kriminalromane aus, was bereits Helmut Heißenbüttel zu der Feststellung animierte, es sei „immer ein und dieselbe Geschichte, die erzählt“ werde (Hei-ßenbüttel 1963/1966, in: Vogt 1998a, 114). Demgegenüber betont Ulrich Suerbaum: „[W]enn man all dies gebührend in Rechnung stellt, so bleibt es doch erstaunlich, in welchem Maße der Ab-wechslungsreichtum eines so umfangreichen Textkorpus auf der Variationsfähigkeit eines einzigen Modells beruht“ (Suerbaum 1984, 90). Dies ist ein Beweis dafür, dass sich das Strukturmuster des Detektivromans historisch bewahrt und zu einem Muster in vielfachen Abwandlungen entwickelt hat.
dominanten Darstellungselementen, die im Bereich des Sensualistischen und Körperlichen liegen und dem Leser jenen eigentümlichen Lektüregenuss nach dem Motto „violence is fun“ verschaffen sollen (vgl. Holzmann 2001, 17; Nusser 2003, 119ff.).47 Zudem kommt es im Thriller häufig vor, dass die Angst des Opfers in einer Gewaltszene bzw. die Angst des Detektivs in einer gefährlichen Kampfszene bis ins kleinste Detail dargestellt wird, damit dem Leser ein Schauer über den Rücken läuft, wenn er die Zeilen liest.
In Bezug auf den typischen Textaufbau gleicht der Thriller zwar dem Detektivroman, d.h. auch er besteht aus einer Darlegung des Falls (erster Teil), einer Ermittlung (zweiter Teil) und einer Auf-klärung (dritter Teil), aber im Thriller wird dieser Dreischritt als ‚der Auftrag, der den Detektiv in Bewegung setzt‘, ‚das Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem Detektiv und dem Täter‘ und ‚der Showdown‘48 gezeigt. In Bezug auf die Darlegung des Falls im Thriller lässt sich sagen, dass das Verbrechen im Thriller als ein sich fortsetzendes Ereignis präsentiert wird, das sowohl etwas bereits Begangenes als auch etwas Aktuelles umfasst (vgl. Holzmann 2001, 17) – ganz anders als der Mord im Detektivroman, der als ein zu lösendes Rätsel bzw. als abgeschlossenes Ereignis dargestellt wird.
Demnach stellt im Thriller das fortlaufende Verbrechen eine Bedrohung der bürgerlichen Gesell-schaft dar, und der Detektiv steht vor der Aufgabe, es zu bekämpfen bzw. so schnell wie möglich zu stoppen.49 Aus dieser Abwehraufgabe ergibt sich ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem Detektiv (bzw. seinen Gefährten) und dem Täter (bzw. seinen Komplizen), das alle Kennzeichen eines Wett-streites trägt. Dementsprechend gilt im Thriller die Hauptfrage „howcatchem“ (von „How catch them?“, mit der Bedeutung „Wie fängt man die Bösewichte?“), während die für den Detektivroman entscheidende „Whodunit“-Frage eine nebengeordnetete Rolle spielt:Da hier der Rezeptionsreiz hauptsächlich darin liegt, zu verfolgen, wie der Detektiv dem Täter auf die Spur kommt und ihn fasst, kann auch ohne Spannungsverlust frühzeitig preisgegeben werden, wer der Täter ist.50
In Verbindung mit der Hauptfrage „howcatchem“ stehen die folgenden thrillerspezifischen Formen und Strukturen. Um Zug und Gegenzug beim Katz-und-Maus-Spiel auf lebendige Weise darzustellen, kommt meist multiperspektivisches Erzählen aus der Figuren- bzw. Ich-Perspektive zum Einsatz.51 Das bedeutet, im Thriller gibt es normalerweise zumindest zwei parallel geführte
47 Dazu bemerkt Petter Nusser: „Das unablässige Voneinanderfortbewegen, Aufeinanderzubewegen der Figuren, ihr sinnlicher Umgang miteinander (Schlagabtausch), die Geschwindigkeit der einzelnen Aktionen (Verfolgungsjagden, Fluchtbewegungen) geben der erzählten Wirklichkeit den »dynamischen Charakter (des Gedankenlosen)« [...], der den Leser die Seiten gleichsam überfliegen läßt und letztlich auch den maßlosen Konsum der Thriller [...] zu erklären hilft“ (Nusser 2003, 54).
48 Vgl. hierzu die Erläuterung in James N. Freys Ratgeber für das Krimischreiben: „In dem Teil des Mythos, der die Rückkehr beschreibt, findet eine letzte Konfrontation mit dem Bösewicht statt, und genau das passiert auch in jedem verdammt guten Krimi. Der Bösewicht/Mörder und der Held/Detektiv begegnen sich von Angesicht zu Angesicht in der Szene, die Hollywood den »Showdown« nennt“ (Frey 2005, 129).
49 Im Übrigen beschränkt sich das Verbrechen im Thriller nicht auf den Mord, wie es im Detektivroman meist der Fall ist. Vielmehr hat der Thriller eine breite Palette von Gewalttaten, wie z.B. Kindesmissbrauch, Kidnapping, Banküberfall, Hijacking, Attentat, Serienmorde oder Massenmord.
50 Darum betont Ulrich Schulz-Buschhaus, im Thriller sei es „offenkundig sinnlos, die Frage nach der Identität der Mörder mit der gleichen, romanbeherrschenden Insistenz“ zu stellen, wie es beim Detektivroman der Fall ist (Schulz-Buschhaus 1975, 133). Mehr zu „howcatchem“ vgl. die Erläuterung aus Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Whodunit (gelesen am 18.05.2010).
51 Dazu bemerkt der Krimiautor Larry Beinhart in seinem Ratgeber für das Krimischreiben: „Die Struktur kann man sich wie ein Sportereignis vorstellen. Betrachten wir den Bericht eines Sportreporters: Teil seines Jobs ist die Dramati-sierung, die er hauptsächlich dadurch erreicht, dass er die Fähigkeiten und die Beschränkungen beschreibt, die beide
Erzähllinien über das Ermittlungsteam und die Verbrecher, die nebeneinander herlaufen und sich immer in den Szenen überkreuzen, in denen sich die beiden Parteien begegnen oder miteinander kämpfen. So findet im Erzählverlauf beständig ein Perspektivenwechsel zwischen dem Detek-tiv-Erzählstrang über die Ermittlungstätigkeiten und dem Täter-Erzählstrang über die Vorbereitung bzw. Ausführung des Verbrechens statt.52 Da die Spannung stets auf den Ausgang der sich vorwärts bewegenden Ereigniskette gerichtet wird, werden die Ereignisse in der Regel in chronologischer Reihenfolge und im kausalen Zusammenhang dargestellt. Als Erzähltempus wird sehr häufig das epische Präsens verwendet, um das Hier und Jetzt des Erzählten zur Spannungssteigerung zur Gel-tung zu bringen. Diese erzähltechnischen Maßnahmen ermöglichen es dem Leser, sich einen Über-blick über das Katz-und-Maus-Spiel zu verschaffen bzw. die Handlungen der Guten und der Bösen aus nächster Nähe mitzuerleben. Auf seinem deutlichen Wissensvorsprung gegenüber den Figuren baut er bestimmte Erwartungen in Bezug auf das Kommende auf und liest gespannt weiter. Außer-dem wird die Spannung durch die ständige Unterbrechung beider Erzählstränge erhöht, was dafür sorgt, dass der Leser ungeduldig auf die Fortsetzungen wartet.53 Aus dem Zusammenwirken des dynamischen Wettstreites zwischen Gut und Böse, der gezielten Erzählweise und des speziellen Wissensmanagements erwächst im Thriller eine ausgesprochen intensive Spannung.
Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Detektiv und Täter führt zum Höhepunkt der Spannung, dem Showdown. Im Regelfall wird die letzte Konfrontation auf Leben und Tod aus der Detektiv-perspektive (in den meisten Fällen die dominierende Perspektive des Romans) wahrgenommen.
Meist fällt die für den Detektivroman charakteristische Rekapitulation aus und stattdessen wird der endgültige Kampf geschildert, da dem Leser die entscheidenden Informationen über den Fall im Laufe der Erzählung durch den Tätererzählstrang bereits mitgeteilt wurden. Diese ins Existentielle ausgeweitete Konfliktstellung im Schlussteil des Thrillers zwingt dazu, entweder den Detektiv (häufiger) oder den Täter (seltener) als Identifikations- bzw. Sympathiefigur für den Leser darzu-stellen. Geht der Showdown nicht wie üblich in der Überführung des Täters (bzw. in dessen Tod) auf, so erlebt der Leser eine Überraschung sowie einen zusätzlichen Unterhaltungseffekt durch Schrecken (‚Der Täter wird also weitermachen!‘).54
Anzumerken ist auch: Da der Thriller meist teilweise aus der Täterperspektive erzählt wird, eröffnet er dadurch Krimiautoren die Möglichkeiten, die „für die Motivation des Verbrechens ent-scheidenden psychischen und gesellschaftlichen Zwänge zu erklären“ (Nusser 2003, 57). Demnach wird im Thriller die akribische Charakterisierung des Verbrechers oft nachdrücklich hervorgehoben, die für den Leser einen besonderen Reiz bildet, weil sie ihm Einblicke in das geheime Ich des
Parteien in den Wettstreit einbringen. Genau das tut der Schriftsteller. Jede Aktion fordert die Gegenseite zu einer Reak-tion heraus“ (Beinhart 2003, 40).
52 Durch den ständigen Perspektivenwechsel bzw. die Nervenkitzel erzielenden Wahrnehmungs- und Darstellungsmodi werden die Ereignisse im Mittelteil des Thrillers stark ins Szenische bzw. Episodische aufgelöst, woran sich eine starke Ähnlichkeit mit den im Film geprägten Darstellungsweisen erkennen lässt (vgl. Nusser 2003, 48ff.).
53 Peter Nusser zufolge entsteht intensive Spannung aus einer derart wiederholten Informationsverweigerung, denn der eine Handlungsablauf wird häufig vor einem Höhepunkt von dem anderen plötzlich unterbrochen und lässt den Leser somit auf die Fortsetzung warten (vgl. Nusser 2003, 53).
54 In diesem Fall kann der entkommene Täter eventuell auch als Serienfigur auftreten, z.B. Dr. Hannibal Lekter in der Thrillerserie Roter Drache, Das Schweigen der Lämmer, Hannibal und Hannibal Rising von Thomas Harris.
ters – entweder ein schaudererregend grausames Monster oder ein sympathisch dargestellter Mensch mit verständlich gemachten Gründen für die Tat – gewährt.55 Je nach der Akzentuierung der ›action‹-Elemente oder der psychologischen Darstellung des Täters wird der Thriller in der Forschungsliteratur weiterhin in ›action thriller‹ und ›psychological thriller‹ eingeteilt (vgl. Herbert 1999, 460ff.), worauf wir hier aus Gründen des Umfangs nicht näher eingehen können. Die aus-führliche Thematisierung der Psyche von Tätern wird allerdings nicht nur im Thriller hervorgeho-ben, sondern sie wird vor allem in der ›crime novel‹ in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt.
Wenden wir uns nun diesem Strukturmuster zu, das das umgekehrte Prinzip des Detektivromans bzw. der klassischen „Whodunit“-Frage darstellt.