• Keine Ergebnisse gefunden

6 Strategische Handlungsfelder und -optionen

6.1 Strategische Handlungsoptionen im Handlungsfeld Arzneimittel

Aufgabenstellung dieses Arbeitsschrittes im Vorhaben war es, strategische Handlungsfelder und Handlungsoptionen für das Themenfeld „Ressourcenschonung im Gesundheitssektor“ zu erarbeiten.

Diese Handlungsfelder- und Handlungsoptionen sollen geeignet sein, die im Deutschen Ressourcenef-fizienzprogramm (ProgRess) angestrebte Erschließung von Synergien zwischen den Politikfeldern Ressourcenschonung und Gesundheit umzusetzen.

In Kapitel 4 „Analyse prioritärer sektoraler Handlungsfelder des Ressourcenkonsums im Gesund-heitssektor“ wurden bereits verschiedene Ansatzpunkte zur effizienteren und nachhaltigeren Nutzung natürlicher Ressourcen im Kontext von Arzneimitteln dargestellt. Hierbei wurde zwischen der Produk-tion von Arzneimitteln und ihrer Nutzung in der medizinischen Versorgung unterschieden. Die dort präsentierten Ansatzpunkte wurden im weiteren Verlauf des Vorhabens mit Expertinnen und Exper-ten diskutiert (s. Anhang 9.4) und konnExper-ten so konkretisiert und um weitere Punkte ergänzt werden.

Auf dieser Basis werden die folgende Handlungsoptionen in Bezug auf die Produktion und die Versor-gung mit Arzneimitteln vorgeschlagen. An Ende des Abschnitts werden die ÜberleVersor-gungen in einer ta-bellarischen Übersicht (s. Tabelle 10) übersichtlich zusammenfasst.

6.1.1 Handlungsoptionen bei der Produktion von Arzneimitteln

In der Arzneimittelproduktion liegt der Schwerpunkt der Ressourcenschonung aktuell auf der Wasser- und Energieeffizienz, seltener stehen andere Ressourcen im Fokus. Daneben gewinnt die Entwicklung gut abbaubarer Wirkstoffe an Bedeutung. Zusätzlich können Ressourcen durch die Unterstützung der korrekten Einnahme und Entsorgung von Arzneimitteln sowie die Bereitstellung geeigneter Mengen geschont werden.

Erforschung des Ressourcenkonsums von Arzneimitteln

Wertschöpfungsketten im Arzneimittelsektor sind komplex und intransparent. Auf Arzneimittelverpa-ckungen muss in Deutschland lediglich das Unternehmen genannt werden, das den letzten Produkti-onsschritt vollzogen hat, also die Endkontrolle. Nicht nachvollziehbar ist, wo Wirkstoffe und Hilfsstoffe produziert und verarbeitet wurden. Dies geschieht für den Großteil der in Deutschland abgegebenen

150 Arzneimittel außerhalb von Europa, beispielsweise in Indien oder China. Eine Ressourcenbewertung von Arzneimitteln, die nicht nur die Aktivitäten beim Hersteller selbst umfasst, sondern auch die vor-gelagerten Wertschöpfungsketten, könnte mehr Klarheit schaffen. Aktuell mangelt es hier noch an Wissen und es gilt, erst einmal eine grundlegende Wissensbasis darüber zu schaffen, in welchen Pro-duktionsschritten welche Ressourcen in welchen Mengen konsumiert werden und wie sich der Gesam-tressourcenkonsum eines Arzneimittels bzw. eines einzelnen Wirkstoffs zusammensetzt.

Aufgrund der hohen Flexibilität von Lieferketten und der Vielzahl von Arzneimitteln kann dies nur bei-spielhaft ermittelt werden, sollte aber einen wichtigen Beitrag dazu leisten, überhaupt einmal gesamte Lieferketten unter Ressourcengesichtspunkten zu betrachten und Erkenntnisse über ausgewählte Arz-neimittel und Wirkstoffe zu gewinnen. Für die systematische Erfassung bedarf es der Entwicklung ge-eigneter Tools. Merck nutzt zu diesem Zweck bereits das unternehmenseigene Tool „Dozn“. Gewon-nene Erkenntnisse können dann für die Ableitung weiterer Maßnahmen genutzt werden.

Förderung der Entwicklung ressourcenschonender Wirkstoffe und Herstellungsverfahren

Pharmazeutische Hersteller bemühen sich teilweise bereits darum, nur begrenzt vorhandene oder um-weltschädliche Stoffe in der Produktion durch bessere Alternativen zu substituieren oder die Entwick-lung biologisch abbaubarer Wirkstoffe voranzutreiben. Wie bereits in Kapitel 4.2 „Arzneimittel“ be-schrieben, werden solche Aktivitäten unter dem Begriff „Green Pharmacy“ zusammengefasst. Durch die Politik könnten Anreize für eine Intensivierung der Forschung zu ressourcenschonenden Wirkstof-fen gesetzt werden und die Forschungsförderung in diesem Bereich ausgeweitet werden. Zur Entwick-lung neuer Antibiotika existieren bereits derartige Ansätze, aus deren Erfolgen und Misserfolgen Leh-ren gezogen werden können. Auch Pharmaverbände könnten eine wichtige Rolle spielen, indem sie Beispiele guter Praxis identifizieren, Wissen sammeln und Hersteller bei der Umsetzung unterstützen.

Auch könnten sie die Aktivitäten ihrer Mitgliedsunternehmen über ihre eigene PR-Arbeit noch stärker sichtbar machen und auch auf diesem Weg Anreize setzen. Darüber hinaus könnte eine Überarbeitung des Vergaberechts zu Rabattverträgen zwischen Krankenkassen und Arzneimittelherstellern (geregelt in § 130a des Sozialgesetzbuchs V) neben der reinen Wirtschaftlichkeitsbetrachtung Ressourcenscho-nung und Umweltverträglichkeit als weiteres Vergabekriterium einführen. Dies erfordert jedoch eine Verbesserung der Wissensbasis über Ressourcenkonsum und Umweltwirkung von Arzneimitteln ein-zelner Hersteller, so dass diese in die Bewertung einfließen können (s. Erforschung des Ressourcen-konsums von Arzneimitteln).

Ein Großteil der Arzneimittelproduktion konzentriert sich auf wenige Länder wie z. B. China und In-dien. Innerhalb dieser Länder hat in den letzten Jahren eine Konzentration auf wenige Standorte statt-gefunden. Dort auftretende Probleme können zu größeren Lieferengpässen führen. Außerdem findet die Herstellung dort unter aus Ressourcen- und Umweltsicht teilweise hochproblematischen Bedin-gungen statt. Eine Stärkung der Arzneimittelproduktion in Deutschland könnte einerseits eine Abhän-gigkeit von wenigen Standorten/Ländern und das Risiko von Lieferengpässen reduzieren, gleichzeitig könnte eher Einfluss auf den Ressourcenkonsum in der Herstellung genommen werden. Die Corona-Pandemie hatte das bereits lange bestehende Problem von Arzneimittelengpässen durch Produkti-onsausfälle in China kurzzeitig weiter verschärft und hier dringenden Handlungsbedarf aufgezeigt.

Maßnahmen zur Förderung der Wirksamkeit von Arzneimitteln und zur Reduzierung von Arzneimittelab-fällen

Die Haltbarkeit von Arzneimitteln wird von den Herstellern auf Basis eigener Stabilitätsuntersuchun-gen frei festgelegt, darf eine Höchstdauer von fünf Jahren ohnehin nicht überschreiten und liegt daher oft deutlich unter der tatsächlichen Haltbarkeit. Nach dem angegebenen Verfallsdatum dürfen Arznei-mittel nicht mehr angewendet werden. Studien haben allerdings eine deutlich längere Haltbarkeit für

151 viele feste Arzneimittel gezeigt (Cantrell et al. 2012). Neben Gesundheitseinrichtungen und Privat-haushalten haben insbesondere Bundesländer größere Vorräte an Arzneimitteln, die sie z. B. bei Pan-demien einsetzen können. Daher könnte die Ausrichtung des Verfallsdatums an der tatsächlichen Sta-bilität von Wirkstoffen ein wichtiger Schritt zur Vermeidung von Arzneimittelabfällen und zur Res-sourcenschonung sein. Dafür müsste auch die vom AMG vorgegebene maximal erlaubte Haltbarkeit von fünf Jahren angepasst werden. Auf diesem Weg könnten Einsparungen bei den hohen Gesund-heitsausgaben für Arzneimittel erzielt werden.

Auch können Hersteller zur korrekten Einnahme von Arzneimitteln und damit ihrer Wirksamkeit bei-tragen, indem Beschriftungen und Packungsbeilagen im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben gut ver-ständlich und leserlich gestaltet werden. Denn nur richtig eingenommene Arzneimittel können die be-absichtigte Wirkung entfalten. Bei nicht korrekt eingenommen Arzneimitteln kann fälschlicherweise angenommen werden, dass die ausbleibende Wirkung an der Wahl des Mittels liegt, dieses wird dann ggf. abgesetzt und durch ein neues ersetzt, was unnötigen Ressourcenkonsum nach sich zieht. Auf der Verpackung von Arzneimitteln sollten auch leicht verständliche Hinweise zur Entsorgung enthalten sein, insbesondere falls diese wie z. B. Zytostatikatabletten für die häusliche Einnahme nicht über den Hausmüll entsorgt werden dürfen.

Für diverse Arzneimittel sind bereits kleine Starterpacks verfügbar, die für die Phase des Therapiebe-ginns, in der noch über die Fortführung der Therapie entschieden werden muss, geeignet sind. Diese können Gesundheitseinrichtungen als nicht-verkäufliche Proben zur Verfügung gestellt werden, soll-ten aber auch grundsätzlich als reguläre Packungsgröße zur Verfügung stehen. Gerade zu Therapiebe-ginn kann es notwendig sein, nach dem „Versuch und Irrtum“-Prinzip mehrere verschiedene Wirk-stoffe auszuprobieren, auch werden manchmal nur kleine Mengen benötigt. Eventuell erfordert dies eine Vorgabe durch den Gesetzgeber, da nicht alle Hersteller auf freiwilliger Basis Starterpacks für da-für geeignete Wirkstoffe anbieten werden.

6.1.2 Handlungsoptionen in der Versorgung mit Arzneimitteln

Die gesundheitliche Versorgung bietet zahlreiche ungenutzte Potentiale für die Ressourcenschonung im Arzneimittelbereich, da durch die Gesunderhaltung der Bevölkerung und die Nutzung nicht-phar-makologischer Ansätze (bspw. Sport, Ernährung, Psychotherapie) der Bedarf für Arzneimittel an der Quelle reduziert werden kann. Im Vergleich zur Produktion lassen sich hier noch größere Potenziale vermuten.

Stärkere Ausrichtung der Versorgung auf Prävention und Gesundheitsförderung

Das deutsche Gesundheitssystem ist primär auf die Diagnostik und Behandlung von Erkrankungen und weniger auf deren Prävention ausgerichtet. Damit Leistungserbringer sich verstärkt für Präven-tion und Gesundheitsförderung einsetzen, bedarf es dem Setzen von Anreizen zur Identifizierung per-sönlicher Risikofaktoren bei Patientinnen und Patienten und der Einigung auf Maßnahmen zur Risiko-reduzierung. Dafür müssten zusätzliche ärztliche Leistungen vergütet werden und Indikationen für nicht-pharmakologische Interventionen wie bspw. Bewegungsangebote und Physiotherapie, Ernäh-rungsberatung oder Entspannung ausgeweitet und so einem breiteren Kreis an Versicherten zugäng-lich gemacht werden. Darüber hinaus sind Versorgungsengpässe wie bspw. in der Psychotherapie zu adressieren.

Bislang unausgeschöpfte Potenziale liegen auch in der Koordination der Schnittstellen der Versorgung, also der Abstimmung zwischen unterschiedlichen Leistungserbringern. Neben der schon lange disku-tierten sektorenübergreifenden Versorgung gehört hierzu auch die bessere Nutzung der der pharma-zeutischen Kompetenz von Apothekerinnen und Apothekern, z. B. durch eine stärkere Einbeziehung ins Medikationsmanagement. In unserem zweiten Stakeholder-Workshop (vgl. Anhang, Kap. 9.7.2

152

„Dokumentation des zweiten Stakeholder-Workshops“) wurde hierzu die Etablierung heilberuflicher Netzwerke vorgeschlagen, in denen Apothekerinnen und Apotheker gemeinsam mit Ärztinnen und Ärzten über die geeignete Medikation entscheiden können. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass die fachübergreifende Zusammenarbeit lohnenswert und möglich ist, auch in Bereichen, in denen sie typischerweise nicht stattfindet.

Förderung einer ressourcenschonenden Verordnungspraxis

Nationale Versorgungsleitlinien sollen für ausgesuchte Erkrankungen hoher Prävalenz eine Orientie-rungshilfe für die Diagnostik und Therapie bieten. Sie basieren auf den Erkenntnissen der evidenzba-sierten Medizin und stellen den aktuellen Goldstandard dar. Sie sind allerdings nicht verbindlich, d. h.

Ärztinnen und Ärzte können von ihnen abweichen. In den Versorgungsleitlinien werden auch Empfeh-lungen für den Einsatz von Arzneimitteln gemacht, manchmal nach einem Stufenschema. Ressourcen-konsum und Umweltverträglichkeit spielen bisher bei der Auswahl keine Rolle. Insbesondere bei mul-timorbiden Patientinnen und Patienten (d. h. Personen die gleichzeitig fünf oder mehr Arzneimittel einnehmen) kann eine leitliniengetreue Behandlung jeder einzelnen Erkrankung für sich leicht zu ei-ner Polypharmazie führen (Moßhammer et al. 2016). Digitale Tools zur Unterstützung schwieriger Ab-wägungsentscheidungen, auch auf Basis bereits bestehender Instrumente wie bspw. PRISCUS (Liste mit potenziell inadäquater Medikation für ältere Menschen), könnten Leistungserbringern im Alltag eine Hilfestellung bieten. Darüber hinaus könnte eine Anpassung von Leitlinien zur Eindämmung der Polypharmazie erfolgen, indem auf möglicherweise verzichtbare Wirkstoffe oder die Behandlung häu-fig in Kombination auftretender Erkrankungen hingewiesen würde. Dies wäre schon aus Gründen der Arzneimitteltherapiesicherheit sinnvoll und hätte gleichzeitig Ressourceneffekte.

Medizinische Leistungserbringer können über ihr Verordnungsverhalten, die Qualität der Information ihrer Patientinnen und Patienten über die richtige Einnahme und mögliche Nebenwirkungen den Arz-neimittelkonsum und die Wirksamkeit der verordneten Arzneimittel wesentlich steuern. Durch die Verordnung therapiegerechter Mengen, den Verzicht auf Verordnungen aufgrund einer Erwartungs-haltung von Patientinnen und Patienten sowie eine partizipative Entscheidungsfindung für eine bes-sere Compliance, können sie den Ressourcenkonsum durch Arzneimittel reduzieren. Wo geeignete Al-ternativen zur Verfügung stehen, kann auch die Verordnung ressourcenschonender und umweltver-träglicher Wirkstoffe in Erwägung gezogen werden.

Darüber hinaus besitzen Krankenkassen einen gewissen Ermessenspielraum bei der Erstattung soge-nannter „grüner“ Rezepte, also Verordnungen für rezeptfreie und damit im Gegensatz zu den „rosafar-benen“ Rezepten für die Selbstbehandlung empfohlene Arzneimittel. In welcher Höhe die „grünen“ Re-zepte erstattungsfähig sind, haben die einzelnen Krankenkassen individuell in ihren Satzungsleistun-gen geregelt. Krankenkassen könnten also vorrangig ressourcenschonende Arzneimittel erstatten und so die Nachfrage nach solchen Arzneimitteln erhöhen.

Tabelle 10 fasst die Überlegungen nachfolgend zusammen.

153 Tabelle 10: Handlungsoptionen im Handlungsfeld Arzneimittel und mögliche Stakeholderinnen und

Stakeholder

PU: Pharma-Unternehmen, FO: Forschungseinrichtungen, KK: Krankenkassen, VK: Verbände/Kammern, LE:

Leistungserbringer, PAT: Patientinnen und Patienten, MF: Medizinische Fachgesellschaften, PO: Politik xx = ist direkt an der Umsetzung der Maßnahme beteiligt;

x = ist von der Maßnahme betroffen und sollte konsultiert werden.

PU FO KK VK LE PAT MF PO

Erforschung des Ressourcenkon-sums von Arzneimitteln

Schaffung einer Wissensbasis x xx xx

Entwicklung ressourcenschonender Wirkstoffe und Herstellungsverfah-ren

Intensivierung der Forschung xx xx x x xx

Anreize für „Green Pharmacy“ xx x

Überarbeitung des Vergaberechts zu Rabattverträgen

x x xx x xx

Inländische Arzneimittelproduk-tion

xx xx

Förderung der Wirksamkeit von Arz-neimitteln und zur Reduktion von Arzneimittelabfällen

Ausrichtung des Verfallsdatums an Wirkstoff-Stabilität

xx x xx

Gut verständliche Beschriftungen und Packungsbeilagen

xx xx

Bereitstellung von Starterpacks xx x x xx

Ausrichtung der Versorgung auf Prä-vention und Gesundheitsförderung

Anreize für Prävention und Ge-sundheitsförderung

xx xx x xx

Bessere Koordination zwischen unterschiedlichen Leistungser-bringern

x xx xx x xx

Ressourcenschonende Verord-nungspraxis und Einnahme

Anpassung von Versorgungsleitli-nien zur Eindämmung der Poly-pharmazie

x xx

Ressourcenbewusstes Verord-nungsverhalten

xx x

Vermehrt Erstattung „grüner“ Re-zepte durch Krankenkassen

xx x x

Quelle: Eigene Darstellung des Fraunhofer ISI

154