Teil II: Diskursanalyse
7. Argumentationsanalyse
7.3. PRO Taraškevica
7.3.3. Sprecherbezogene Argumente
Wie bei den entsprechenden Pro-Narkamaŭka-Argumenten handelt es sich in dieser Gruppe um Autoritätsargumente. Als Autoritäten treten vor allem Schriftsteller, die ihre Werke in der Taraškevica geschrieben haben, auf:
(7.100) В 1990-х годах первыми на классическом правописании белорусского языка стали писать Вячеслав Адамчик и Василь Быков.310 (08.09.2010)
‘In den 90er Jahren haben Vjačeslav Adamčik und Vasil’ Bykov als erste angefangen, in der klassischen Rechtschreibung der belarussischen Sprache zu schreiben.’
Auch der 1942 verstorbene Dichter Ja. Kupala tritt als Autorität auf: Fremdwörter würden aus seinem Mund so klingen, wie sie in der Taraškevica geschrieben und ausgesprochen werden.
309 P. Žuk http://archive.is/vZfH (02.03.2020).
310 paliakou http://s13.ru/archives/15678 (14.02.2019).
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In Bezug auf solche Argumente spricht man von fiktiven Autoritäten (s. oben); sie werden manipulativ eingesetzt und können nicht geprüft werden (vgl. Ottmers 1996, 111):
(7.101) У тарашкевіцы наадварот іншаземнае слова перакладаецца так, як яно б лягло на язык напрыклад Купалы...311 (28.03.2007)
‘In die Taraškevica wird ein Fremdwort so übersetzt, als ob es aus dem Mund von Kupala stammen würde.’
Als Autoritäten werden neben bekannten Persönlichkeiten auch die Vorfahren der Belarussen oder die eines konkreten Sprechers angeführt. Dadurch wird zugleich der Wert der
‘Traditionalität’ und der ‘eigenen Wurzeln’ betont:
(7.102) казаць "клясычная, філялёгія, філязофія" вам перашкаджае расейскамоўнае выхаванне. зразумейце, што так размаўлялі нашыя продкі, Тарашкевіч ды Станкевіч нібы беларускія браты Грым намагаліся, ўзраджалі нашую мову трэба шанаваць спадчыну а вы мяшаеце яе з расейскаю - у трасянцы (бліжэйшай да расейскае) ды наркамаўцы (бліжэйшай да беларускай)312 (14.02.2013)
‘Es ist die russischsprachige Erziehung, die sie dabei hindert, „kljasyčnaja, filjalëhija, filjazofija“ [‘klassisch’, ‘Philologie’, ‘Philosophie’ in der Taraškevica-Variante]
auszusprechen. Versteht: so haben unsere Vorfahren gesprochen. Taraškevič und Stankevič haben sich bemüht, unsere Sprache wiederzubeleben, als wären sie die belarussischen Brüder Grimm. Man muss sein Erbe respektieren, und ihr vermischt es mit dem Russischen – entweder in der Trasjanka (näher zum Russischen) oder in der Narkamaŭka (näher zum Belarussischen).’
(7.103) Мои бабушки и дедушки говорили на чистом беларуском. Никакой трасянки. Первое, что вспоминается выражения “перша кляса”313 (10.09.2010)
‘Meine Großeltern sprachen pures Belarussisch. Keinerlei Trasjanka. Das erste, woran ich mich erinnere, ist der Ausdruck perša kljasa [‘erste Klasse’ in der Taraškevica-Variante].’
(7.104) Для мяне лепшым аргумэнтам за клясычную мову быў і застаецца прыклад дзеда, які, напрыклад, заўжды казаў зь пераднаціскным “я”: таму для мяне няма пытаньня, як казаць: “не буду” ці “ня буду”.314 (07.10.2007)
‘Für mich war und ist das Vorbild meines Großvaters das beste Argument für die klassische Sprache; er sagte z.B. immer in der vorbetonten Position „ja“, deswegen existiert für mich nicht die Frage, ob man „ne budu“ oder „nja budu“ sagen solle.’
Die meisten ‘sprecherbezogenen’ Argumente für die Taraškevica, die sich nicht auf allgemein anerkannte Autoritäten, sondern auf die ‘gewöhnlichen’ Taraškevica-Benutzer beziehen, schließen eine wertende Komponente ein, indem den Menschen, die die Taraškevica verwenden, positive Eigenschaften zugesprochen werden. Dadurch werden die betreffenden Personen zu Autoritäten erhoben. In diesem Fall handelt es sich ebenfalls um eine evaluative Kontextualisierung der Eigengruppe (s. Abschnitt 1.7.1). So wird die Taraškevica im Diskurs vor allem als die Sprache der ‘Elite’ positioniert; sie wird von ‘gebildeten’,
‘(national)bewussten’, ‘echten’ Belarussen, von ‘gewissenhaften Intellektuellen’ verwendet,
311 Аноним http://forums.tut.by/showthread.php?t=3711444 (12.07.2011).
312 Felix https://m.nn.by/articles/104892/comments/page/3/ (14.02.2019).
313 JackDaniels http://s13.ru/archives/15678 (27.02.2019).
314 kolchyn
http://dzietki.by/forum/viewtopic.php?printertopic=1&t=236&postdays=0&postorder=asc&&start=90 (20.08.2017).
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die die belarussische Sprache ‘im Alltag verwenden’, sie ‘respektieren’ und sie ‘nie aufgeben’
würden (s. auch Bsp. (7.125)):
(7.105) Па цяперашняму часу тарашкевіца - гэта мова значнае часткі нацыянальнае эліты. І добра, што эліта сваю мову мае. Гэта свайго роду моўная лабараторыя грамадства.315 (30.09.2007)
‘Heutzutage stellt die Taraškevica die Sprache des bedeutenden Teils der nationalen Elite dar. Und das ist gut, dass die Elite ihre [eigene] Sprache hat. Das ist sozusagen das Sprachlabor der Gesellschaft.’
(7.106) Менавіта жывой літартурнай мовы, на якой хочацца й можацца размаўляць адукаваным Беларусам і спужаліся каты беларускага народу.316 (26.07.2008)
‘Genau vor dieser lebendigen Literatursprache, die die gebildeten Belarussen sprechen wollen und können, fürchten sich die Henker.’
(7.107) Не падабаецца мова (якая менавіта з'яўляецца мовай сапраўдных сьвядомых беларусаў) - не чытайце!!!!317 (22.01.2010)
‘Wenn euch die Sprache (die übrigens die Sprache der echten (national)bewussten Belarussen ist) nicht gefällt, dann lest [die Zeitung] nicht!’
(7.108) […] сёньня сем зь дзесяці сумленных інтэлектуалаў аддаюць перавагу клясычнаму правапісу […].318 (19.09.2007)
‘…Heutzutage ziehen sieben von zehn gewissenhaften Intellektuellen die klassische Rechtschreibung vor…’
(7.109) Але на сёньняшні ж дзень тарашкевіца — адзінае выйсьце для людзей, якія шануюць беларускую мову.319 (18.06.2013)
‘Heutzutage stellt die Taraškevica die einzige Lösung für die Menschen dar, die die belarussische Sprache respektieren.’
(7.110) […] большасьць тых, хто ніколі не адступіцца ад мовы - прыхільнікі несавецкага правапісу […].320 (04.10.2007)
‘…die Mehrheit derjenigen, die die Sprache nie aufgeben werden, sind Anhänger der nicht-sowjetischen Rechtschreibung…’
(7.111) Ёю карыстаюцца сьвядомыя носьбіты, людзі, якія ўжываюць беларускую мову ў побыце.321 (07.01.2005)
‘Sie [Taraškevica] wird von (national)bewussten Sprachträgern verwendet, den Menschen, die die belarussische Sprache im Alltag benutzen.’
Auch der ‘Topos aus der Mehrheit’ wird hier argumentativ verwendet. Dabei handelt es sich allerdings um die ‘Mehrheit in der Minderheit’: Mehrheit (sieben von zehn) der
‘gewissenhaften Intellektuellen’ (Bsp. (7.108)), ‘Mehrheit derjenigen, die die belarussische Sprache nie aufgeben werden’ (Bsp. (7.110); s. auch Bsp. (7.125) in diesem Zusammenhang) oder ‘der bedeutende Teil der der nationalen Elite’ (Bsp. (7.105)).
315 Мікалай Тоўсьцік https://nn.by/?c=ar&i=11821#startcomments (14.02.2018).
316 Radykal https://nn.by/?c=ar&i=18631#startcomments (14.02.2019).
317 Emir Dokuz http://forums.tut.by/showthread.php?t=9863229&page=2&pp=50& (22.12.2010).
318 A. Dyn’ko https://m.nn.by/articles/11574/ (14.02.2019).
319 liashkom https://m.nn.by/articles/111306/comments/ (14.02.2019).
320 Здалёк https://m.nn.by/articles/11820/comments/page/3/ (14.02.2019).
321 V. Kaljada https://nn.by/?c=ar&i=99270 (14.02.2019).
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Im Vergleich zu der Gesamtbevölkerung des Landes (die oft als absolute Mehrheit bei den Argumenten für die Narkamaŭka fungiert (s. Abschnitt 7.1.3.), erfolgt eine Aufwertung der Eigengruppe durch Zuschreibung positiver Eigenschaften und eine Abwertung der Fremdengruppe – in diesem Fall der Mehrheit der Bevölkerung (was auch teilweise im Abschnitt 7.2.3. demonstriert wurde). So wird das Pro-Narkamaŭka-Argument der Zeitung Naša Niva, wonach die Mehrheit der Bevölkerung mit der Narkamaŭka vertraut ist, mit dem Argument erwidert, dass Quantität nicht gleich Qualität ist.
(7.112) Больш - не заўсёды лепш... Хутчэй нават не лепш, але горш... Бо якасьць у дадзеным выпадку замяняецца колькасьцю. Ці ўжо якасьць аудыторыі ня мае ніякага істотнага значэньня? Дык Хрыстос таксама заўсёды быў калі не ў самоце, дык у меньшасьці…
[…] Асабіста я - за каляровую газэту, але за клясычны правапіс і вымаўленьне... […]
Нацыю трэба ўздымаць на вышэйшы узровень, а не апускацца разам з ім...322 (10.12.2008)
‘Mehr bedeutet nicht immer besser, sondern eher schlechter, denn die Qualität wird in diesem Fall durch die Quantität ersetzt. Oder spielt die Qualität des Auditoriums keine Rolle mehr?
Christus war auch immer, wenn schon nicht alleine, dann in der Minderheit… Ich persönlich bin für eine farbige Zeitung, aber auch für die klassische Rechtschreibung und Aussprache…
Man muss das Volk auf ein höheres Niveau bringen und nicht mit ihm zusammen sinken…’
Gleichzeitig zieht die Diskursteilnehmerin Parallelen zum Christentum und führt Jesus Christus als Beispiel an, das zu Beginn des Christentums immer entweder allein oder in der Minderheit gewesen sei. Hier wird das Sprecher-Argument durch den ‘Analogie-Topos’ gestützt (s.
Abschnitt 7.5.3): Die Verwendung der Taraškevica wird mit der Ausübung des christlichen Glaubens verglichen, der am Anfang nur wenige Anhänger gehabt habe.
Um eine explizite Abwertung der Gegnergruppe und gleichzeitige Aufwertung der Eigengruppe handelt es sich in den folgenden Kommentaren. Im ersten Beispiel wird der Mehrheit, die aus ‘Kolchosbauern und Sowjetmenschen’ besteht, die ‘anständige’, ‘adäquate’
und ‘kritisch denkende’ Minderheit gegenübergestellt (im Beispiel handelt es sich um die Taraškevica-Wikipedia, die parallel zu der Narkamaŭka-Wikipedia besteht):
(7.113) Дзякуй Богу, што ў адэкватных крытычных людзей існуе магчымасьць ствараць свой прадукт незалежна ад колхоз'нікаў, саўкоў і пад. На жаль, прыстойныя людзі цяпер у Беларусі ў меншасьці, але заўсёды так ня будзе.323 (14.02.2013)
‘Gott sei dank, dass die adäquaten kritischen Menschen heutzutage die Möglichkeit haben, ein eigenes Produkt zu schaffen, unabhängig von Kolchosbauern, Sowjetmenschen usw.
Leider sind anständige Menschen heutzutage in Belarus in der Minderheit; das wird aber nicht immer so sein.’
Im nächsten Beispiel steht der Elite, die angeblich aus 2000 Lesern der Zeitung Naša Niva besteht und die für die Bewahrung der Taraškevica plädieren würde, eine gleichgültige
‘Millionenherde’ gegenüber:
(7.114) А чытаць Нашу Нiву наркамаўкай не магчыма, так i рэжуць слых гэтыя праЖскiя ды чэШскiя разам з РасIямi ды МIнскамi. Пашкадуйце, шаноўныя нашанiўцы, сваю элiту колькасьцю 2000 чытачоў, ня трэба намаганньняў дзеля мiльённага статка- яму гэта ўсё адно да х..я!!!!!!!324 (05.12.2008)
322 тацяна https://m.nn.by/articles/22044/comments/page/6/ (14.02.2019)
323 Аб'яднаньне з д'ябалам https://m.nn.by/articles/104892/comments/page/2/ (14.02.2019).
324 Cёмыч https://m.nn.by/articles/22044/comments/page/3/ (14.02.2019).
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‘Und es ist unmöglich, die Naša Niva in der Narkamaŭka zu lesen: diese pražskija und čėšskija [‘Prager’ und ‘tschechisch’ in der Narkamaŭka-Schreibung und im Pl.] zusammen mit Rasii und Minski [‘Russland’ und ‘Minsk’ in der Narkamaŭka-Schreibung und im Pl.]
zerreißen mir das Ohr. Geehrte Naša-Niver, habt Mitleid mit eurer Elite, die 2000 Leser ausmacht; strengt euch nicht für eine Millionenherde an – das alles ist ihr vollkommen egal!’
Eine gleichzeitige Abwertung der Fremdengruppe und Aufwertung der Eigengruppe findet man auch im Beispiel (7.55) im Abschnitt 7.2.3, indem die unvernünftige Mehrheit (Narkamaŭka-Benutzer) der vernünftigen Minderheit (Taraškevica-Sprecher) gegenüber-gestellt wird.