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Der etwas andere Titel zum Schluss:

Im Dokument Unternehmerin Kommune: (Seite 126-131)

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Einwanderungstatbestand zu definieren! Weshalb ist Straßenlärm als dezibelstärkste Emission kein Grund dafür, eine Baugenehmigung zu versagen, wohl aber das Klacken eines Tennisballs auf gepflegtem Rasen?

Palmer hat viele Beispiele als Belege für alltäglichen bürokratischen Schwachsinn gesammelt. Ich könnte etliche Dutzend hinzufügen.

Der Tübinger Rathauschef beschreibt auch, dass er trotz bester Drähte bis ins Kanzleramt nicht ein-mal ansatzweise eine Chance hatte, das Übel bei der Wurzel zu packen. Was mag in einem OB vorgehen, der feststellt, dass Asylbewerber als Drogendealer

„erfolgreich“ aber nicht sanktionsfähig sind, weil sie bestehende Gesetzeslücken auf’s Millimeter genau nutzen, sich aber Niemand von den Gesetzesmachern findet, der stehenden Fußes nachjustriert.

Ich hatte nach dem Lesen des Buches den Vor-satz, zu diesem profunden Text anzumerken, dass ich die Palmerschen Verbesserungsvorschläge ver-misse. Diese Kritik formuliere ich nicht, ja ich ent-schuldige mich sogar ausdrücklich für die Absicht.

Denn inzwischen schreiben wir das Jahr 2017. Und nichts, aber auch gar nichts wurde an Lehren und Schlussfolgerungen gezogen. Dass der kluge Boris Palmer deshalb nicht ins Gewand von Don Quichote schlüpft – wer mag es ihm verübeln…..

Rezensent: Prof. Dr. Michael Schäfer Bewertung: *****

Boris Palmer: Wir können nicht allen helfen

Siedler Verlag, München 2. Auflage 2017

ISBN 978-3-8275-0107-3 www.siedler-verlag.de

Das unreife Wanken des Schlüpferdiebs in der Wolfsschanze

Ja, diesmal können Sie die Zwischenüberschrift

„Erholung vom Sachbuch“ wörtlich nehmen. Ich hatte jedenfalls Spaß, Entspannung und Inspiration beim Lesen dieser 304 Seiten aus der Feder von Frank Michael Wagner. Die Kombination von Lesespaß und Hirnaktivierung ist so häufig nicht. Das wird mir immer schmerzlich bewusst, wenn ich mich in der Pflichtbranche dieser Rezensionsrubrik tummele und mich durch Werke mühe, deren Schwerverständ-lichkeit nur mit höchster Konzentration zu kontern ist. Die dann immer wiederkehrende Frage lautet:

Warum gibt es so wenige Menschen, die unstrittige fachliche Kompetenz mit seriöser Fabulierkunst

verbinden können? Das erwarte ich ausdrücklich von wissenschaftlicher – und Fachliteratur.

Es macht mir einfach mehr Spaß, die Stalinbiografie von Simon Sebag Montefiore zu ver-schlingen als mich durch jene von Jung Chang über Mao zu quälen. Beide Texte fachlich brillant, aber niemand zählt die Käufer, die den Wälzer über den chinesischen Schlächter im Namen des Kommunis-mus nach zwanzig Seiten ent- und genervt für immer im Regal verschwinden lassen. Denn sie haben das Recht, ihren Feierabend oder Urlaubstag nicht nur bildend, sondern auch unterhaltend zu gestalten. Was für wissenschaftliche Texte zutrifft, das gilt natür-lich erst recht für belletristische Werke. Die Grenze zwischen Trivialliteratur a la Hedwig Courths-Mahler und hochkarätiger Unterhaltung auf dem Niveau eines William Somerset Maugham ist natürlich fließend, und beide Gattungen finden zu Recht ihre Leser.

„Das unreife Wanken des Schlüpferdiebs in der Wolfsschanze“ – wenigstens einmal möchte ich diesen Titel, dem man anmerkt, dass er in einer Marketing-abteilung zum Zwecke des Kaufanreizes geschmiedet wurde, in meiner Rezension unterbringen – sortiere ich in die Abteilung Somerset Maugham. Ich ent-decke den Engländer nach langen Jahren Pause quasi neu und habe gerade „Der Magier“ und „Theater“

mit Begeisterung gelesen. Und zwar „Am Stück“. In ähnlicher Weise hat mich die Geschichte gepackt, die Wagner über die Abenteuer einer pubertierenden Jugendgruppe in einem tschechischen Ferienlager in den frühen 70er Jahren erzählt. Das hat zuvorderst etwas mit der hohen erzählerischen und sprachlichen Qualität dieses Textes zu tun, weswegen ich mir sicher bin, dass er auch jeden anderen Leser fesseln wird.

Es bedarf also, was den Gegenstand des Roman-Erstlings von Wagner betrifft, keiner besonderen inhaltlichen Affinität, um den Text zu goutieren.

Wenn diese indes vorhanden ist, erweist sich das als handfester zusätzlicher Grund, zur Lektüre zu greifen. Das erste Stichwort dazu lautet „DDR-All-tag“. Ich habe in der Aprilausgabe „Stierblutjahre“

von Jutta Voigt vorgestellt. Und bei dieser Gelegen-heit zum wiederholten Male beklagt, dass das Leben in der DDR-„Nischengesellschaft“ (Günter Gaus) viel zu selten Gegenstand von literarischer und historischer Aufarbeitung ist. Das Thema wird viel-mehr im schmalen Raster von Klischees und Vor-urteilen rauf und runter dekliniert, und leider ganz oft sogar von jenen, die diese Zeiten real nie erlebt haben. Anders Frank Michael Wagner. Er bezeichnet seine Geschichte als „frei erfunden“, aber er hat sich dabei nicht ins „Phantasia-Land“ bewegt. Wagner ist Ostdeutscher, er hat dort gelebt, wo die Ferienreise ins „Bruderland“ beginnt, nämlich in Thüringen, und er kennt das Chemiefaserkombinat Schwarza, das quasi die Kulisse abgibt für die Beschreibung jener DDR-Alltagswelt, aus der die Protagonisten kommen, in der sie leben, und die sie geprägt hat.

Auch wenn Wagner die Story seines Romans erdichtet hat, so ist diese Fiktion doch nach meinem

Empfinden sehr nah an der Wirklichkeit. Das betrifft den Hauptstrang des Buches mit den spannenden Erlebnissen im Feriendomizil im tschechischen Böhmerwald. Aber es gilt gleichermaßen für die Ein-blendungen, in denen uns Wagner zurück nach Hause führt, und dieses hat – da mag mir der Schriftsteller erzählen, was er will – einen Namen, nämlich den des thüringischen Schwarza. Diese Montage aus Böhmer-wald-Abenteuerimpressionen und dem Lebens- und Schulalltag in der Chemiefaserstadt ist sehr gelungen.

Sie gibt dem Roman Stimmung und Rhythmus und zeigt uns im besten Sinne DDR-Alltag.

Dass Wagner mit seinem ersten Roman auch der erste ist – jedenfalls haben meine ziemlich gründlichen Recherchen nichts anderes ergeben – mit dem die geneigten Leser in ein authentisches DDR-Betriebs-ferienlager reisen dürfen, ist auf dem Weg der nach-träglichen Erkundung der für die meisten Nicht-Ossis unbekannten DDR kein exotischer Annex. Machen Sie die Probe auf’s Exempel und fragen wahllos bei Ostdeutschen nach, die Kindheit und Jugend in der DDR verbracht haben. Alle werden bestätigen, dass in den Sommerferien große Dinge erlebt wurden, die auch nach Jahrzehnten noch präsent sind. Danke also an den Autor, dass er uns diese Tür geöffnet hat.

Ein zweites Stichwort nenne ich „Eigenleben“.

Und wiederum betone ich, dass auch dieses kein notwendiges, sondern „nur“ ein hinreichendes Motiv ist, dieses Buch zu lesen. Aber reizvoll ist es schon, das, was Wagner uns erzählt, mit den eigenen Erlebnissen in den endlos langen Sommerferien zu vergleichen. Und zwar auf einer wirklich parallelen Ebene. Ich bin Jahrgang 1952. Ferien im Alter der jungen Leute, die uns der Autor nahebringt, hatte ich in den 60er Jahren. Das ist nahe bei den frühen 70ern, in denen die Geschichte spielt.

Der Begriff Trivialliteratur ist hier schon gefallen, und zwar keinesfalls im diffamierenden Sinne. Ich selbst aber lese trotzdem lieber Texte, die Lesbarkeit

UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / NOVEMBER 2017 127

INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN

und literarische Qualität vereinigen. Das trifft auf diesen Roman zu. Es hätte aber ganz anders kommen können. Denn eine naturalistische Schnulze hätte es bei diesem Inhalt auch werden können. Wagner hat das vor allem dadurch verhindert, dass er sich dem Thema auf satirische Weise genähert hat. Dass es eine von der Sorte „bitterböse“, wie es der Verlagstext auf dem Rücktitel verheißt, geworden ist, kann ich nicht bestätigen. Da ist vieles realistisch, und ich finde, so oder so ähnlich hätte sich auch eine wahre Geschichte zutragen können. Ferienlager war in der DDR allemal ein Abenteuer. Um nicht dem Sog der Verklärung lange zurückliegender Zeiten zu erliegen, habe ich meine Tochter Franca, eine geradezu leidenschaft-liche Ferienlagerfahrerin, gefragt. Ihre verschmitzte Antwort: „Papa, Du kennst inzwischen viele, aber noch längst nicht alle Geschichten…..“

Ein Freund, der das Buch nach mir gelesen hat, wie ich ein Ossi und mit Bezug zum Thema, fand’s ein wenig „sexlastig“. Darüber habe ich lange nachgedacht, und kann dieser Wertung nur sehr bedingt folgen. Ich erinnerte mich beim Lesen an ähnliche, von mir selbst erlebte Episoden. Damals ging’s weniger freizügig zu, nicht so schnell zur Sache und schüchterner waren wir auch. Aber die Ausschüttung von Hormonen im besagten Pubertätsstadium ist heute wie damals gleich.

Der Unterschied bestand also letztlich darin, dass wir sprachlich und in unseren Phantasien vieles von dem

„erlebt“, also vorweggenommen haben, was im Heute ganz einfach gemacht wird.

Meine beiden Anmerkungen sind ein Indiz, vielleicht sogar mehr, dass in der DDR sozialisierte Menschen das Buch über den Schlüpferdieb zu Tschechien anders lesen werden als ein Westmensch.

Daraus kann und darf aber keinesfalls abgeleitet werden, dass das Buch für diese beiden Leserkate-gorien unterschiedlich interessant ist. Denn auch ohne den Bezug zur eigenen Erinnerung erschließt sich das Buch auch jenem, dem die konkrete Materie fremd ist. Auch im „Westen“ fuhr man als Kind in die Ferien, zeltete mit den Pfadfindern oder den Jusos. Und bunt und verboten ging’s da ebenso zu wie im Böhmerwald. Und insofern ist Wagners Buch der ganz seltene Fall, dass es für einen quasi grenzenlosen Leserkreis zugänglich, ja mehr noch, dringend zu empfehlen ist. Es ist ein Kinder- und Jugendbuch. Es ist ein unterhaltsamer Roman für alle Alters-, Einkommens- und Bildungsklassen.

Anspruchsvoll ohne manieriert zu sein. Leicht les-bare Kost ohne unzulässige Trivialitäten. Und ein spannendes „Geschichtsbuch“ obendrein.

Womit wir – und das habe ich mir bewusst für den Schluss meiner Rezension aufgehoben – bei der Geschichte selbst sind. Die vier halbwüchsigen Haupthelden des Romans eint das Interesse für den zweiten Weltkrieg und an den handelnden Personen, die im Dritten Reich zuvorderst das Sagen hatten. Mit bemerkenswert profundem Wissen übernehmen sie im Feriendomizil die Rollen von Hitler, Himmler, Goebbels und Rommel und spielen Geschichte nach.

Eigentlich sind sie zu alt für das Ferienlager. Aber dank guter Beziehungen, die auch in der DDR nur jenen schadeten, die keine hatten, durften sie auch oberhalb der zulässigen Altersgrenze – das waren 14 Jahre – die besonders attraktive Auslandstournee noch einmal mit-machen. Was ihnen neben den „Kleinen“ eine Sonder-rolle einbrachte. Das damit Weniger an Integration ins normale Lagerleben bescherte ihnen die Freiräume, um die Geschehnisse an der historischen Wolfsschanze weitgehend unbeobachtet nachzuspielen. Natürlich im Spannungsfeld mit denen, die als Erzieher und Betreuer dafür zu sorgen hatten, dass auch im Ferien-lager sozialistische Zucht und Ordnung herrschten.

Diese fünf – drei Lehrerstudentinnen (für die war der Ferienlagerjob Teil der Ausbildung, und man begegnete ihnen in allen Lagerkategorien vom Betriebs- bis zum Zentralen Pionierlager), der Lager-leiter (ein promovierter Chemiker aus dem schon erwähnten Faserkombinat), und der hauptamt-liche FDJ-Funktionär Helmut (nur hier würde ich zustimmen, dass der Autor ihn bös-satirisch, und dies zu Recht, überzeichnet). Und alle sorgten für

„Zucht und Ordnung“. Aber eben nur in Maßen, denn sie waren zudem auch ganz gern mit sich selbst beschäftigt. Die Delegierung als Helfer ins Kinder-ferienlager galt als Arbeitszeit und war damit ein zusätzlicher Urlaub. Da wurde von den Erwachsenen – sehr zur Freude der Schutzbefohlenen – ganz gern mal einer „gezwitschert“ und die phantastische Gelegenheit zum Fremdgehen fernab aller häuslichen Beobachtung wurde natürlich auch genutzt. Im Buch mutierte diese Freude sogar zum Erpressungspotenzial!

Die nachgespielte Weltkriegsgeschichte, die Spannungen zwischen Chefs und renitenten jungen Schutzbefohlenen und nicht zuletzt die Verselbst-ständigung von Hormonausschüttungen inklusive erster zarter Liebe sind die Zutaten einer Ferien-melange, die uns ausgesprochen heiter, stimmungsvoll und mit vielen überraschenden Wendungen erzählt wird. Am Ende ist alles gut, aber die Helden kommen anders zurück nach Thüringen als sie es verlassen haben.

Warum die vier Jungen ausgerechnet in die Haut von Hitler, Himmler, Goebbels und Rommel geschlüpft sind? Fragen Sie den Dichter! Auch hier habe ich in etlichen Nachfragen meine eigenen Erinnerungen aufgefrischt. Tenor: wahrschein-licher wäre es gewesen, wenn sie Robin Hood oder Ivanhoe – diese Helden kannten wir aus den intensiv geschauten Samstagsnachmittagsserien im Westfernsehen – nachgespielt hätten.

Natürlich darf ein Autor seine Geschichten nicht durchs Raster der „political correctness“

jagen. Er muss sie einfach erzählen. Genauso wie sie in seinem Kopf entstehen. Aber er muss auch damit leben, dass es einige geben wird, die nach der Lektüre des Romans nun endlich „wissen“, warum die AfD im Osten so viele Wähler hat und wes-halb es Rostock-Lichtenhagen gab………Insofern

„bedient“ die Lagerstory ganz sicher ungewollt auch ein dominantes Meinungsbild mit Stichworten wie

„verordneter Antifaschismus“, daraus angeblich gewachsener Rechtsgesinnung oder dem Klischee von den verblödeten „Berufsfunktionären“. Inso-fern gerät der Autor nach meinem Geschmack auch hier und da ins Populistische. Das musste nicht sein, aber weil’s dem guten Gesamteindruck nicht wirklich schadet, kann ich’s verkraften.

Wer aber wirklich will, kann im Roman auch darüber lesen, dass arrivierte Fachleute wie der Doktor der Chemie einfach mal so drei Wochen lang ein Kinderferienlager geleitet haben, anstatt in dieser Zeit eine neue Chemiefaser zu erfinden. Oder auch andersrum: in den siebenwöchigen Sommerferien musste in der DDR kein Kind unbeaufsichtigt auf der Straße herumgammeln. Dass das etwas Gutes war, erlebe ich heute als Opa, wenn der Hort meines Enkels geschlossen bleibt. Da können, weil alles in unserer Nähe ist, Oma und Opa gut einspringen.

Die alleinerziehende Aldi-Kassiererin, und derer gibt es viele, muss schlimmste Klimmzüge machen, um Tag für Tag jemanden aufzutreiben, der ein Auge auf den Sprößling wirft.

Ich habe Antifaschismus in der DDR übrigens nie als verordnet empfunden und sehe mich hier in einer Mehrheit. Vielleicht war er zu einseitig auf den kommunistischen Widerstand fokussiert, aber er war plausibel und überzeugend. Deshalb hätte ich – wäre ich denn als Autor tauglich, woran es mir leider gebricht – den Roman sehr gern und so gut geschrieben wie es Frank Michael Wagner getan hat. Aber ich hätte auf den Spruch „Ich hab Hunger, mir ist kalt, ich will zurück nach Buchenwald“ auf Seite 122 verzichtet.

Auch wenn er verbürgt ist. Aber ebenso verbürgt ist, dass Nazismus, gelebt oder in Gestalt von Symbolik, etwa einer Hakenkreuzschmiererei, in der DDR die große Ausnahme war. Natürlich auch deshalb, weil solche Entgleisungen streng geahndet wurden!

Rezensent: Prof. Dr. Michael Schäfer Bewertung:

*****

Frank Michael Wagner:

Das unreife Wanken des Schlüpfer-diebs in der Wolfsschanze Größenwahnverlag Frankfurt am Main 1. Auflage 2017

ISBN 978-3-95771-182-3 www.groessenwahn-verlag.de

Aufbau Literatur Kalender 2018 Auf Anhieb werden Sie sich nicht erinnern. So vermessen ist der Rezensent nicht, dass er meint, dass sich seine Zeilen, die sich Ihre Gunst mit Millionen anderen Informationen teilen müssen, so tief in Ihr Gedächtnis eingraben, dass sie jederzeit präsent sind. Ich habe aber die leise Hoffnung, dass es bei Ihnen – zumindest bei Bücher

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manchen – klingelt, wenn ich an die Dezember-ausgabe 2016 erinnere, in der wir den Aufbau Literatur Kalender 2017 vorgestellt und mit dieser Edition zugleich den 50. Geburtstag dieser Legende aus dem Aufbau Verlag gefeiert haben.

Standesgemäß mit Rotkäppchensekt. Der kommt bekanntlich aus Freiburg an der Unstrut und hat es als Marke aus dem Osten geschafft, schon vor einigen Jahren gesamtdeutscher Marktführer zu werden, und diesen Platz bis heute sogar noch auszubauen. Ähn-lich der Aufbau Verlag. Er wurde 1945 in Berlin im Auftrag des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands e.V. gegründet und wuchs bald zum größten belletristischen Verlag der DDR heran. Er hatte sich nach seiner Gründung unter Berufung auf das humanistische Erbe der deutschen Kultur auf Exilliteratur und antifaschistische Literatur sowie literaturwissenschaftliche und philosophische Themen spezialisiert. In den folgenden Jahr-zehnten erweiterte sich das Verlagsprogramm unter anderem auf Werke der klassischen Weltliteratur, zeitgenössische anspruchsvolle deutsche Literatur, osteuropäische und lateinamerikanische Titel sowie einzelne westeuropäische Literaturen.

Nach der Wende stand dieses Traditionshaus mehrfach auf der Kippe. Dass es überlebte und jetzt aus der deutschen Verlagslandschaft Gott-lob nicht mehr wegzudenken ist, gehört zu den wenigen Erfolgsgeschichten, auf die ostdeutsche Marken verweisen können.

Unter dem Namen Aufbau Verlag finden wir heute auch die Imprints Aufbau Taschenbuch (atb), Rütten & Loening sowie Blumenbar. Der Verlag beschäftigt 35 Mitarbeiter und veröffent-licht jährlich rund 200 Neuerscheinungen, davon 110 Novitäten im Taschenbuch und 150 Titel neu als E-Book. Die Schwerpunkte des Verlags liegen in den Bereichen Belletristik, Sachbuch und Taschenbuch. Damit die nicht Aufbau-Kenner einordnen können, was das Haus seit seiner Gründung 1945 für die Bewahrung deutscher Gegenwartsliteratur getan hat, sei daran erinnert, dass Aufbau 1948 die Rechte sämtlicher Titel des Aurora-Verlags übernahm.

Die Aurora-Bücherei enthielt unter anderem Werke von Ernst Bloch, Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Oskar Maria Graf, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Berthold Viertel, Wieland Herz-felde und Ehm Welk.

Und noch ein Blick in die Historie. Unter dem Aufbau-Dach erschien die legendäre Zeit-schrift „Sinn und Form“, in der wider alle Zensur immer wieder kritische Texte ihren Platz fanden, und über die Zeiten wird man sich an Walter Janka erinnern, der 1951 zunächst stellvertretend und drei Jahre später die Direktion des Verlages übernahm. Der aufrechte Antifaschist wurde 1957 in einem unwürdigen Schauprozess zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er sich gegen die stalinistisch geprägte Diktatur der SED

und für die Vereinigung von Demokratie und Sozialismus eingesetzt hatte.

Gegen den Widerstand der SED-Kulturein-peitscher steht Janka namentlich dafür, dass Auf-bau auch Werke der Weltliteratur von westlichen Autoren herausgab, darunter Ernest Hemingways

„Der alte Mann und das Meer“, Jean-Paul Sartres

„Die Fliegen“, „Die ehrbare Dirne“ von Nekrassow oder Marcel Prousts „Auf der Suche nach der ver-lorenen Zeit“ (alle 1956/1957). Ebenso wie die zeitgleich erschienenen Publikationen von Franz Kafka und Hugo von Hofmannsthal stellten diese Bücher auf dem Buchmarkt der DDR eine kleine Sensation dar und waren schnell vergriffen.

Dass der Verlagslektor Wolfgang Harich zur gleichen Zeit auch noch eine sofortige Neuordnung des Sozialismus und die Wiedervereinigung Deutschlands unter linkem Vorzeichen forderte, brachte das Fass zum Überlaufen. Staatschef Walter Ulbricht veranlasste die Verhaftung von Janka und Harich wegen „innerparteilicher Fraktionsbildung

und Verrat an den Klassenfeind“. In dem schon erwähnten Schauprozess wurde auch Harich zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt.

Ohne das Überleben des Aufbau Verlags in der Marktwirtschaft könnten wir mit der Ausgabe 2018 nicht das nunmehr 51. Jubiläum des Auf-bau Literatur Kalenders feiern. Dämmert’s jetzt weiter? Richtig. Ich hatte Ihnen vor einem Jahr auch meine neue Buchhändlerin Johanna Binger vorgestellt, die seit meinem Umzug nach Berlin vor drei Jahren mein Leben mit Büchern mit mir teilt. Frau Binger präsentierte über viele Jahre ihr Sortiment in ihrer Buchhandlung der Bücher-gilde Gutenberg in höchst exponierter Lage in der Kleiststraße, nur wenige Schritte vom legendären KaDeWe am Berliner Wittenbergplatz. Ganz genau im Gebäude des DGB-Landesbezirkes Berlin-Brandenburg. Das wird 2018 abgerissen. An selber

Stelle wird im Jahr 2020 die neue Zentrale des Deutschen Gewerkschaftsbundes entstehen. Eine interessante Konstellation, die zu Zeiten als wir uns noch des grundlegenden Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit bewusst waren, wohl mehr Aufsehen erregt hatte: Das Proletariat im Zentrum der Schönen und Reichen, quasi ein Zaunpfahl im Fleische der Ausbeuter. Warum solche zuspitzenden Formulierungen aus der Mode gekommen sind, wenn wir doch besichtigen können, dass heute Vorstände bis zum 300fachen vom Lohn eines qualifizierten Facharbeiters verdienen – Tendenz steigend – und sich der für die Pleite der Air Berlin verantwortliche Chef von Air Berlin gerade seine bescheidene Jahreskohle von rund vier Millionen Euro bis einschließlich 2021 gesichert hat……..

In die DGB-Zentrale wird meine Bücher-freundin Binger 2020 auch wieder einziehen.

Jetzt aber gilt’s bis dahin ein Interregnum in der Welserstraße zu überstehen. Das sind nur einige hundert Meter vom angestammten Standort, aber die Welt ist dort komplett anders. Übrigens typisch für Berlin. Der Reiz der Hauptstadt sind diese Gegensätze auf engstem Raum. Ich habe Johanna Binger gerade im temporären „Laden“, in dem sie seit September ihre Schätze feilbietet, besucht. Bitte glauben Sie mir meine übergroße Freude, die ich empfand, als ich am besten Platz, gleich im Ein-gangsbereich den Aufbau-Literaturkalender 2018 entdeckte. Im „alten“ Domizil – viel größer als das jetzige Provisorium – gab es einen speziellen Raum für die Kalenderschätze. Da musste man schon ein wenig suchen bis man meinen Lieblingskalender von Aufbau entdeckte. Heute stolpert man über dieses Juwel und genau so muss es sein.

Ich hoffe, dass viele über den Kalender und all die anderen literarischen Kostbarkeiten stolpern, die Johanna Binger, eine im besten Sinne Biblio-phile, im Übergangsquartier unter Platzmangel präsentiert. Denn Bücherfreunde, die nicht nur blättern, sondern auch kaufen, braucht es, wenn die Buchhandlung die nächsten drei Jahre bis 2020 mit einem blauen Auge überstehen soll. Lebte sie am Wittenbergplatz von den flanierenden und gut betuchten Bildungsbürgern, die einen Gang in den Luxustempel KaDeWe mit einem Abstecher ins Reich der guten Bücher verbanden, so muss jetzt ein ganz anderes Klientel überzeugt werden. Denn die Welserstraße ist auch ein Ort für eine bestimmte Sorte von Sextouristen, die aus aller Welt hier in Hotels und Clubs aufschlagen.

Dass der Aufbau-Literaturkalender für diese

„Leserschaft“ eher wenig „Informatives“ bietet – so wie alle 50 Ausgaben zuvor – wird Sie, liebe Leserinnen und Leser, nicht wundern. Aber Sie, die Liebhaber guter Bücher, werden im neuen Jahr-gang wieder auf Ihre Kosten kommen. Denn auch diese Edition bietet wieder jene einzigartige und wunderbare Mischung aus Autoren und Büchern, die wir kennen und lieben, von denen uns aber der

Im Dokument Unternehmerin Kommune: (Seite 126-131)