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Reflexionen zum evolutionären Ansatz

Im Dokument China in den Medien (Seite 77-82)

“Freilich wird jeder westliche Kritiker sich fragen müssen, ob er genug von der chinesischen Geschichte der letzten drei Jahrtausende weiß, ob genug vom Konfuzianismus, ob er wenigstens genug weiß von Maos gewalttätigen Experimenten und millionenfachen Todesopfern und von den Verbrechen der Roten Garden, um angemessene Maßstäbe an Deng anlegen zu können. Die tief verwurzelte konfuzianische Abneigung gegen Unruhe oder gar Chaos wird er genauso in Anschlag bringen müssen wie die Tatsache, dass seine eigenen westlichen Maßstäbe relativ jungen Datums sind: Die westliche Demokratie gibt es erst seit gut zwei Jahrhunderten, die Sklaverei in den Vereinigten Staaten wurde erst vor anderthalb Jahrhunderten abgeschafft, und in Deutschland liegt Auschwitz gerade erst fünf Jahrzehnte zurück (...) Wir Europäer sollten verstehen, dass der Konfuzianismus sehr viel eher unseren moralischen Respekt verdient als jeglicher Raubtierkapitalismus. Deswegen müssen wir keineswegs an unseren eigenen Grundrechten, unserer rechtsstaatlichen Demokratie und unserer offenen Gesellschaft zweifeln.”197

Die Art der Kritik am China-Bild des Westens, die in dieser Passage aus der Hommage von Helmut Schmidt an Deng Xiaoping kurz nach dessen Tod im Jahr 1999 zum Ausdruck kommt, lässt sich sonst nur an wenigen Stellen des China-Diskurses in der deutschen Presse wieder finden. Sie beruht auf einer Auffassung von Chinas moderner Entwicklung, die sich von den Deutungsmustern einer auf radikale Systemwandlung ausgerichteten Erwartungshaltung - wie sie in der überwiegenden Mehrheit der China-Kommentare aus der deutschen Presse geäußert wird - deutlich abhebt. Dengs Politik der schrittweisen Reformen wird hierbei samt ihrer Widersprüche als ein nicht hoch genug zu schätzender Beitrag zur Modernisierung des Reichs der Mitte gewürdigt. Die Fortführung von Chinas gradueller Liberalisierung durch Dengs Nachfolger wird nach der gleichen Auffassung zwar als eine wahre Herkules-Aufgabe gedeutet, die jedoch keineswegs unlösbar wäre. Es wäre daher wenig sinnvoll, schwarzmalerische Szenarien oder

“worst cases” vorzustellen - schließlich wissen die Auslandschinesen, die sich mit ihren Krediten und Direktinvestitionen im chinesischen Festland engagieren, die Größe ihrer politischen Risiken viel besser abzuschätzen als wir Außenstehenden im

                                                                                                               

197  “Die Angst der Apparatschicks”, ZEIT, 28.02.1997.  

Westen, so der Altkanzler Schmidt. Für ihn lautet indes die unmissverständliche Botschaft aus Fernost: Auf seinem Weg in die Moderne kommt doch China gut voran.

Diese Sicht auf China, die sich auf eine vorwiegend positive Deutung seiner graduellen Reformpolitik stütz, taucht im gesamten Zeitraum von 1997 bis 2001 nur in einer sehr kleinen Anzahl der China-Kommentare aus der deutschen Presse wieder auf.198 Dabei handelt es sich fast ausschließlich um Beiträge aus der ZEIT und der taz - mit Ausnahme eines FAZ-Beitrags. Geteilt wird in diesen Beiträgen vor allem die Kritik an der Fixierung der westlichen China-Kritiker, einschließlich der deutschen wie aller westlichen Medien, auf die negativen Seiten der Entwicklung Chinas - allem voran auf die immer wieder kritisierten Menschenrechtsverletzungen -, die letztlich, wie in diesen Beiträgen festgestellt wird, zur Verkennung des tiefgreifenden Wandels im Reich der Mitte führe. In diesem Sinne kommentiert die FAZ - zeitgleich mit dem oben zitierten Beitrag Helmut Schmidts für die ZEIT - zum Tod von Deng Xiaoping: “Wer die Unterdrückung der Menschenrechte beklagt, sollte jedoch nicht übersehen, dass dies nur für politische Aktivisten gilt. Für die unendliche Überzahl der Menschen in China hat sich die Lage gebessert. Mehr denn je wagen es die Bürger, auch gegen die Behörden vor Gericht zu gehen. Selbst auf dem Lande lassen sich die Bauern nicht mehr alle Schikanen durch die lokalen Potentaten gefallen. Im täglichen Leben sind die Chinesen frei wie nie zuvor (...) Es ist schon eine Ironie der Geschichte, dass einst, als Millionen verhungerten und während der Kulturrevolution Millionen terrorisiert wurden, China immer wieder unter westlichen Intellektuellen und Politikern gläubige Anhänger fand, die die angeblichen Errungenschaften, gar den "neuen Menschen" priesen oder wenigstens um Verständnis warben, während heute, da es den Menschen dort besser geht als je zuvor, sich immer wieder heftige öffentliche Kritik an China entzündet.”199

In ähnlicher Weise richtet sich die ZEIT gegen die westlichen China-Skeptiker mit einem Beitrag zu den fortlaufenden Reformen im chinesischen Justizsystem drei Jahre später. Während sich China allmählich “von einer willkürlichen

                                                                                                               

198  Genauer genommen sind das 13 von den insgesamt 232 in dieser Arbeit erfassten Beiträgen aus jener Zeit.  

199  “China ohne Deng”, FAZ, 21.02.1997.  

Einparteienherrschaft zu einem aufgeklärten Staat”200 entwickelt, bleiben die westlichen Beobachter am gängigen Bild eines Schattenreichs der Menschenrechtsverletzungen gefangen - bemerkt darin die ZEIT. Durch die Empörung über die Eigenmächtigkeiten der herrschenden Kommunisten - so die ZEIT weiter - übersehen sie das Wesentliche: zum ersten Mal seit der Einführung der Reformen von Deng entstehe in der langen chinesischen Geschichte ein zeitgemäßes Justizsystem: “Niemand weiß, wie lange das ideologisch verbrauchte, aber organisatorisch intakte Regime seine Staatsordnung aufrechterhalten kann.

Umso stärker fallen deshalb jene wenigen Reformen ins Gewicht, die schon heute politische Strukturen schaffen, die in der Zukunft für Beständigkeit sorgen werden.

Wie bedeutsam die Einführung von mehr Recht und Gesetz ist, macht KP−Vordenker Xu mit einem einfachen historischen Vergleich klar: "Im Rechtswesen holen wir gerade die Lektionen der Französischen Revolution nach." Tatsächlich hat die Pekinger Führung in keinem anderen politischen Bereich so weitreichende Reformen geduldet.”201 Damit sei ein politischer Bewusstseinswandel in Gang gebracht worden, der vor allem im zunehmenden Engagement von Chinas jungen Anwälten für die Bürgerrechte bemerkbar mache. Für sie wie für die westlichen Kritiker mag das Versprechen von Pekings Reformpolitikern über den Aufbau eines Rechtsstaats noch uneingelöst bleiben, dennoch - so bemerkt schließlich die ZEIT: “Wenngleich Peking weit davon entfernt ist, das Versprechen wahr zu machen, ist China auf dem Weg seiner Einlösung weiter vorangekommen als je zuvor. Die westliche Menschenrechtsdebatte sollte das mehr als bisher in Rechnung stellen.”202

Fast wie eine Garantie für die Fortführung der Reformen in Richtung eines aufgeklärten und rechtsschaffenden Staates erscheinen aus Sicht der ZEIT wie der taz allen voran die Bemühungen des damaligen Ministerpräsidenten – und im Westen als Top-Reformer zelebrierten - Zhu Rongji. Mit seinem Rückgriff auf “eine unter den Alt-Kommunisten verhasste konfuzianische Ethik” und seinen wiederholten

“Forderungen nach dem Aufbau einer sauberen und ehrlichen Regierung” stünde Zhu so nah an Chinas Bürgern wie kein kommunistischer Führer zuvor, so die ZEIT.203 Im Prinzip wäre Zhu aber auch dem Westen so nah wie kein

                                                                                                               

200  “Juristen auf dem langen Marsch”, ZEIT, 18.05.2000.  

201  Ebd.  

202  Ebd.  

203  “Riskante Offenheit”, ZEIT, 11.03.1999.  

kommunistischer Machthaber jemals war, sogar beim Thema Menschenrechte - bemerkt hierzu ihrerseits die taz und zitiert Zhus eigene Worte in einem Versuch, Verständnis für die chinesische Binnensicht zu wecken: “Er, Zhu, sei sich mit Europa und Amerika einig. Doch Zhu könne nach Jahrtausenden kaiserlicher Diktaturen, nach kolonialer Unterdrückung und einer verfehlten Kulturrevolution nicht binnen weniger Jahre den gleichen politischen Aufklärungsprozess vollziehen, der im Westen eine viel längere Zeit in Anspruch nahm (...) Den Weg zu einer neuen Verfassung beschreiben die für Zhu heute sichtbaren und überprüfbaren Bemühungen der KPCh, mit neuen Gesetzen und größerem Einfluss der Gerichte die langfristigen Grundlagen für eine Demokratie zu legen. Man kann dem Wirtschaftszaren in allen Punkten mit der chinesischen Wirklichkeit widersprechen.

Viele Chinesen sind heute reif für die Demokratie. Nicht der Rechtsstaat, sondern die korrupte Willkür der Partei löst bis heute die meisten Streitfälle. Doch die leicht vergessene Erkenntnis, dass der Umwandlungsprozess, vor dem China heute steht, in Europa über zwei Jahrhunderte hinweg mit Weltkriegen und blutigen Revolutionen verbunden war, verschafft den Einwänden der Pekinger Kommunisten allein schon Bedeutung. Es ist leicht, Zhu einen Diktator zu schelten, es ist viel schwerer, die Risiken, die er zu bedenken gibt, ernst zu nehmen.”204

Der pragmatische Weg der graduellen Reformen, den die chinesischen Führer entgegen dem russischen Beispiel eingeschlagen haben, scheint nach einigen Kommentaren aus der ZEIT und der taz dem politischen System in China nicht zuletzt eine breite Legitimation in der Bevölkerung verschafft zu haben. Knapp 10 Jahre nach dem Umbruch von 1989 stehe das kommunistische China wirtschaftlich besser als das kapitalistische Russland da und verfüge über einen stärkeren Gesellschaftskonsens - bemerkt die ZEIT unter dem Titel “Hauptsache die Katze fängt Mäuse” im Jahr 1998.205 Der evolutionäre Ansatz - im Gegensatz zur schnellen Einführung von Demokratie und Marktwirtschaft - gälte demnach zu diesem Zeitpunkt als Schlüssel zum Erfolg der Volksrepublik. Umso mehr Anklang – stellen dabei beide Medien fest - findet das vorsichtige Reformprogramm der chinesischen Regierung bei der Bevölkerung. Vor allem die heutige Jugend und die Aufsteigertypen des Reformkapitalismus in den “fortgeschrittenen Metropolen” der Ostküste betrachten das ungebildete Bauernvolk auf dem Land als Grund, auf die                                                                                                                

204  “Mehr als Tyrannenhätschelei”, taz, 16.03.1999.

205  “Hauptsache, die Katze fängt Mäuse”, ZEIT, 22.10.1998. Dazu vgl. “Langer Marsch nach oben”, ZEIT, 30.09.1999.  

Demokratie zu warten und den Reformweg über die Institutionen zu präferieren - kommentiert die ZEIT anlässlich des 10. Tiananmen-Jahrestags im Jahr 1999 unter dem Titel “Rebellen an der Macht: Zehn Jahre nach dem Tiananmen-Massaker verwaltet die Protestgeneration Chinas Reformpolitik”.206 Ähnlich schreibt zu diesem Anlass auch die taz: “Erstmals schrieb sich eine Massenbewegung im seit Jahrhunderten kaiserlich/kommunistisch regierten China die drei Forderungen des Republikanismus auf die Fahnen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Seither kann nichts mehr das Virus der Freiheit töten (...) Unerklärlich aber bleibt, warum der westliche Blick auf China immer noch so eng an den düstersten Stunden des Aufstandes haftet und die Fortschritte ignoriert, die China heute inmitten der Asienkrise zu der vernünftigsten Entwicklungspolitik befähigen, die man sich derzeit nur wünschen kann (...) Die politische Botschaft von 1989 verblasst unter diesen Umständen nicht. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit werden bei jedem Schritt der Volksrepublik nur wichtiger werden. Aber die KPCh hat bei ihren Verbrechen von 1989 nicht verharrt, sondern sie - soweit wie möglich - in Wohltaten für die Republik umzuwandeln versucht. Das erkennen die meisten Chinesen heute an und wollen von hier den republikanischen Faden weiterspinnen. Der Westen darf sich dem nicht mit einer Menschenrechtsmoral widersetzen, die in vielen Entwicklungsländern niemanden vor dem Verhungern schützt.”207

                                   

                                                                                                               

206  “Rebellen an der Macht”, ZEIT, 02.06.1999.  

207  “Bauernsozialismus mit Computer”, taz, 15.04.1999.  

Im Dokument China in den Medien (Seite 77-82)