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2. Textlinguistische Charakterisierung des Texttyps ‚Kriminalroman‘

2.3 Zentrale Aspekte der Textorganisation im Kriminalroman

2.3.5 Kommunikationsprinzipien und ihre Umsetzung

2.3.5.1 Das Prinzip der Verständlichkeit

„Prinzipiell ist eines der Ziele der Erzählung, verstanden zu werden“ (Moles 1973, 164). Selbst wenn diese Bemerkung einem vielleicht allzu selbstverständlich bzw. ein wenig pedantisch vor-kommt, weist A. A. Moles damit doch unverkennbar auf den Vorrang hin, den das Prinzip der Ver-ständlichkeit in Bezug auf die schriftsprachliche Kommunikation mit Erzähltexten hat. Zudem ist die Teilnahme an literarischer Kommunikation in der Regel freiwillig und interesseorientiert.

Wenn der Leser einen Roman für nicht gut lesbar bzw. langweilig hält, kann er jederzeit die Lektüre abbrechen.98 Aus diesem Grunde ist es unerlässlich für den Autor, bei der Textproduktion die Wis-sensvoraussetzungen und die Interessen des Lesers einzuschätzen und antizipierend Verständnis si-chernde Maßnahmen zu ergreifen, um dem Einwand mangelnder Verständlichkeit von Seiten des Lesers von vornherein zu entgehen.

Für den Kriminalroman ist Verständlichkeit das allerwichtigste Kommunikationsprinzip: Der Text muss sowohl verständlich als auch möglichst leserfreundlich sein, da der Autor zum Zweck der Unterhaltung schreibt und meistens mit Rücksicht auf den erwünschten kommerziellen Erfolg ein möglichst großes Publikum ansprechen will. „Krimis lassen sich in den Regalen von Lastwagen-fahrern und Präsidenten finden“ (Beinhart 2003, 78), und dies ist nur erreichbar, wenn Krimiautoren ihre Texte klar, leicht zu verstehen und an ein großes, höchst heterogenes Publikum mit unter-schiedlichen Wissensvoraussetzungen gerichtet sprachlich gestalten.99 Andererseits ist es für die

97 Ausführlich zu den Kommunikationsprinzipien vgl. Fritz 1994a, 195ff. Zu den strategischen Prinzipien für erfolg-reiche Kommunikation vgl. Fritz 1982, Kap. 3. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Anwendung der Grice’schen Prinzipien zum Zweck einer Theorie der Textbewertung vgl. Fritz 2008, 80ff.

98 Daher betont Stephen King in Das Leben und das Schreiben, seinem Ratgeber für das Romanschreiben: „Meines Erachtens sollte keine Erzählung und kein Roman das Arbeitszimmer verlassen, solange der Verfasser nicht überzeugt ist, dass sein Werk einigermaßen leserfreundlich ist“ (King 2002, 217).

99 Ferner betont Larry Beinhart folgendermaßen in Crime. Kriminalromane und Thriller schreiben, seinem Ratgeber für das Krimischreiben, eine lässige Handhabung der Grammatik bzw. ein stark umgangssprachlich geprägter Stil sei in Ordnung, vorausgesetzt, dass der Text klar, verständlich und gut lesbar ist: „Eigene Auslegung der Zeichensetzung?

Eine Vorliebe für Satzfragmente? Erfundene Vokabeln und Wörter, die in keinem Wörterbuch auftauchen? Alles völlig in Ordnung ... solange es gut und leicht verständlich ist“ (Beinhart 2003, 75).

strategische Wissensvermittlung im Kriminalroman gang und gäbe, dass Formen der Informations-zurückhaltung dem Prinzip der Verständlichkeit widersprechen können, aber als krimispezifisch

„hingenommen“ werden (vgl. Abschnitt 6.3.1). Dies gehört zu den wiederkehrenden Charakteristika, die das Wissensmanagement im Kriminalroman aufweist.

Aber wie genau wird das Prinzip der Verständlichkeit im Kriminalroman umgesetzt? Zur Ver-deutlichung sehen wir uns an, wie Krimiautoren beim Gebrauch von Ausdrücken aus spezifischen thematischen Wortschätzen mögliche Verständnisprobleme antizipierend die etablierten Verständnis sichernden Maßnahmen ergreifen, damit die eventuell unbekannten Ausdrücke an der betreffenden Stelle für den Leser anschaulich erklärt werden.

Wie bereits erwähnt, werden im Kriminalroman entsprechend bestimmten spezifischen thema-tischen Textbausteinen oft besondere thematische Wortschätze eingesetzt, z.B. der Jargon der Poli-zei, die gerichtsmedizinische bzw. forensische Fachsprache, der Wortschatz eines in der Geschichte vorkommenden Metiers usw. Da der Autor, wenn er sich an ein breites Publikum wenden möchte, ein solches Vorwissen beim Leser nicht voraussetzen darf, ist das Verfahren der Vokabelerklärung bzw. Wissensvorentlastung untrennbar mit dem Gebrauch solcher Ausdrücke verbunden, die even-tuell Verständnisprobleme verursachen könnten. Zu diesem Zweck gibt es etablierte Formen und Verfahren, mit denen der Autor das für das Textverständnis notwendige Wissen „just in time“ liefern und somit dem Leser eine sofortige Verständnishilfe anbieten kann. Dazu gehört etwa die bereits ausgeführte Anwendung von Anmerkungen. Am häufigsten kommt allerdings die Appositionskon-struktion zum Einsatz, d.h. die Erklärung steht in Apposition zu dem erklärungsbedürftigen Aus-druck, sodass der Leser den Ausdruck einwandfrei versteht, noch bevor sich ihm die Frage nach der Bedeutung stellt. Vor allem wird ein Akronym, also ein aus den Anfangsbuchstaben mehrerer Wör-ter gebildetes Kurzwort, meistens durch die Appositionskonstruktion erklärt, wie etwa die folgende Erklärung von AFIS aus Patricia Cornwells Die Dämonen ruhen nicht: „Als Benton noch gegen Verbrecher ermittelt hat, waren seine Fingerabdrücke in AFIS, dem Automatisierten Fingerab-druck-Identifizierungssystem, gespeichert“ (248). Mit Hilfe der Appositionskonstruktion wird sofort deutlich gemacht, wofür das Akronym AFIS steht. Zudem leistet der Kontext auch einen Beitrag dazu, den Verwendungszweck von AFIS zu verdeutlichen.

Genauso geläufig wie die Appositionskonstruktion ist die nachfolgende Erläuterung in Form der Erzählerrede. Hierfür zwei Beispiele Sixpacks und CODIS aus Tess Gerritsens Die Chirurgin:

Moore wandte sich an Frost. »Zeigen wir ihr die Sixpacks.«

Frost reichte ihm eins der Verbrecheralben. Die Fotoserien wurden »Sixpacks« genannt, weil es von jedem Tä-ter sechs Aufnahmen gab. (Die Chirurgin, 198)

»Was macht die DNS-Analyse im Fall Nina Peyton?«

»Da wird mit Hochdruck dran gearbeitet«, antwortete Rizzoli. » [...] Drücken wir die Daumen, dass der Täter schon in CODIS registriert ist.«

CODIS war die nationale DNS-Datenbank des FBI. Das System steckte noch in den Kinderschuhen, und die genetischen Fingerabdrücke von einer halben Million verurteilter Straftäter warteten noch darauf, in die Daten-bank eingegeben zu werden. Ihre Chancen, einen »Treffer« zu landen, also eine Übereinstimmung mit einem be-kannten Straftäter, waren gering. (Die Chirurgin, 176)

In beiden Fällen folgen gleich nach der für den Leser höchstwahrscheinlich unverständlichen An-wendung der Ausdrücke Sixpacks und CODIS die Erklärungen durch den Erzähler. In dem ersten Beispiel ist der Ausdruck Sixpacks, der hier zum polizeilichen Jargon gehört, für die meisten Leser erklärungsbedürftig, weil sie den Ausdruck normalerweise nur im Sinne vom Sechserpack Bier oder vom Waschbrettbauch durchtrainierter Männer kennen. Deshalb wird das für das Textverständnis notwendige Wissen über Sixpacks in diesem speziellen thematischen Zusammenhang unmittelbar vermittelt, und zwar durch die Bezugnahme auf den damit gemeinten Gegenstand (Verbrecheralben) sowie die vom Erzähler gelieferte Erklärung, warum die Fotoserien Sixpacks genannt werden. Auf diese Weise wird der ungewöhnliche Gebrauch von Sixpacks kurz und knapp erklärt. In dem zwei-ten Beispiel werden durch die Erzählerrede nicht nur eine präzise Erläuterung unmittelbar nach der Anwendung von CODIS geliefert, sondern zugleich auch zusätzliche Informationen über die gerin-gen Erfolgsaussichten übermittelt, die bereits auf die weitere Entwicklung der Geschichte hindeutet:

Im Nachhinein kann man sie sogar als eine Art Vorausdeutung betrachten, denn das Ermittlungs-team findet später, wie vom Erzähler hier alles andere als zuversichtlich erwartet, tatsächlich keinen Treffer in CODIS. Insofern wird hier das Erklärungsverfahren in Bezug auf CODIS zugleich als Teil der strategischen Wissensvermittlung eingesetzt.

Der Autor kann das Erklärungsverfahren von erklärungsbedürftigen Ausdrücken in der Tat häufig mit der Realisierung anderer Textbausteine kombinieren, woraus sich eine Vielfalt von Ge-staltungsmöglichkeiten ergibt. In der folgenden Textpassage aus Patricia Cornwells Die Dämonen ruhen nicht wird bei der Darstellung eines Kneipentreffs unter Polizisten die Vokabel- und Wis-sensvorentlastung beim Ausdruck Leichenfarm mit der Einführung und Charakterisierung des in der Wirklichkeit existierenden Gegenstands ‚Leichenfarm‘ und der Charakterisierung einer Figur, näm-lich der bereits eingeführten Polizistin Nic, verbunden.

»Nic hat ein Zelt auf der Leichenfarm und schläft da draußen bei ihren kleinen Krabbelfreunden«, merkt jemand an.

»Das würde ich tun, wenn es nötig wäre.«

Niemand widerspricht ihr. Nic ist bekannt für ihre Ausflüge zu dem einen knappen Hektar großen bewaldeten Gebiet, wo ein Labor der University of Texas steht. Dort wird der Verwesungsprozess anhand gespendeter menschlicher Leichen untersucht, um den vielen wichtigen, mit dem Tod zusammenhängenden Faktoren auf den Grund zu kommen, von denen der Todeszeitpunkt nicht der Geringfügigste ist. Man witzelt, Nic besuche die Lei-chenfarm, wie andere Leute im Altersheim bei der Verwandtschaft vorbeischauen.

»Ich wette, Nic kennt jede Made, jede Fliege, jeden Käfer und jeden Bussard da draußen persönlich.« (Die Dämonen ruhen nicht, 22)

Hier wird der außertextlich vorhandene nicht-fiktionale Gegenstand „Leichenfarm“ eingeführt und näher beschrieben, indem die Polizisten darüber reden und über die Kollegin Nic scherzhaft spotten.

Dabei wird der den meisten Lesern höchstwahrscheinlich unbekannte Ausdruck Leichenfarm durch die Wiedergabe der Figurenrede sowie die Erzählerrede erklärt. Das Ganze dient gleichzeitig dazu, die Figur Nic auf subtile Weise als eine Polizistin voller Mut, Ambitionen und Abenteuerlust zu charakterisieren. Diese Realisierungsweise, die gleichzeitig verschiedenen Zwecken dient, ist über-aus wirkungsvoll: Dank des derart hergestellten thematischen Zusammenhangs mit der Leichenfarm wirkt die Figurencharakterisierung lebendig und kraftvoll auf den Leser, sodass er sich durch die

Wissensvermittlung über die Leichenfarm die furchtlose Polizistin Nic lebhaft vorstellen kann.

Schließlich ist anzumerken, dass die Beurteilung darüber, ob das Erklärungsverfahren in Bezug auf denselben Ausdruck erforderlich ist, von Autor zu Autor unterschiedlich sein kann, wobei viele Faktoren eine Rolle spielen können. Nehmen wir als Beispiel das Akronym NCIC. Es gibt Krimi-autoren, die NCIC nicht für erklärungsbedürftig halten. Zum Beispiel wird es in Sue Graftons To-tenstille folgendermaßen ohne Erklärung im Text verwendet, sodass ein Leser, der es noch nicht kennt, aus dem Kontext schließen muss, worum es eigentlich geht: „Stacey notierte es auf dem Blatt.

»Mal sehen, ob wir die vom Leichenbeschaueramt dazu bringen, noch mal Fingerabdrücke zu nehmen. Vielleicht landen wir über NCIC einen Treffer«“ (73). In diesem Fall wird das Vorwissen über NCIC beim Leser entweder vorausgesetzt – in diesem Fall geht die Autorin offenbar davon aus, es sei den meisten (amerikanischen) Lesern bekannt – oder es besteht die Annahme, ein fehlendes Verständnis dieses Ausdrucks stünde einem weiteren Textverständnis nicht im Wege. In beiden Fäl-len wird eine Erklärung als überflüssig angesehen. Auch die Leute, die mit der deutschen Überset-zung des Romans zu tun haben (Übersetzer, Lektoren, Verleger usw.), nehmen offensichtlich an, NCIC würde keine Verständnisprobleme verursachen, weshalb keine Anmerkung des Übersetzers hinzugefügt wird.100 Im Gegensatz dazu hält die Autorin Tess Gerritsen das Akronym NCIC durchaus für erklärungsbedürftig und erklärt es nicht nur in ihrem Krimi Der Meister („Das Natio-nal Crime Information Center des FBI sammelte Daten über vermisste Personen, die mit Angaben über nicht identifizierte Leichen abgeglichen werden konnten“, 156), sondern auch im Fortset-zungsroman Schwesternmord („Das vom FBI verwaltete National Crime Information Center unter-hielt eine Datenbank, in der Fälle von vermissten Personen aus dem ganzen Land gesammelt wur-den“, 268) kurz und knapp durch die Erläuterung des Erzählers. Sie setzt dieses Erklärungsverfah-ren in ihrer Krimiserie immer wieder ein, damit sowohl die neuen Leser ohne Vorkenntnis als auch die alten Leser, die möglicherweise die Bedeutung von NCIC bereits vergessen haben, es problem-frei verstehen können. Indem sie derlei Verständnishilfen bzw. Gedächtnisstützen in Bezug auf denselben Ausdruck immer wieder anbietet, sorgt sie dafür, dass jeder einzelne Roman ihrer Krimi-serie unabhängig von den anderen rezipierbar ist. An diesem Beispiel wird die Umsetzung des Prin-zips der Verständlichkeit bzw. der Leserfreundlichkeit ebenso deutlich wie eine Art der Wissens-vermittlung in einer Krimiserie.

Anhand des obigen Vergleichs kommt der kommunikative Charakter der Wissensvermittlung deutlich zum Vorschein. Da die beiden amerikanischen Krimiautorinnen die Wissensvoraussetzun-gen des (amerikanischen bzw. internationalen) Publikums unterschiedlich eingeschätzt haben, ha-ben sie bei der Textproduktion auch unterschiedliche Entscheidungen getroffen, ob eine Erklärung für das Akronym NCIC vonnöten ist. Es ist leicht zu sehen, dass sich viele Faktoren auf die

100 Ein ähnliches Beispiel findet sich in Jonathan Kellermans Blutgier. In einer Szene, in der erzählt wird, wie der De-tektiv Milo am Computer sitzt, um nach den möglichen Vorstrafen eines Verdächtigen zu suchen, wird das Akronym NCIC folgendermaßen ohne Erklärung verwendet: „Er tippte. »Keine Vorstrafen in Kalifornien, zu dumm … versuchen wir’s mit dem NCIC. Komm schon, Baby, gib es Onkel Milo ... ja!«“ (79). Offenkundig geht auch hier der Autor davon aus, NCIC sei den meisten amerikanischen Lesern bekannt, sodass keine Klärung notwendig ist. Die Leser, die es nicht kennen, können nur aus dem Kontext erschließen, dass das besagte NCIC eine Art Computer-Datenbank sein muss und wozu es dient.

zung des Kommunikationsprinzips der Verständlichkeit auswirken, wie etwa die Einstellungen des Autors zur Leserfreundlichkeit, seine Einschätzungen der Wissensvoraussetzungen der meisten Le-ser und letztendlich, ob er ein internationales Publikum berücksichtigt.

In der Praxis gibt es allerdings auch zahlreiche Krimis, bei denen die Autoren spezifisches thematisches Wissen, Sprachwissen und Weltwissen bei ihrer höchst heterogenen Leserschaft vo-raussetzen, durch den Sprachgebrauch vielen Lesern das Gefühl geben, begriffsstutzig zu sein bzw.

beständig etwas nachschlagen zu müssen, was sowohl verständnisstörend als auch spannungshem-mend sein kann.101 Teilweise entstehen auch Referenzprobleme, die den Leser durch nicht eindeu-tig zuzuordnende Referenzausdrücke verwirren, sodass er nicht mehr weiß, von wem in einer be-stimmten Aussage eigentlich die Rede ist.102 Außerdem kommt der Leser durcheinander, wer was zu wem sagt, wenn Autoren bei der Redewiedergabe nicht ausreichend klärende Zusätze als Ver-ständnishilfe anbieten, z.B. durch Redeankündigungen zu den Äußerungen wie sagte X oder durch die Verwendung leicht identifizierbarer unterschiedlicher Sprechweisen der Figuren. Solche Fälle der mangelnden Klarheit gelten als Verstöße gegen das Prinzip der Verständlichkeit und zeigen, dass es keineswegs leicht zu erreichen ist, einen gut lesbaren Krimi zu schreiben. Sie zeigen auch, dass es für Krimiautoren insbesondere aufgrund des breit gefächerten Lesepublikums ausgespro-chen wichtig ist, bei der Textproduktion dem Prinzip der Verständlichkeit Priorität beizumessen und es bewusst zu befolgen. Denn wenn ein Krimi für die meisten Leser nicht klar und leicht verständ-lich ist, gilt er als schlechter Krimi und findet weniger Leser, was nicht im Interesse der Autoren liegt.