2. Textlinguistische Charakterisierung des Texttyps ‚Kriminalroman‘
2.3 Zentrale Aspekte der Textorganisation im Kriminalroman
2.3.5 Kommunikationsprinzipien und ihre Umsetzung
2.3.5.2 Das Prinzip der Plausibilität
zung des Kommunikationsprinzips der Verständlichkeit auswirken, wie etwa die Einstellungen des Autors zur Leserfreundlichkeit, seine Einschätzungen der Wissensvoraussetzungen der meisten Le-ser und letztendlich, ob er ein internationales Publikum berücksichtigt.
In der Praxis gibt es allerdings auch zahlreiche Krimis, bei denen die Autoren spezifisches thematisches Wissen, Sprachwissen und Weltwissen bei ihrer höchst heterogenen Leserschaft vo-raussetzen, durch den Sprachgebrauch vielen Lesern das Gefühl geben, begriffsstutzig zu sein bzw.
beständig etwas nachschlagen zu müssen, was sowohl verständnisstörend als auch spannungshem-mend sein kann.101 Teilweise entstehen auch Referenzprobleme, die den Leser durch nicht eindeu-tig zuzuordnende Referenzausdrücke verwirren, sodass er nicht mehr weiß, von wem in einer be-stimmten Aussage eigentlich die Rede ist.102 Außerdem kommt der Leser durcheinander, wer was zu wem sagt, wenn Autoren bei der Redewiedergabe nicht ausreichend klärende Zusätze als Ver-ständnishilfe anbieten, z.B. durch Redeankündigungen zu den Äußerungen wie sagte X oder durch die Verwendung leicht identifizierbarer unterschiedlicher Sprechweisen der Figuren. Solche Fälle der mangelnden Klarheit gelten als Verstöße gegen das Prinzip der Verständlichkeit und zeigen, dass es keineswegs leicht zu erreichen ist, einen gut lesbaren Krimi zu schreiben. Sie zeigen auch, dass es für Krimiautoren insbesondere aufgrund des breit gefächerten Lesepublikums ausgespro-chen wichtig ist, bei der Textproduktion dem Prinzip der Verständlichkeit Priorität beizumessen und es bewusst zu befolgen. Denn wenn ein Krimi für die meisten Leser nicht klar und leicht verständ-lich ist, gilt er als schlechter Krimi und findet weniger Leser, was nicht im Interesse der Autoren liegt.
artiger krimispezifischer kommunikativer Probleme gilt auch das Prinzip der Plausibilität als ein vorrangiges Kommunikationsprinzip für den Texttyp ‚Kriminalroman‘.103 Es ist unerlässlich für den Autor, das Prinzip der Plausibilität zu befolgen und einen durchdachten fiktionalen Kriminal-fall104 in anschaulicher Weise zu präsentieren, damit der Leser die zur Lösung führenden Zusam-menhänge der erzählten Ereignisse problemlos sehen kann und sie für logisch bzw. nachvollziehbar hält.
Aber wie kann ein Krimiautor das Prinzip der Plausibilität umsetzen? Zunächst muss er ver-meiden, entgegen der krimispezifischen textuellen Gestaltungs- und Gebrauchstradition bzw. den entsprechenden Erwartungen des Lesers zu schreiben, da der Leser davon ausgeht, dass der Autor die wichtigen krimispezifischen Spielregeln einhält und seine Erwartungen in Bezug auf den Text nicht enttäuscht. Zum Beispiel erwartet der Leser aufgrund der Konventionen des Kriminalromans, dass er früher oder später über alles, was den rätselhaften Fall betrifft, in Kenntnis gesetzt wird.
Wenn der Fall jedoch zum Schluss unaufgeklärt bleibt und weder der Detektiv noch der Leser weiß, wer es getan hat und wie bzw. warum der Mord überhaupt geschehen ist (wie etwa in dem japani-schen Krimi Yawarakana hoho [engl. Soft Cheeks] von Natsuo Kirino), erscheint das Erzählte we-gen der Unvollständigkeit äußerst fragwürdig und alles andere als plausibel, sodass der Leser ver-blüfft, unzufrieden und empört ist. Die Unstimmigkeit in Bezug auf die Gestaltungstradition des Kriminalromans gilt außerdem als Brechen des Prinzips der Plausibilität. Beispielsweise findet der Leser in Tess Gerritsens Blutmale entgegen seinen krimimäßigen Erwartungen bis zum Romanende kein nachvollziehbares Tatmotiv und erhält stattdessen die Erklärung, dass – im Rahmen der Morde an Menschen in einer lebensechten menschlichen Gesellschaft (oder: im von der Autorin geschaf-fenen Rahmen der Romanwelt) – der Täter kein Mensch ist und als Personifikation des Bösen eben ohne ersichtlichen Grund Menschen abschlachtet. Infolgedessen fragt sich der Leser zwangsläufig, ob er anstatt eines Krimis einen Horror- oder Fantasy-Roman gelesen hat. In diesem Fall wird das Prinzip der Plausibilität verletzt, weil Mythen in einer für den Kriminalroman ungewöhnlichen Weise als thematische Textbausteine eingesetzt werden und viele Details bezüglich der Morde mit der Begründung, der Täter sei eben kein Mensch, nicht plausibel gemacht werden. Angesichts der Nicht-Übereinstimmung mit der Gestaltungstradition des Kriminalromans kann der Leser also den Einwand erheben, dass ihm das Erzählte unwahrscheinlich vorkommt, oder dass das Erzählte Wi-dersprüche enthält. Kurz: Aufgrund seiner Gattungskompetenz ist der Leser in der Lage, die Fälle der Regelverletzung eindeutig zu erkennen und nach den für den Kriminalroman allgemeingültigen
103 Im Grunde gilt das Prinzip der Plausibilität nicht nur als ein vorrangiges Kommunikationsprinzip für den Kriminal-roman im Besonderen, sondern für Romane im Allgemeinen. Wie Stephen King in seinem Ratgeber mehrfach betont, hat die Glaubwürdigkeit beim fiktionalen Erzählen Vorrang: Zwar kann ein Romanautor alles schreiben, was er will, aber das Erzählte muss glaubwürdig sein und die Figuren müssen glaubwürdig sprechen und handeln, sonst nimmt man ihm seine erschaffene Romanwelt einfach nicht ab (vgl. King 2002, 174ff.).
104 Analysiert man den Kriminalroman bezüglich seiner Verstöße gegen das Prinzip der Plausibilität, so wird es beson-ders deutlich, ob bzw. inwiefern gegen dieses Prinzip verstoßen wird, wenn man einen Krimi ein zweites Mal liest und mit der Kenntnis, wer der Täter ist, dessen Plausibilität nachprüft. Da der Leser Kriminalromane normalerweise nur einmal rezipiert und das Mehrfachlesen aufgrund der fehlenden Spannung für ihn mehr oder weniger uninteressant ist, konzentrieren sich viele Autoren zu sehr darauf, auf Effekte abzuzielen, sodass sie dabei nicht hinreichend berücksich-tigen, dass ihre erfundenen Kriminalfälle durchdacht sein und auf den Leser glaubwürdig wirken sollen. Denn auch bei einem einfachen Lesen kann der Leser Probleme der Plausibilität häufig rückblickend feststellen.
kommunikativen Normen zu beurteilen. Denn die mit dem Texttyp ‚Kriminalroman‘ einhergehen-den stabilen Erwartungen dienen nicht nur als Produktionsleitlinie für einhergehen-den Krimiautor, sondern auch als Verstehensressource bzw. Bewertungsprinzipien für den Krimileser. Insofern sind die Relevan-zentscheidungen des Autors bei der Auswahl der thematischen Textbausteine bzw. die darauf bezo-genen Ausführungsbestimmungen stark verfestigt.
Ferner ist das Befolgen des Prinzips der Plausibilität mit der Wissensermittlung bzw. der er-wartungsgemäßen Ausführlichkeit verbunden. Entsprechend den Grice’schen Maximen der Quanti-tät (InformativiQuanti-tätsmaximen) soll die Menge der Informationen weder zu viel noch zu wenig sein, sondern genau so viel wie es der Kommunikationszweck verlangt (vgl. dazu Grice 1989, 24ff.).105 In Bezug auf den Kriminalroman sind für die Plausibilität der Geschichte einerseits Informationen über bestimmte thematische Aspekte erwartbar, und andererseits ist der darauf bezogene Grad der Ausführlichkeit bzw. der Detaillierung ebenfalls bedeutsam. So erwartet der Leser etwa, dass er in Bezug auf einen Verdächtigen hinreichend über dessen Charakter und ein mögliches Tatmotiv in-formiert wird, sonst leuchtet ihm nicht ein, warum dieser von den Ermittelnden als mutmaßlicher Täter in Erwägung gezogen wird.106 Ebenso sind für das Auswerten des Alibis detaillierte Informa-tionen über die zeitliche bzw. logische Folge der Handlungen eines Verdächtigen zur Tatzeit uner-lässlich, damit der Leser einsieht, warum der Detektiv dessen Alibi als lückenhaft oder als hieb- und stichfest betrachtet. Wenn am Romanende etwa ein Täter, der nicht unter Verdacht steht, ohne jeg-liche Beweislast gegen ihn plötzlich alles gesteht und Selbstmord begeht (wie etwa in Die letzte Spur von Charlotte Link oder in Inger Frimanssons Der Beschützer), erscheint die ganze Geschichte alles andere als logisch, wahrscheinlich und glaubhaft und verstößt damit gegen das Kommunikati-onsprinzip der Plausibilität. In solchen Fällen sind oft die mangelnde Explizitheit bzw. die Unge-schicklichkeit des Autors verantwortlich für die mangelnde Plausibilität des Endes. Denn durch das Hinzufügen einer ausführlichen Darstellung mit psychologischer Tiefe, die zeigt, was zuvor im Kopf des Täters vorgeht (als Begründung und Vorbereitung dieses Ausgangs) kann das Ende hinge-gen durchaus plausibel und nachvollziehbar wirken (ein gelunhinge-genes Beispiel ist etwa Håkan Nes-sers Die Frau mit dem Muttermal). Beim Befolgen des Prinzips der Plausibilität kommt es also nicht nur darauf an, dass gewisse hochrelevante Informationen aufgrund der krimispezifischen Ge-staltungs- und Gebrauchstradition sowie der entsprechenden Lesererwartungen unbedingt mitgeteilt werden müssen, sondern auch auf die richtige Dosierung der betreffenden Informationen bzw. die Art der Wissensvermittlung.
Im Folgenden kommen wir zu der Verfahrensfrage und untersuchen, wie genau ein Krimiautor das Prinzip der Plausibilität auf der sprachlichen Ebene befolgt. Will der Autor das Prinzip einhalten, so muss er in Bezug auf die erzählten Ereignisse die wichtigen thematischen Zusammenhänge, die zeitliche Folge und den Kausalzusammenhang verständlich formulieren bzw. in logischer
105 Aus diesem Grund werden in Ratgebern für das Krimischreiben sowohl die Weitschweifigkeit (insbesondere in Be-zug auf die langen Tiraden des Detektivs bzw. des erwischten Täters in der Aufklärung) als auch der sinnlose Minima-lismus ausdrücklich als Tabus der Erzählweisen bezeichnet (vgl. dazu Beinhart 2003, 75ff.; Frey 2005, 180ff.).
106 Ein derartiges Beispiel findet man in Inger Frimanssons Der Beschützer: Wegen der mangelhaften Wissensvermitt-lung über den Hauptverdächtigen, seine HandWissensvermitt-lungen um die Tatzeit herum und sein mögliches Tatmotiv wirkt es alles andere als verständlich, weshalb die Polizei ihn als mutmaßlichen Täter verhaftet.
folge darstellen, damit der Leser problemlos versteht, wie genau die Ereignisse miteinander zu-sammenhängen. Vor allem der Kausalzusammenhang muss deutlich werden: Da es bei Kriminalro-manen meist darum geht, wie der Detektiv anhand der ›clues‹ durch logische bzw. vernünftige De-tektion den Tathergang rekonstruiert und damit den Fall aufklärt, muss es auf den Leser überzeu-gend wirken, dass sich die Ereignisse in bestimmter Art und Weise zugetragen haben.107 Wenn es dem Autor nicht gelingt, einen solchen Kausalzusammenhang zu verdeutlichen, entgeht dem Leser bei der mangelnden Explizitheit leicht die Pointe des logischen Schlussfolgerns. Diesbezüglich muss man auch den Umfang eines Krimis in Betracht ziehen. Da die Textstellen, in denen kausal zusammenhängende Ereignisse dargestellt werden, oft weit auseinander liegen, ist es manchmal notwendig, dass in angemessener Weise wiederholt auf früher geschehene Ereignisse Bezug ge-nommen wird, damit sie dem Leser wieder in Erinnerung gerufen werden und er die Zusammen-hänge nicht übersieht.
Zur Veranschaulichung sehen wir uns Der Brenner und der liebe Gott von Wolf Haas genauer an und nehmen dabei unter die Lupe, mit welchen sprachlichen Vefahren der Autor explizit macht, dass ein Kausalzusammenhang zwischen den nacheinander erzählten bzw. auseinander liegend dar-gestellten Ereignissen besteht, der für die Lösung des Falls von ausschlaggebender Bedeutung ist.
Bei dem beschriebenen Fall handelt es sich um eine Kindesentführung an einer Tankstelle: Die zweijährige Helena verschwindet aus dem Auto, während Brenner, ihr Chauffeur und Babysitter, in dem Shop eine Tafel Schokolade für sie kauft. Nachdem Brenner von ihren Eltern gefeuert wird, spielt er wieder den Detektiv und ermittelt auf eigene Faust in dem Fall, um Helena zu finden.
Die entscheidende Figur für die Auflösung des Falls wird eingeführt, indem erzählt wird, wie Brenner beim Überprüfen des Überwachungsvideos der Tankstelle darauf eine Frau entdeckt, die zur Tatzeit ebenfalls etwas gekauft hat, und sich beim Tankwart nach ihr erkundigt. Daraufhin wird über diese Frau die Information geliefert: „Aber die kennt der Tankwart, weil die wohnt direkt ge-genüber und hat wie jeden Tag nur im Shop etwas gekauft“ (29). Auf diese Weise wird eine wichti-ge Figur einwichti-geführt und durch den Kontext als relevant wichti-gekennzeichnet, noch bevor sie selbst auf die Bühne tritt.
Bei ihrem ersten Auftritt wird dann geschildert, wie Brenner im Shop „die Frau vom deo“ (79) sieht und sie fragt, ob sie damals etwas beobachtet hat. Dabei wird scheinbar beiläufig erzählt, was genau sie im Shop kauft: „Sie hat sich eine Zeitung und einen Liter Milch genommen und an der Kassa noch eine Schachtel Marboro Light verlangt“ (79). Auf Brenners Frage, ob sie im Fernsehen oder in der Zeitung etwas über die Kindesentführung gehört hat, erwidert die Frau, dass sie keine Zeitung liest. Hierzu bemerkt der Ich-Erzähler sofort: „Wenn du so etwas gesagt kriegst
107 Nach Elizabeth George (vgl. George 2004, 65f.) sollen Krimiautoren die Ereignisse idealerweise wie dramatische Dominosteine präsentieren, d.h. ein Ereignis muss das folgende Ereignis auslösen („etwas in Szene eins verursacht Szene zwei“, George 2004, 66), auf diese Art und Weise führt ein Ereignis zum Nächsten usw. Ansonsten gelingt es ihrer Ansicht nach nicht, die Ereignisse kausal zu verknüpfen, dem Leser Ursache und Wirkung in der Ereigniskette zu verdeutlichen und damit die Geschichte plausibel zu machen. Ferner betont Elizabeth George, dass bei einer überzeu-genden Erzählung das Zusammenwirken zwischen Ereignissen und Figuren eine entscheidende Rolle spielt: „Ein Er-eignis allein kann eine Geschichte nicht zusammenhalten. Ebenso wenig wie eine Reihe von ErEr-eignissen. Nur die Per-sonen, die Ereignisse bewirken, und Ereignisse, die Personen berühren, können das erreichen“ (George 2004, 18, Her-vorhebungen im Original).
von jemandem, der sich gerade eine Zeitung gekauft hat, muss man natürlich schon sagen: ver-dächtig. Da steht sie vor ihm mit einem Liter Milch, einer Schachtel Marlbooro und einer Zeitung und erklärt: »Die Zeitung ischt für mich nur deprimierend«“ (82). Durch diese Äußerungen, insbe-sondere durch das krimitypische Schlüsselwort verdächtig, macht der Autor den Leser unverkenn-bar auf diese Textstelle aufmerksam – allerdings nicht wegen der Zeitung, sondern wegen der Milch.
Denn zum einen bekommt Brenner unmittelbar danach auf seine Anschlussfrage, warum sie denn überhaupt eine Zeitung gekauft hat, eine plausible Antwort „Wegen dem Fernsehprogramm“ (83), sodass das Kaufen einer Zeitung durch die Begründung nicht mehr verdächtig erscheint. Zum an-deren ist nach dieser Textstelle mehrmals von der Milch die Rede, z.B. bei der Bemerkung des Ich-Erzählers „aber ich sage immer, Milchtrinkerinnen sind meistens nicht so darauf aus, einem Mann auf seine blöden Bemerkungen eine noch blödere zurückzugeben“ (83) und die Äußerung der Frau „Aber einen normalen Einkäufer, der sich nur eine Milch kauft, braucht man nicht überwa-chen“ (85). Mit der Wiederaufnahme wird darauf hingewiesen, dass das Kaufen der Milch aus ir-gendeinem Grund von Bedeutung ist, was allerdings erst aus der Rückschau deutlich wird. Zudem endet der betreffende Abschnitt mit den Worten „er hat ihr weiter nachgeschaut, wie sie mit der Zeitung und der Milch in der linken und der Schachtel Marlbooro in der rechten Hand die Straße überquert hat und im Haus gegenüber verschwunden ist“ (86). Auf diese Weise werden die zuvor gelieferten wichtigen Informationen, nämlich dass die Frau, die während der Kindesentführung an-wesend war, direkt gegenüber der Tankstelle wohnt und jetzt Milch kauft, zusammenfassend am Abschnittsende, das generell als eine besonders wichtige Stelle für die strategische Wissensvermitt-lung im Kriminalroman gilt (vgl. Abschnitt 7.2), wieder betont angegeben.
Beim nächsten Auftritt dieser Frau, die mittlerweile Südtirolerin genannt wird, handelt es sich um eine kurze Episode, in der Brenner sich bei ihr zu Hause nach möglichen Anhaltspunkten er-kundigt und schließlich von Müdigkeit übermannt bei ihr übernachtet. Dabei wird anlässlich Bren-ners Ablehnung, als sie ihm Honigmilch als Südtiroler Schlafmittel zubereitet, weil er keine Milch trinkt, scheinbar beiläufig mitgeteilt, dass auch sie keine Milch trinkt: „da hat ihn die Südtirolerin sogar ein bisschen verliebt angeschaut, weil das war eine Gemeinsamkeit, die ihr wahnsinnig be-deutsam vorgekommen ist. Sie hat dem Brenner erklärt, ihr fehlt sogar dieses Enzym, das man braucht, um die Milch zu verdauen“ (132). Da sie allein lebt, stellen sich einem aufmerksamen Le-ser bei dieLe-ser Mitteilung sofort zwingendermaßen die Fragen: Warum hat sie denn zuvor im Shop der Tankstelle Milch gekauft? Wer trinkt die Milch? Auf diese Weise kann er zwei und zwei zu-sammenzählen und bereits erahnen, für wen die Frau Milch gekauft hat.
Schließlich taucht die kleine Helena auf, als Brenner wieder bei der Südtirolerin ist: Mit der Äußerung „wie auf einmal die Tür aufgegangen ist und achtundachtzig Stunden nach ihrem Ver-schwinden die weinende Helena im Zimmer gestanden ist“ (157) werden die Fragen um die Milch geklärt bzw. der Fall der Kindesentführung gelöst. Um den Lesern, die den Kausalzusammenhang der oben genannten Informationen noch nicht verstehen, auf die Sprünge zu helfen, bietet der Autor mittels des Ich-Erzählers noch die folgende Erklärung:
Und weil ich gerade Milch sage. Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber der Brenner hat es sich wahnsinnig vorgeworfen, dass er das übersehen hat. Dass ihm die Südtirolerin ausdrücklich erklärt hat, sie trinkt keine Milch, sie kann sie nicht verdauen, sie hat das Enzym nicht, und was hat sie gekauft, wie er sie zum ersten Mal auf der Tankstelle getroffen hat: einen Liter Milch! Gedanken gemacht hat er sich über die Zeitung, die sie gekauft, aber nicht gelesen hat. Aber die Milch hat er einfach so durchgehen lassen. Und da sieht man wieder einmal, wie knapp es oft hergeht im Leben, du schaust auf die Zeitung, aber in der Milch wäre die interessante Nachricht ge-wesen. (Der Brenner und der liebe Gott, 158)
Dermaßen eindeutig formuliert, entgeht nun keinem Leser der Kausalzusammenhang zwischen den erzählten Ereignissen sowie das Ablenkungsmanöver durch die Zeitung. An diesem Beispiel lässt sich daher beobachten, wie ein Krimiautor die entscheidenden Informationen in auseinander lie-genden Textstellen liefern kann, wie er dann aber gleichzeitig, wenn er nicht gegen das Prinzip der Plausibilität verstoßen will, mit bestimmten sprachlichen Verfahren, in diesem Fall mit dem Einsatz des Aufmerksamkeit hervorrufenden, krimitypischen Schlüsselworts verdächtig, der häufigen Wie-deraufnahme der Milch, der strategischen Wissensvermittlung am Abschnittsende und der abschlie-ßenden expliziten Erklärung mittels der Erzählerrede, die kausale Verknüpfung deutlich machen muss, damit auf den Leser alles verständlich, plausibel und überzeugend wirkt. Krimiautoren kön-nen also mit unterschiedlichen sprachlichen Verfahren deutlich machen, wie die erzählten Ereignis-se miteinander zusammenhängen, um von vornherein den möglichen Einwand mangelnder Plausi-bilität von Seiten des Lesers zu vermeiden.