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1.2 Vorüberlegungen zum Verhältnis von Lyrik und Emotionen

1.2.2 Poetologische Positionen zur Rolle von Emotionen in Gedichten

Wie hängt nun aber die Lyriktheorie von Staiger, Kayser oder Friedrich mit poetologischen Überlegungen der Nachkriegsautoren selbst zusammen? Hierauf lässt sich zunächst nur eine recht allgemeine Antwort geben. Auch unter den Lyrikern der Zeit kann das Gegenüber von einem an Erlebnis und Subjektivität orientiertem und einem das Subjektivitätsparadigma der Gattung eher ablehnendem Lyrikverständnis beobachtet werden. Die folgende Zusammenschau wichtiger poetologischer Positionen – sowohl im Rückgriff auf vorherrschende Strömungen, wie sie im letzten Kapitel beschrieben wurden, als auch im Hinblick auf Äußerungen einzelner Autoren – verdeutlicht, welche Rolle Emotionen im Rahmen der poetologischen Überlegungen vieler Nachkriegslyriker einnahmen. Hierbei wird zunächst insbesondere auf das Verhältnis von Gefühlen und Wirklichkeitsbezug sowie auf die Auseinandersetzung mit lyrischer Sprache und ihren Ausdrucksmöglichkeiten zu achten sein. Darüber hinaus werden einige poetologische Äußerungen exemplarischer Dichter der Nachkriegszeit in den Blick genommen, in denen wie schon bei Staiger, Kayser und Friedrich Begriffe wie ‚Gefühl‘, ‚Subjekt‘, ‚Erleben‘, ‚Empfindung‘,

‚Erfahrung‘, ‚Wahrheit‘ etc. von Bedeutung sind.

Wie im letzten Kapitel angemerkt, wurden nach 1945 zahlreiche Forderungen nach einem Kahlschlag der Sprache erhoben, die nicht nur in theoretischen Äußerungen artikuliert wurden, sondern sich auch in der konkreten Lyrikpraxis niederschlugen. Zum einen waren sie Ausdruck des Gefühls, die (lyrische) Sprache sei durch die Nationalsozialisten missbraucht beziehungsweise nachhaltig geprägt worden. Zum anderen spiegelten sie die Skepsis gegenüber lyrischen Traditionen und deren Bezug zu gesellschaftlichen Entwicklungen wider: Konventionelle Formen und Ausdrucksweisen wurden als unzureichend empfunden, auf das Erlebte zu reagieren und die Schrecken von Krieg und Nachkriegszeit darzustellen. Forderungen wurden laut nach einem Neuanfang der Dichtung, die mit überkommenen Traditionen ebenso wie mit der von den Nationalsozialisten instrumentalisierten Sprache brechen sollte. Entsprechende Äußerungen insbesondere von Wolfgang Weyrauch, Hans Werner Richter und – nachträglich und auf die Prosa bezogen – Heinrich Böll zählen zu den bekanntesten poetologischen Stellungnahmen der

unmittelbaren Nachkriegsliteratur.80 Praktisch schlugen sie sich in der Hinwendung zu einer lakonischen, berichtenden Sprache nieder, die Elend und Zerstörung klar benennt, Pathos und gehobenen Stil dagegen vermeidet.

Welche Bedeutung haben diese sprachkritische Haltung und die Hinwendung zur Darstellung der Realität hinsichtlich der Gestaltung von Emotionen? In den poetologischen Forderungen nach Neuanfang und Kahlschlag hatten Emotionen eines einzelnen Subjekts scheinbar keinen Platz. Gefühle wurden mit einer klassisch-romantischen Lyriktradition assoziiert, die angesichts der zeitgenössischen Wirklichkeit als nicht mehr adäquat empfunden wurde. Lakonismus und nüchterne Beschreibung der Realität sollten an die Stelle von Innerlichkeit und Subjektivität treten.81 Dennoch kommt dem erlebenden Subjekt auch hier eine große Bedeutung zu. Das legen zum einen die in den Texten dargestellten Situationen und Themen nahe: Zerstörung der Heimat, Elend der Kriegsheimkehrer, Verzweiflung der Hungernden oder Einsamkeit des schutzlosen Menschen. Zum anderen werden die genannten Erfahrungen meist aus der Sicht eines individuellen Subjekts gestaltet. Das begründet sich vermutlich mit der Forderung nach Thematisierung von Wirklichkeit und Alltagsrealität sowie authentischem Ausdruck, zeigt aber auch, wie schwer dem Anspruch auf Sachlichkeit und Berichtscharakter angesichts der dargestellten Wirklichkeit gerecht zu werden war.82 Die völlige Abkehr vom Gefühlsausdruck gelang entsprechend selten. Selbst die wenigen programmatischen Gedichte, die der ‚Kahlschlaglyrik‘ gemeinhin zugeschrieben werden – beispielsweise Günter Eichs „Inventur“ und Walter Höllerers „Der lag besonders mühelos am Rand“ –, lassen bei

80 Vgl. Wolfgang Weyrauch: „Aus dem Nachwort“ [zu Tausend Gramm. Sammlung neuer deutscher Geschichten, A. F.]. In:

Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Die deutsche Literatur 1945–1960. Band 2: „Doppelleben“ 1949–1952. München 1995, S. 26f.; Hans Werner Richter: „Warum schweigt die junge Generation“. In: Hans A. Neunzig (Hrsg.): Der Ruf.

Unabhängige Blätter für die junge Generation. Eine Auswahl. München 1976, S. 60-65 [zuerst veröffentlicht in: Der Ruf 2 (2. Sept. 1946), A. F.]; Heinrich Böll: „Bekenntnis zur Trümmerliteratur (1952)“. In: Ders.: Werke. Kölner Ausgabe.

Band 6: 1952–1953, hrsg. von Árpád Bernáth in Zusammenarbeit mit Annamária Gyurácz. Köln 2007, S. 48-62.

Siehe außerdem Peter Sandmeyer: „Schreiben nach 1945. Ein Interview mit Wolfdietrich Schnurre“. In: Nicolas Born und Jürgen Manthey (Hrsg.): Literaturmagazin 7. Nachkriegsliteratur. Reinbek b. Hamburg 1977, S. 191-202.

81 Vgl. auch Knörrich: Die deutsche Lyrik, S. 52f.

82 Korte zählt folgende emotionale Themen auf: „Leid, Niedergeschlagenheit, Angst, Einsamkeit, Scham, Klage sowie die Frage nach Schuld und Mitschuld“. Korte: Deutschsprachige Lyrik, S. 11. Zum Anspruch auf Authentizität oder ‚Wahrheit‘ vgl. auch ebd., S. 13: „Die persönliche Optik wird zur Voraussetzung für den Wahrheitsanspruch des Textes. Dabei gilt die Momentaufnahme, so karg und lakonisch sie gehalten scheint, einem signifikanten Augenblick, den das Gedicht beschwört: einer Erinnerung, in der sich alles Leid des Krieges vereinigt; einer flüchtigen Reflexion, die das Individuum am Tiefpunkt seiner physischen und psychischen Existenz zeigt.“ Lampart meint dazu: „Gerade die Thematisierung der Wahrnehmungsbedingungen des Subjekts aber verbindet die ‚Trümmerlyrik‘ mit den Poetiken, von denen sie sich absetzen will. Auch in diesem Fall einer dezidierten ‚Negation von Tradition‘ wird also erkennbar, dass eine Erneuerung der deutschen Lyrik in Nachkriegszeiten ohne die Fortschreibung und Transformation bereits bestehender Ästhetiken nicht denkbar war.“ Lampart: Nachkriegsmoderne, S. 447. Weniger auf die bekannten Repräsentanten der Kahlschlaglyrik als auf die Schwemme lyrischer Bewältigungsversuche bezogen, zeigt auch Karl Esselborn die Diskrepanz zwischen Forderungen und tatsächlichem dichterischem Ausdruck auf.

Vgl. Karl Esselborn: „Neubeginn als Programm“. In: Ludwig Fischer (Hrsg.): Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967. München, Wien 1986 (=Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 10), S. 230-243; hier S. 238f. In diesem Zusammenhang vgl. auch Knörrichs Hinweis auf die spätere Ablehnung der Kahlschlagliteratur, die „nur an überstandenes Elend“ erinnere. Knörrich: „Bundesrepublik Deutschland“, S. 555.

genauerer Betrachtung durchaus Raum für emotionale Zuschreibungen durch den Interpreten.83 Die genannten Grenzen derartiger poetologischer Forderungen werden zwar selten explizit formuliert, werden aber auch daran sichtbar, dass die Trümmer- und Kahlschlagliteratur in dieser Form eher ein auf die ersten Nachkriegsjahre begrenztes Phänomen bleibt. Die Anzahl an inhaltlich wie formal konventionellen Texten überwiegt bei Weitem.84

Bei deutlich an lyrischen Traditionen orientierten Dichtern kam Emotionen und ihrer Darstellung eine entscheidende Bedeutung nicht zuletzt in Bezug auf die Wirkung von Lyrik zu.

Diese Dichtung wendet sich, wie bereits angemerkt, insbesondere in den frühen Nachkriegsjahren von der eigenen Zeit oft ab, hebt die sinnstiftende Funktion der Natur oder des Glaubens hervor und rückt die Innerlichkeit des Subjekts in den Mittelpunkt.85 Korte diskutiert eine Äußerung Oda Schaefers, die als paradigmatisch für eine derartige Haltung gelten kann:

„Trost in der Natur“, so wird die Stimmungslage derer umschrieben, die sich nach 1945 in ein Refugium intakter Ordnungen zurücksehnten: „Eigentlich braucht man“, so erinnert sich Schaefer,

„nicht viel mehr zu tun, um weise zu werden, als in ein fließendes Wasser zu schauen. Das Rauschen, das leise Murmeln hat den Ton des Unvergänglichen, und es steht, wie es die Antike lehrt, alles im stetig Fließenden zu lesen.“86

Dem Ausdruck emotionaler Zustände kommt in diesen Gedichten eine vergleichsweise große Bedeutung zu, was in der Rückbesinnung auf an der klassisch-romantischen Tradition orientierte Lyrikkonzepte und Sprechweisen auch in der formalen Textgestaltung erkennbar wird.87 Auch

83 Vgl. hierzu allgemeiner auch Korte: Deutschsprachige Lyrik, S. 17; zu Eichs „Inventur“ ebd., S. 15f. und zu Höllerers

„Der lag besonders mühelos am Rand“ ebd., S. 14f. Zu „Inventur“ vgl. darüber hinaus Lamping: Lyrik und Politik, S. 39f. Gerhard Kaiser spricht im Hinblick auf „Inventur“ sogar von einem ‚Erlebnisgedicht‘, meint gleichzeitig aber auch, dass „Herzensergießungen“ in ihm keinen Platz hätten. Gerhard Kaiser: „Günter Eich: Inventur. Poetologie am Nullpunkt“. In: Olaf Hildebrand (Hrsg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen.

Köln u. a. 2003, S. 268-285; hier S. 269-271 und 275. Jörg Döring und David Oels sehen in den Versen „einiges, was ich/ niemand verrate“ „einen Rest Resistenz gegen das Pathos der Bestandsaufnahme“. Jörg Döring und David Oels: „Was Gedichte sind: ‚Der Versuch einer Übersetzung Gottes ins Neuhochdeutsche‘. Zum Briefwechsel von Günter Eich und Alfred Andersch 1948–1972 (Einleitung)“. In: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 7 (2005), S. 7-46; hier S. 24. Auf welchen Ebenen der Textgestalt emotionale Zuschreibungen über die dargestellte Situation hinaus möglich sind, soll in der vorliegenden Untersuchung gezeigt werden.

84 „Im Gegensatz zu den prägenden Strukturen der Naturlyrik, aber auch zur programmatischen Strahlkraft Benns und Brechts, ist die ‚politisch engagierte[]‘ ‚Trümmerlyrik‘ ein ‚Zwischenspiel‘ in der Entwicklung der Gattung nach 1945.“ Lampart: Nachkriegsmoderne, S. 102. Die Spannung zwischen theoretischen Forderungen, lyrischem Ausdruck und schlussendlicher Abkehr von der Trümmerlyrik kann in nuce am Beispiel von Günter Eich beobachtet werden.

Seine sogenannten Camp-Gedichte, allen voran „Inventur“ und „Latrine“ gelten als Prototypen der Kahlschlaglyrik.

Dennoch ist inzwischen Konsens, dass diese Texte keinesfalls so lakonisch und sachlich sind, wie es das Etikett

‚Kahlschlag‘ nahelegen könnte. Vgl. hierzu ergänzend Lampart: Nachkriegsmoderne, S. 157f. und Korte: Deutschsprachige Lyrik, S. 15f. Darüber hinaus bilden die Camp-Gedichte – zumindest zunächst – eine Ausnahme in Eichs Lyrik nach 1945. Vorherrschend bleibt die Hinwendung zur Natur und zum zwar vereinsamten, aber nicht ausschließlich oder sogar primär von den Folgen des Krieges und der konkreten Realität der Nachkriegszeit betroffenen Menschen. Auf den Ausnahme- oder Episodencharakter der ‚Kahlschlag‘-Texte geht auch Thomas Betz ein: Thomas Betz: „‚mit fremden Zeichen‘ – Zur Poetologie im Werk Günter Eichs“. In: Gustav Frank, Rachel Palfreyman und Stefan Scherer (Hrsg.): Modern times? German Literature and Arts Beyond Political Chronologies/Kontinuitäten der Kultur: 1925–1955.

Bielefeld 2005, S. 93-114; hier S. 111, Anm. 53.

85 Hier lassen sich Korte zufolge deutlich personelle und stilistische Kontinuitäten zu den 1930er Jahren nachweisen.

Vgl. Korte: Deutschsprachige Lyrik, S. 8.

86 Ebd., S. 37. Korte zitiert hier Oda Schaefer: Die leuchtenden Feste über der Trauer. Erinnerungen aus der Nachkriegszeit.

München 1977, S. 27.

87 Zu denken ist hier an ein erhöhtes Pathos oder wirkungsvolle Lautstrukturen. Vgl. auch Korte: Deutschsprachige Lyrik, S. 34.

poetologische Überlegungen Wilhelm Lehmanns, die Korte in diesem Kontext zitiert, machen deutlich, wie stark sich diese in ihrer Zeit so verbreitete Lyrik nicht zuletzt gegen von Entwicklungen der Moderne geprägte Ausdrucksweisen wehrte:

Das Gedicht, so bekennt [Lehmann] emphatisch, sei „als schönste Anwendung der Sprache“

zugleich „das beste Desinfektionsmittel gegen ihre Verunreinigung durch die Abwässer unserer Zivilisation“. In einer Replik auf Brecht konstatiert er, dass „ein Gespräch über Bäume nicht das Wissen um böse Zustände und Taten ausschließt“, sondern helfe, „den verloren gegangenen Menschen wieder zu holen“.88

Vergleichbare Haltungen prägen, wie schon in Kapitel 1.1 dargestellt, auch in den 1950er Jahren noch einen großen Teil der Naturlyrik. Einen pathetischen, an große Gefühle appellierenden weihevollen Ton kann man darüber hinaus beispielsweise in der Dichtung Rudolf Hagelstanges, Werner Bergengruens und Reinhold Schneiders beobachten.89

Anders sah es bei denjenigen Autoren aus, die sich zwar zum einen in eine naturlyrische Tradition stellten, dies aber zum anderen mit einem durchaus kritischen Gegenwarts- und Wirklichkeitsbezug verbanden, der sich von naturmagischen Schreibweisen der 1930er Jahre deutlich unterschied.90 Hierzu können unter anderem Günter Eich und auf ostdeutscher Seite Peter Huchel gerechnet werden.91 In deren Naturlyrik der 1950er Jahre drückt sich das Bewusstsein aus, dass ein unverfänglicher Rückzug in die Natur angesichts der eigenen Zeit nicht mehr möglich und die Beziehung zwischen Natur und Subjekt gestört sei. Im Unterschied zu einer konventionellen, bis in die 1950er Jahre erfolgreichen Naturlyrik rechnet Knörrich Eichs, Krolows und auch Bachmanns naturlyrische Schreibweisen nach 1945 der lyrischen Moderne zu. Diese Tendenz sieht er insbesondere in der Abkehr vom subjektiven Gefühl begründet.92 Korte spricht auch von einem „Rollenwechsel des lyrischen Ichs“, das nun fragend

88 Ebd., S. 37.

89 Zum „traditionsbelasteten Epigonenwerk“ vgl. ebd., S. 34 und zu weiteren Lyrikern ebd., S. 23f. Zu Schneider meint Korte allerdings: „[E]r flüchtet sich nicht a priori in eine Dialektik von Ewigkeit und Augenblick, in eine dürre Kasuistik ideologischer Geschichtslosigkeit. Schneiders Verse offenbaren die Widersprüche zwischen epigonaler Form und subjektivem Wahrheitswillen, dass seine Sonettsammlungen […] sich wie Versuche lesen, ein aktuelles, unverfälschtes Zeitpanorama aus alten Kulissenteilen zu verfertigen.“ Ebd., S. 24.

90 Zum Wirklichkeitsbezug in der naturmagischen Schule Wilhelm Lehmanns und Oskar Loerkes vgl. Lamping: Das lyrische Gedicht, S. 221-227.

91 Vgl. hierzu auch Korte: Deutschsprachige Lyrik, S. 22 und 27f. Auf S. 38 attestiert Korte diesen Vertretern der Naturlyrik eine „Tendenz zur pessimistischen Perspektive“. Zum Vergleich von Eich mit Huchel und Krolow siehe auch Lampart: Nachkriegsmoderne, S. 164, 191 u. a. m.

92 Vgl. Knörrich: „Bundesrepublik Deutschland“, S. 557. Das Verhältnis von Tradition, lyrischer Moderne und nach 1945 selbst in Teilen schon zur Tradition gewordener Moderne stellt sich – nicht nur in Bezug auf die Naturlyrik – im Einzelnen selbstverständlich als sehr viel komplexer dar als es hier angedeutet wird. So rechnet Lamping die naturmagische Dichtung der 1930er Jahre, die vor allem mit den Namen Loerkes und Lehmanns verbunden ist, wie bereits erwähnt der modernen deutschen Lyrik der zweiten Phase zu und sieht sie damit neben der Lyrik Benns und Brechts als „gemäßigtere Reaktion auf die moderne deutsche Lyrik der ersten Phase“, genauer als „moderne[]

nachexpressionistische[] Dichtung“. Vgl. Lamping: Das lyrische Gedicht, S. 221. In ihrem (magischen) Realismus unterscheide sich die Lyrik Loerkes und Lehmanns, in deren Umfeld auch Günter Eich in den 1930er Jahren einzuordnen ist, von einer im engen Sinne „traditionellen Naturlyrik des 19. Jahrhunderts“. Ebd., S. 225. Vgl.

ergänzend Lamparts Ausführungen zur Konzeption der Anthologie Ergriffenes Dasein in Lampart: Nachkriegsmoderne, S. 67-71 sowie ebd., S. 89-96.

und betroffen auftrete und „mit lieb gewonnenen Verkündiger- und Seher-Posen“ gebrochen habe.93

In den 1950er Jahren erfuhr das Primat des Emotionalen und Subjektiven in lyrischen Texten auch von anderer wirkmächtiger Seite offensichtliche Ablehnung. Die Hinwendung zu artistischen Lyrikkonzeptionen nach der Gründung der Bundesrepublik sieht Knörrich – in Anlehnung an Rühmkorf – als Folge der „Konsolidierung der äußeren Lebensverhältnisse“.94 Die Betonung des artifiziellen Charakters der Kunst ist in dieser Zeit vor allem mit der Person Gottfried Benns verbunden. Seine in „Probleme der Lyrik“ vorgetragenen Überlegungen zur

‚neuen‘ Lyrik lassen wenig Raum für ein fühlendes und sich ausdrückendes Subjekt: „Das soll heißen, auf der einen Seite steht das Emotionelle, das Stimmungsmäßige, das Thematisch-Melodiöse, und auf der anderen Seite steht das Kunstprodukt. Das neue Gedicht, die Lyrik, ist ein Kunstprodukt.“95 Benn spricht zwar auch von Gefühlen und gesteht sie traditioneller Dichtung durchaus zu. Was das neuartige, moderne Gedicht erst zu Lyrik mache, sei jedoch seine Form.96 Seine Überlegungen bieten damit ein ambivalentes Bild in Bezug auf das Verhältnis von Lyrik und Emotionen. Die traditionelle Stimmungslyrik im Sinne Staigers stellt Benn eindeutig als unzeitgemäß dar.97 Das Gefühl wird aus seiner eigenen Lyrikkonzeption jedoch nicht vollends, sondern nur als Hauptanliegen des einzelnen Gedichts und des Dichtens überhaupt ausgeschlossen.98 Ebenso wenig lehnt er das erlebende ‚Subjekt‘ ab, wie seine Überlegungen zur Rolle des lyrischen Ichs – bei ihm verstanden als der Dichter – zeigen:

Das lyrische Ich ist ein durchbrochenes Ich, ein Gitter-Ich, fluchterfahren, trauergeweiht. Immer wartet es auf seine Stunde, in der es sich für Augenblicke erwärmt, wartet auf seine südlichen Komplexe mit ihrem ‚Wallungswert‘, nämlich Rauschwert, in dem die Zusammenhangsdurchstoßung, das heißt die Wirklichkeitszertrümmerung vollzogen werden kann, die Freiheit schafft für das Gedicht – durch Worte.99

93 Vgl. Korte: Deutschsprachige Lyrik, S. 28. Dieses neue ‚lyrische Ich‘ sieht er nicht nur bei einigen wenigen Vertretern der Naturlyrik wie Eich und Huchel, sondern auch bei Kaschnitz und Celan realisiert. Hinsichtlich einer Poetik des modernen deutschen Gedichts nennt Hans Dieter Zimmermann ebenfalls Huchel, Kaschnitz, Celan und Eich nebeneinander. Vgl. Hans Dieter Zimmermann: „‚Versuche. Gesuche‘. Marie Luise Kaschnitz und Peter Huchel“.

In: Studi Germanici 39.1 (2001), S. 247-261; hier S. 254.

94 „Die Ablenkungs-, Trost- und Kompensationsfunktion der Künste wurde nun nicht mehr länger benötigt; von ihr entlastet, konnten diese nun wieder stärker auf sich selbst reflektieren.“ Knörrich: „Bundesrepublik Deutschland“, S. 554.

95 Benn: „Probleme der Lyrik“, S. 10.

96 In Abgrenzung vom traditionellen ‚Gedicht‘ bezeichnet Benn das in seinem Sinne moderne Gedicht auch als

‚Lyrik‘. Vgl. ebd. Diese Unterscheidung hält er zwar selbst nicht streng durch, sie muss aber wohl bei Äußerungen wie der, dass Lyrik „exorbitant sein [müsse] oder gar nicht“ (ebd., S. 19), mitgedacht werden. Zum Wert traditionell geprägter Dichtung vgl. z. B. die Äußerungen zu George, Rilke und Hofmannsthal, bei denen er die artistische Form vom subjektiven „Innenleben“ unterscheidet, das „noch in jener edlen nationalen und religiösen Sphäre [verweilt], in der Sphäre der gültigen Bindungen und der Ganzheitsvorstellungen, die die heutige Lyrik kaum noch kennt“. Ebd., S. 12f. Auch Eichendorffs Lyrik bewertet er durchaus positiv, allerdings mit dem expliziten Hinweis auf ihre historische Prägung. Vgl. ebd., S. 17f.

97 Vgl. ebd., S. 16f. und 42.

98 In seiner Beschreibung, wie ein Gedicht (im allgemeinen Sinne) entstehe, spielen Gefühle zum Beispiel durchaus eine Rolle. Vgl. ebd., S. 20f. Vgl. hierzu auch Korte: Deutschsprachige Lyrik, S. 64 und Knörrich: „Bundesrepublik Deutschland“, S. 555.

99 Benn: „Probleme der Lyrik“, S. 25. Zum Wesen des lyrischen Ichs vgl. auch ebd., S. 30f. Vorher heißt es: „Ich würde sagen, daß hinter jedem Gedicht ja immer wieder unübersehbar der Autor steht, sein Wesen, sein Sein, seine innere

Anders als die Kahlschlaglyriker, bei denen Emotionen nur durch die mit bestimmten Emotionen verknüpften geforderten Themen Raum gegeben wird, lehnt Benn Gefühle in „Probleme der Lyrik“ also nicht per se ab. Worauf es ihm ankommt, ist jedoch die Form, in der sie im Gedicht Ausdruck finden und der von ihm Vorrang vor dem Inhalt gegeben wird:

Form, isoliert, ist ein schwieriger Begriff. Aber die Form ist ja das Gedicht. Die Inhalte eines Gedichtes, sagen wir Trauer, panisches Gefühl, finale Strömungen, die hat ja jeder, das ist der menschliche Bestand, sein Besitz in mehr oder weniger vielfältigem und sublimem Ausmaß, aber Lyrik wird daraus nur, wenn es in eine Form gerät, die diesen Inhalt autochthon macht, ihn trägt, aus ihm mit Worten Faszination macht.100

Die neue Lyrik sei also ganz darauf konzentriert, die Form beziehungsweise das einzelne Wort für sich wirken zu lassen.101 In der Betonung dieses Wirkungsaspekts klingt auch an, dass Emotionen auf Rezipientenseite nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Explizit spricht Benn von der ‚faszinierenden‘ Wirkung, die ein modernes Gedicht entfalten könne.102 Die Konzentration auf die Form und auf die Gemachtheit des Gedichts geht allerdings mit einer Abkehr von einer gesellschaftlichen, gar politisch relevanten Funktion von Dichtung einher, was sich insbesondere im „monologische[n] Charakter“ ausdrückt, den Benn der Lyrik zuschreibt.103 Die Zeit, in welcher der Dichter lebt, kann zwar als Ausgangspunkt des Gedichts von Bedeutung sein; im Mittelpunkt des Benn’schen Dichtungsverständnisses steht jedoch dessen allen Zeitbezügen enthobene sprachlich-formale Dimension.104

In den poetologischen Positionen Paul Celans und Günter Eichs dagegen kommt in den 1950er Jahren der kritischen Auseinandersetzung mit der Sprache und den Möglichkeiten, angesichts der Realität noch (selbst) zu dichten, eine größere Bedeutung zu, hinter der die im

Lage, auch die Gegenstände treten ja nur im Gedicht hervor, weil sie vorher seine Gegenstände waren […]. Im Grunde also meine ich, es gibt keinen anderen Gegenstand für die Lyrik als den Lyriker selbst.“ Ebd., S. 23. Auch die Statische[n]

Gedichte zeigen, dass für ein ‚artistisches Subjekt‘, das sich durch eine melancholische Vereinzelung auszeichnet, im Gedicht weiterhin Raum ist. Vgl. hierzu Korte: Deutschsprachige Lyrik, S. 64 und Gnüg: Entstehung und Krise, S. 223-225.

100 Benn: „Probleme der Lyrik“, S. 21. Ähnlich äußert sich Mitte der 1950er Jahre übrigens auch Johannes Poethen.

Vgl. Johannes Poethen: „Im Labor der Träume“. In: Hans Bender (Hrsg.): Mein Gedicht ist mein Messer. München 1955, S. 131-137; hier S. 134. Der Aufsatz erschien zuerst 1954 in Akzente 3 (1954).

101 Zur Rolle des ‚Wortes‘ in „Probleme der Lyrik“ siehe insbesondere Benn: „Probleme der Lyrik“, S. 11f., 20f., 24f.

und 36. Vgl. hierzu auch Knörrich: „Bundesrepublik Deutschland“, S. 556.

102 Vgl. hierzu Benn: „Probleme der Lyrik“, S. 21f. und insbesondere S. 36.

103 Vgl. ebd., S. 16. Zum ‚monologischen Charakter‘ der Kunst bei Benn vgl. auch Knörrich: „Bundesrepublik

103 Vgl. ebd., S. 16. Zum ‚monologischen Charakter‘ der Kunst bei Benn vgl. auch Knörrich: „Bundesrepublik