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5 Veränderungsprozesse in Fachkliniken

Fachkliniken und ihre Konzepte sind ständigen Veränderungen unterworfen. Die Notwendigkeit dieser Veränderungen ergibt sich aus der gesellschaftliche Verankerung der Suchtrehabilitation (vgl. Reker 2010). Die Abhängigkeitserkrankungen unterliegen Veränderungen, die durch veränderte Gesetzgebung, die Zulassung von Substituten, die

„Einführung“ neuer Drogen (z. B. künstlicher Cannabinoide) und neuer Konsumentengruppen bedingt sind. Der Konsum von Drogen ist dabei immer durch die entsprechende und sich stets verändernde (Jugend-)Kultur beeinflusst (vgl. Tossmann 2004).

Die Rahmenbedingungen der Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe verändern sich ständig, z.

B. durch Umgestaltungen in der Gesetzgebung und gesellschaftliche Wandlungsprozesse. Das

„Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG)“ aus dem Jahr 1996 begrenzte beispielsweise die Therapiezeiten und legte ein Gesamtbudget für die Rehabilitation fest.

Aber auch Veränderungen in Wissenschaft und Forschung, z. B. durch neu geschaffene Forschungsverbünde, Gewährung von Fördermitteln oder Veränderungen in den Vorgaben der Leistungsträger, wie durch das Qualitätssicherungsprogramm der Rentenversicherungsträger, zwingen die Rehabilitationseinrichtungen zu Änderungsprozessen.

In diesem Kapitel werden die Veränderungsprozesse beschrieben, die aus der Interaktion von gesellschaftlichen, rechtlichen und wissenschaftlichen Umwelteinflüssen mit den Gegebenheiten der therapeutischen Gemeinschaften bzw. Fachkliniken entstanden sind. Für die untersuchte Fachklinik wird dies konkretisiert und um die Veränderungen erweitert, die parallel zur Einführung von Substitutionstherapie in die Entwöhnungsbehandlung in der untersuchten Fachklinik zu beobachten waren. Die weiteren Untersuchungen sollen klären, inwieweit die Einführung der Substitutionstherapie hier ursächlich für Veränderungen der Fachklinik gewesen ist.

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zugeordnet werden, die den Fachkliniken oder therapeutischen Gemeinschaften in der jeweiligen Phase zugrunde lagen.

• In Phase Eins nach Indlekofer, die bis ca. 1990 datiert ist, waren alle Drogenabhängigen gleich und benötigten deshalb auch dasselbe Therapieprogramm. Es bestand das Dogma, dass nur, wer „ganz unten“ war, es auch schafft aus der Drogenabhängigkeit auszusteigen. Dabei wurde jedoch allen „Junkies“ unterstellt, dass sie nicht wirklich aufhören wollen. Für die Einrichtungen selbst galt hingegen, dass jede Einrichtung in ihrer Selbstwahrnehmung beste Therapieeinrichtung war mit der einzig richtigen Therapieform. Politik und Gesellschaft sollten froh sein, dass ihnen die Problemgruppe „Drogenabhängige“ abgenommen wurde und dankbar dafür sein, dies auch bezahlen zu dürfen.

• In Phase Zwei, die Mitte der 1990er Jahre endete, wurden einige Dogmen aufgeweicht. Dies hing mit der Problematik der zunehmenden HIV-Infektionen bei drogenabhängigen Menschen zusammen. Der Königsweg der Abstinenztherapie wurde durch den Anstieg der Zahl von Drogentoten und der sichtbaren Verelendung der Drogenabhängigen in Frage gestellt. Erst jetzt wurden alternative Behandlungsangebote entwickelt, die von Substitution und ambulanten Therapien über Kurzzeitbehandlungen, Adaptionsbehandlungen bis hin zu niedrigschwelligen Angeboten reichten. Individualisierung und differenzierte Indikationsstellung wurden akzeptiert.

• Die Phase Drei nach Indlekofer war durch ein stärkeres Engagement der Leistungsträger gekennzeichnet. Wissenschaftliche Konzepte wurden zunehmend diskutiert und das Fünf-Punkte-Qualitätssicherungsprogramm eingeführt, das die Entwicklung der Einrichtungen nachhaltig beeinflusste. Das Peer-Review-Verfahren verbesserte die Qualität der Behandlungs- und Verlaufsberichte, veränderte die Arbeitsansätze in den Einrichtungen und erleichterte die Vergleichbarkeit von Einrichtungen. Die Einführung der „Klassifikation therapeutischer Leistungen (KTL)“ beeinflusste die Behandlungsprogramme. Leistungen, die nicht im Rahmen der KTL codierbar sind oder von Berufsgruppen erbracht werden, die nicht im Personalplan46 vorgesehen sind, verloren zunehmend an Bedeutung in der Behandlungsplanung. Die Strukturqualität wurde normiert hinsichtlich Personalausstattung, räumlicher Vorgaben und Hierarchisierung.

46 Vor Einführung der KTL waren „Ex-User“, also ehemalige, jetzt abstinent lebende Drogenabhängige, wichtige Mitarbeiter der therapeutischen Gemeinschaften. Ihre therapeutischen Qualität als Vorbild fand jedoch keine Anerkennung in der KTL, so dass heute kaum noch „Ex-user“ ohne einschlägige Qualifikation in der Rehabilitation beschäftigt sind.

• Die Phase vier gegen Ende der 1990er Jahre war durch wachsende Arbeitsteilung zwischen den Mitarbeitergruppen gekennzeichnet. Zunehmend wurde auf elektronische Kommunikation gesetzt.

• Die Phase fünf beschreibt nach Indlekofer die Gegenwart, in der die negativen Auswirkungen dieser Veränderungen diskutiert werden. Wie ist unter diesen Rahmenbedingungen eine beziehungs- und bindungsorientierte Entwicklungsarbeit möglich?

Lässt sich der Behandlungsbedarf in bestehenden KTL-Kategorien und vorgegebenen Personalstrukturen realisieren und ist der “Hotel-Standard“ der Einrichtung für alle Patienten erstrebenswert und fachlich sinnvoll? Sind gleiche Strukturvorgaben für Fachkliniken, die mit regional unterschiedlichen Voraussetzungen arbeiten immer angemessen und dürfen Patienten auch in Zukunft noch so „gefährliche“ Arbeiten wie Tischlern und Schlossern durchführen?

In einem praktischen Beispiel werden die Auswirkungen des Qualitätssicherungsprogramms der DRV auf eine Fachklinik dargestellt und dieser Prozess als das „Zerlegen einer therapeutischen Gemeinschaft“ (Stracke 2010, Folie 1) bezeichnet. Die im Beispiel von Stracke beschriebene Suchtfachklinik existiert seit 1979. Sie war anfangs gemäß den Merkmalen einer therapeutischen Gemeinschaft organisiert. Eigeninitiative und Verantwortungsübernahme wurden durch Übernahme sozialer Rollen eingeübt. Die Strukturierung der Therapie erfolgte durch das soziale Setting. Realraum und Therapie wurden auch im Rahmen der Arbeitstherapie miteinander verbunden. In der Dichte des Behandlungsmilieus sollten therapeutische Kontingenzerfahrungen durch zeitnahe Rückmeldungen ohne Zersplitterung von Zuständigkeiten möglich sein. Im familiären und überschaubaren Milieu sollten dabei Nachreifungsprozesse initiiert werden und Selbstreflexion, Selbstwerterleben und Veränderungsbereitschaft durch die Spiegelung und Wertschätzung in der Gemeinschaft gefördert werden. Dadurch werden die Grundbedürfnisse wie Orientierung und Kontrolle, Bindung, Selbstwertsteigerung und auch Lustgewinn befriedigt (vgl. Grawe 2004).

Durch die Vorgaben der DRV wird zunehmend eine sozialmedizinische Haltungen mit einer starken Orientierungen am Erwerbsleben gefordert. Das erfordert auf Seiten der Fachkliniken Prozessmerkmale wie eine indikative Zuweisung zur Arbeitstherapie, Individualisierung der Therapieverläufe, ein Bezug zu der ICF, bestimmte Strukturqualität in personeller, inhaltlicher und baulicher Hinsicht, Kommunikation per EDV, Anwendung der KTL,

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einem multiprofessionellen Ansatz ein, der seinerseits neue Leitungsstrukturen, Hierarchien und stärkere Arbeitsteilung in der Einrichtung nach sich zieht. Die Individualisierung und die Modularisierung führten zu einer Abnahme der Gruppenkohäsion. Durch die ICF und eine sozialmedizinische Ausrichtung der Behandlung werden Therapieziele in Konkurrenz47 zueinander gesetzt, die Therapeutensprache verändert sich und Arbeitsabläufe sind umzugestalten. Die geforderten Strukturmerkmale und der Wegfall von Arbeitsbereichen, die der Selbstversorgung dienen48, führen zu finanziellen Belastungen, die nur durch ein

„Zwangswachstum“ der Fachkliniken zu beherrschen sind.

In der im Beispiel von Stracke beschriebenen Einrichtung gab es zunehmende Identitätskrisen: Geht es um Abstinenz? Geht es um Erwerbsfähigkeit? Ist die Arbeitstherapie mehr wert als die Psychotherapie? Sind indikative Gruppen wichtiger als Bezugsgruppen?

Wie ist das Verhältnis von Psychopharmaka, Sozialmedizin und Psychotherapie? Ist Kreativtherapie Nebensache? Wesentliche Grundbedürfnisse49 (vgl. Grawe 2004) waren in der neu gestalteten Fachklinik schwerer zu verwirklichen.

• Die Orientierung für Mitarbeiter und Patienten erfolgte nicht mehr ausschließlich am Weg und Ziel der Abstinenz, sondern wurde eingeschränkt durch andere Inhalte, neue Begriffe, veränderte Abläufe und neue Schwerpunkte in der Behandlung. Die Kontrollerfahrung ist geringer, wenn die Arbeitsteilung zunimmt und die Arbeit stärker durch Anweisungen von Vorgesetzten bestimmt wird.

• Die Bindung der Mitarbeiter und Patienten untereinander ist verringert durch die Zeit, die für die Organisation der differenzierteren Abläufe benötigt wird. Dies geht zu Lasten der kollegialen und therapeutischen Beziehungen. Die Modularisierung begünstigt den Vereinzelungsprozess und die Kommunikation mittels EDV verdrängen direkte Einzelkontakte. In einer therapeutischen Gemeinschaft, in der die Patienten wesentliche Abläufe mitbestimmten und in der Kontakteinschränkungen und Selbstversorgung den

47 Denkbar erscheint, dass die angestrebte Abstinenz auch von Substituten manchmal das Erreichen anderer Rehabilitationsziele im Sinne von beruflicher und sozialer Integration verhindern könnte.

48 In therapeutischen Gemeinschaften war die Arbeitstherapie nicht indikationsgeleitet auf die individuell diagnostizierten beruflichen Leistungsdefizite des Patienten zugeschnitten. Die Arbeitstherapie diente vielmehr als Medium zur Initialisierung interaktioneller Prozesse und sollte die Patienten zur besseren Konfliktbewältigung und zum Gemeinschaftserleben befähigen. Die Arbeitstherapie sorgte für die Aufrechterhaltung der alltäglichen Versorgung der therapeutischen Gemeinschaft (Küche, Wäsche, Einkäufe, Hauspflege) und sollte die Verantwortungsübernahme der Patienten in einer Gemeinschaft befördern.

Gleichzeitig konnten die Kosten der Einrichtung durch die damit erfolgte Einsparung von Dienstleistern niedrig gehalten werden.

49 Grundbedürfnisse, nach deren Verwirklichung jeder Mensch strebt sind nach Grawe Kontrolle, Bindung, Selbstwert und Lust.

Austausch mit der Umwelt verringerten wurde die Bindung unter Patienten und Mitarbeiter gestärkt.

• Der Selbstwert und das Selbstverständnis der in der therapeutischen Gemeinschaft sozialisierten Mitarbeiter ist bedroht, wenn die therapeutische Gemeinschaft, mit der der Mitarbeiter sich bis dahin identifiziert, durch die Umwelt geringgeschätzt wird.

Strukturvorgaben und Kontrollinstrumente der Leistungsträger werden als versteckte oder offene Kritik an der bisher geleisteten Arbeit wahrgenommen.

• Spaß an der Arbeit wird möglicherweise weniger erlebt, wenn der Eindruck entsteht, mehr auf Grund wirtschaftlicher Ziele der Träger und Vorgaben der Leistungsträger als auf Grund der Ergebnisse der Kommunikation „auf Augenhöhe“ mit Patienten und Mitarbeitern zu handeln.

Folgt man Stracke, ist der Prozess der Umgestaltung der alten therapeutischen Gemeinschaften im Bereich der Rehabilitation von Drogenabhängigen hin zu Fachkliniken, die den Organisationsprozessen moderner Kliniken und damit auch den Vorstellungen der Leistungsträger entsprechen, noch längst nicht abgeschlossen. Widerstände resultieren aus den Traditionen der Einrichtungen und dem Selbstverständnis der Mitarbeiter. Darüber hinaus ist aber auch denkbar, dass die Organisationsform „Klinikbetrieb“ und der damit verbundene Versuch der Behandlungsoptimierung durch Linearisierung von Behandlungsabläufen nicht den menschlichen Veränderungsprozessen entspricht, die eher dynamisch verlaufen und durch Rückkopplungsprozesse gekennzeichnet sind (vgl. Stracke 2010). Durch die in der Phase fünf langsam erfolgende Integration von Substitutionstherapie in die Entwöhnungsbehandlung, die ein weiter differenziertes Behandlungsangebot – mindestens im somato-medizinischen Bereich der Fachklinik – erfordert, wird der Prozess der Entwicklung in Richtung einer neuen Organisationsform möglicherweise beschleunigt.