5 Diskussion
5.1 Kandidatengen Rezeptor 1 des Melanin-konzentrierenden Hormons
5.1.6 Phänotyp-orientierte post hoc Tests
Es wurden weitere post hoc Tests mit dem Ziel durchgeführt, Hypothesen bezüglich weiterer phänotypischer Auswirkungen der zwei detektierten Haplotypen zu erstellen. Diese Tests erfolgten für Phänotypen, die überwiegend bei den männlichen Mchr1-/- Mäusen beschrieben worden waren. Sie zeigten eine signifikante Verminderung des Körpergewichts und Körper-fettgehalts, eine Resistenz gegenüber einer Diät-induzierten Adipositas und eine erhöhte physische Aktivität (Chen et al. 2002). Bei dem Vergleich von Jungen und Mädchen (Studien-gruppen 1 und 5) wurden bei den Jungen geringfügig stärkere Assoziationen und Transmis-sions-Ungleichgewichte (p = 0,17) einzelner SNPs und des mit Adipositas assoziierten Haplotyps (p = 0,051) auf einer deskriptiven Basis detektiert. Basierend auf den Genotypen des SNP rs133072 wurden auch geschlechtsspezifische Analysen für die körperliche Aktivität (s. Tab. 4-9), das prozentuale Körperfett und für die Aufnahme von Fett mit der Nahrung in Untergruppen der Studiengruppe 1 durchgeführt. Die Analysen der genotypabhängigen Bewe-gungsaktivitäten von 399 adipösen Kindern und Jugendlichen, deuten darauf hin, dass bei den adipösen Jungen der nicht mit Adipositas assoziierte GG-Genotyp, der ein reduziertes MCH-Signal impliziert, mit erhöhter körperlicher Aktivität assoziiert sein könnte. Ebenso könnten bei den Mädchen sowohl der Körperfettanteil als auch die prozentuale Energieaufnahme aus Fett von dem Genotyp des SNP rs133072 abhängen. Diese Ergebnisse sind bis zu ihrer Bestä-tigung als vorläufig anzusehen, denn es erfolgte keine Korrektur der einseitigen p-Werte für multiples Testen. Zudem ist die retrospektive Einstufung der körperlichen Aktivität der Kinder in verschiedenen Altersstufen nicht unabhängig. So hat z. B. ein Kind, das im Vergleich zu Gleichaltrigen im Alter von 6 bis 10 Jahren aktiver war, eine höhere Chance, auch im Alter von 11 bis 14 aktiver zu sein.
D i s k u s s i o n 5 . 2 A n A d i p o s i t a s b e t e i l i g t e r M C H R 1 S N P u n d H a p l o t y p 137 5.1.7 Assoziations- und Transmission-Disequilibrium-Tests in unabhängigen
deutschen und ausländischen Studiengruppen
Neben der Feststellung einer zugrunde liegenden funktionellen Auswirkung ist es unbedingt notwendig, eine positive Assoziation in unabhängigen Studiengruppen zu bestätigen (Übersicht Campbell und Rudan 2002; Übersicht Hirschhorn und Altshuler 2002). Aufgrund der großen Studiengruppe von 620 adipösen Kindern und Jugendlichen (Studiengruppe 1) und der Verfügbarkeit von sowohl untergewichtigen als auch von normalgewichtigen Kontroll-Personen war es möglich, die initial identifizierte Assoziation der SNPs rs133072 und rs133073 mit Adipositas unabhängig zu bestätigen. Um die Assoziation erneut bestätigen zu können, wurde hauptsächlich der SNP rs133072 in zusätzlichen Studiengruppen genotypisiert, die sowohl Kinder als auch Erwachsene aus Deutschland, aber auch aus anderen Ländern, umfassen. Die Allel- und Genotypfrequenzen bei Kindern und Jugendlichen, die sich in der Berliner Charité vorgestellt hatten (Studiengruppe 5), waren vergleichbar mit denen, die bei den ursprünglichen Fällen und Kontroll-Personen detektiert worden waren. Auch die geschlechtsspezifischen Assoziationstests ergaben eine höhere Frequenz des A-Allels bei den Jungen (40,8 %) im Vergleich zu den Mädchen (30,1 %), d. h. sie bestätigten einen stärker ausgesprägten Effekt bei den männlichen adipösen Kindern im Vergleich zu den Mädchen.
Jedoch konnten in der „Berliner“ Studiengruppe keine signifikanten Unterschiede zwischen Fällen (n = 196) und Kontroll-Personen (n = 99) ermittelt werden (alle unkorrigierten einseitigen p-Werte lagen zwischen 0,076 und 0,239), vermutlich aufgrund der geringen Anzahl der verfügbaren Probanden (s. Tab. 4-10). Um die beobachteten Allel-Unterschiede des SNP rs133072 (Frequenz des A-Allels bei Adipösen 39,1 % und bei Nicht-Adipösen 32,4 %) mit 80 % Power zu detektieren, sind Fall-Kontroll-Studien mit je 370 Individuen pro Gruppe erforderlich.
Ebenso erfolgte die Genotypisierung eines großen deutschen Studienkollektivs (n = 4.056;
KORAS2000; Filipiak et al. 2001), das die Stadt und Region Augsburg repräsentiert. In dem Assoziationstest wurden die Allel- und Genotypfrequenzen der SNPs rs133072 und rs133073 zwischen 393 Individuen mit einem BMI > 90. Perzentile und 2.052 Personen mit einem BMI ≤ 50. Perzentile verglichen. Der Test war negativ, aber er zeigte eine Tendenz für ein häufigeres Auftreten des A-Allels (rs133072) in der adipösen Studiengruppe (s. Tab. 4-11). In eine post hoc Analyse flossen nur diejenigen adipösen Individuen mit einem BMI >90.
Perzentile ein, die jünger als 40 Jahre waren, weil die initialen positiven Befunde aus den Assoziationsanalysen und TDTs bei Kindern und Jugendlichen detektiert wurden. Hierbei konnte ein häufigeres Auftreten der mit Adipositas assoziierten Allele A des SNP rs133072
D i s k u s s i o n 5 . 2 A n A d i p o s i t a s b e t e i l i g t e r M C H R 1 S N P u n d H a p l o t y p 138 (einseitige p-Werte ≤ 0,12) und C des SNP rs133073 (einseitige p-Werte ≤ 0,063) bestätigt werden. Die nicht erreichten Signifikanzniveaus könnten auch hier Ausdruck der zu geringen Zahl der adipösen Personen sein. Dies weist darauf hin, dass der mit Adipositas assoziierte Haplotyp des MCHR1 in den ersten Lebensjahrzehnten für die Regulation des Körper-gewichts relevant sein könnte. Tatsächlich wird basierend auf einer großen longitudinal unter-suchten Zwillingsstichprobe angenommen, dass die genetischen Faktoren, die im Alter von 20 Jahren relevant sind, nur zu 30 % mit denen überlappen, die im Alter von 40 Jahren von Bedeutung sind. Zwischen 40 und 60 Jahren sind weitgehend die gleichen Gene relevant (Fabsitz et al. 1992). Im Gegensatz zu den geschlechtsspezifischen Assoziationsbefunden in dem Marburger Studienkollektiv deuten die Daten der KORA-Studiengruppe darauf hin, dass der Effekt der prädisponierenden Allele bei den erwachsenen Frauen unter 40 Jahren stärker war.
Zusätzlich wurde der SNP rs133072 in Studiengruppen genotypisiert, die Erwachsene aus Frankreich, Dänemark und Nordamerika umfassten, um die initialen positiven Assoziations- und TDT-Ergebnisse bezüglich des A-Allels des SNP rs133072 bestätigen zu können. In der französischen Studiengruppe (Studiengruppe 8) war das A-Allel bei den adipösen Individuen nur geringfügig häufiger und die Assoziation war nicht signifikant (einseitiger p-Wert = 0,37).
Im Gegensatz dazu war das A-Allel bei den adipösen Probanden der dänischen Studiengruppe (Studiengruppe 7) seltener (einseitiger p-Wert = 1). Diese Studiengruppe umfasste Wehr-dienstpflichtige, die in dem Zeitraum von 1953 bis 1977 rekrutiert worden sind (Sonne-Holm et al. 1989; Echwald et al. 2001). Der BMI-Grenzwert für Adipositas (BMI ≥ 31) und Normal-gewicht (BMI < 31) wurde bei der Musterung definiert. Im Alter von 14 Jahren betrug der mittlere BMI der dänischen adipösen Studiengruppe 26,05 kg/m² (Sørensen und Sonne-Holm 1988), was indiziert, dass das Ausmaß der Adipositas in diesem Alter nicht wirklich vergleichbar ist mit dem der Indexpatienten der Studiengruppe 1, die die initialen Hinweise für Assoziation und Transmissions-Ungleichgewicht lieferten; deren mittlerer BMI in dem mittleren Alter von 14 Jahren war 33,4 ± 6,6 kg/m2. Sowohl das Geschmacks-Spektrum als auch die Energiedichte der Nahrung haben sich seit 1977 grundlegend geändert. Zusätzlich bewegen sich die Kinder der heutigen Generation mit großer Wahrscheinlichkeit weniger. Es ist somit denkbar, dass sich die orexigene Wirkung des MCH über die Bindung an diejenige Rezeptorvariante, die den mit Adipositas assoziierten Haplotyp beinhaltet, verstärkt in einer veränderten Geschmackspräferenz hin zu fettreicheren Nahrungsmitteln und/oder in einer geringeren körperlichen Aktivität ausdrücken. Demzufolge könnte der Effekt des MCHR1 Haplotyps oder eines der Allele erst in den vergangenen Jahren für die epidemiologische Ausbreitung der Adipositas relevant geworden sein. Der Transmission-Disequilibrium-Test
D i s k u s s i o n 5 . 2 A n A d i p o s i t a s b e t e i l i g t e r M C H R 1 S N P u n d H a p l o t y p 139 bei den amerikanischen Trios (n = 187 Trios) war negativ (p = 1). Ursächlich hierfür könnte u. a., wie in der Berliner Studiengruppe, ebenso die zu geringe Anzahl der in den TDT eingeflossenen Proben sein. Um die beobachtete Transmissionsrate von 58,5 % (95 % CI:
54,0 % - 62,8 %) mit 80 % Power zu finden, sind bei gegebener Allelfrequenz 206 heterozygote Eltern (etwa 250 Trios) notwendig.
Zusammenfassend kann man sagen, dass der Versuch, die Assoziation in anderen gruppen erneut zu bestätigen, nicht erfolgreich war. Jedoch wurde in der Berliner Studien-gruppe ein starker Trend in derselben Richtung wie in der Marburger StudienStudien-gruppe festgestellt. Zusätzlich deuten die post hoc Tests in der KORAS2000 Studiengruppe darauf hin, dass die Assoziation hauptsächlich oder ausschließlich auf die Individuen zurückzuführen ist, die jünger als 40 Jahre sind. Während die französischen Daten einen Trend in die erwartete Richtung zeigten, konnte dieser Trend sowohl durch die dänischen als auch die amerika-nischen Studiengruppen nicht bestätigt werden.
Die Möglichkeit, dass die originalen und bestätigten Assoziationsbefunde falsch positiv waren, kann nicht ausgeschlossen werden. Bei einer sehr großen Anzahl von bisher untersuchten Kandidatengenen in der Klinischen Forschergruppe Marburg kann prinzipiell auch von einem Zufallsbefund ausgegangen werden. Ein Signifikanzniveau von 0,05 schließt eine Irrtums-wahrscheinlichkeit von 5 % ein und damit die Möglichkeit einer falsch positiven Assoziation bei jedem 20. Test.
Als Konsequenz sollten zusätzliche Studien folgen, um die Effekte der beiden SNPs in der CDS und der MCHR1 Haplotypen beurteilen zu können. Bei der Auswahl der Studien-kollektive für zukünftige Studien sollte entsprechend der Powerkalkulation (Kooperations-partner: PhD stud. F. Geller/Prof. H. Schäfer; Institut für Medizinische Biometrie und Epide-miologie, Philipps-Universität Marburg, Marburg) auf einen ausreichend großen Stichproben-Umfang geachtet werden: 370 Personen für eine Fall-Kontroll-Studie sowie 250 Trios für den TDT. Die angegebenen Zahlen sollten als untere Grenzen für den Umfang der Stichproben verstanden werden, da es bekannt ist, dass initiale Studien dazu tendieren, den wahren Effekt über zu bewerten. Im Hinblick auf die vorgestellten Ergebnisse sollte bei zukünftigen Studien zum MCHR1 besonderes Augenmerk auf den Einfluss des Alters und des Geschlechts gelegt werden. Aufgrund dessen, dass sowohl das A-Allel des SNP rs133072 als auch das C-Allel des SNP rs133073 nicht nur am häufigsten bei den adipösen Probanden (> 90. BMI-Perzentile), sondern auch bei den unter- und normalgewichtigen Individuen (< 40. BMI-Perzentile) bzw.
am seltensten bei den normalgewichtigen Individuen zwischen der 50. und 60. BMI-Perzentile in der KORAS2000 Studiengruppe zu verzeichnen waren (s. Tab. 4-12), sollte in zukünftigen
D i s k u s s i o n 5 . 2 A n A d i p o s i t a s b e t e i l i g t e r M C H R 1 S N P u n d H a p l o t y p 140 Studien die BMI-Verteilung der Kontroll-Gruppe nicht unbeachtet bleiben. Weiterhin fordern sowohl die Mchr1 Knockout Daten als auch die in der vorliegenden Arbeit beschriebenen Ergebnisse eine zusätzliche Phänotypisierung der Körperzusammensetzung, der körperlichen Aktivität und des Fettanteils an der Gesamt-Energieaufnahme ein.
5.2 Beteiligung des SNP rs133072 und des