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Organisationssoziologisch betrachtet ist die personale Struktur innerhalb staatlicher Schulen auf den ersten Blick recht übersichtlich: „Oben“ ist die Schulleitung veror-tet, „unten“ sind (fast) alle Lehrer auf einer horizontalen Ebene angeordnet. Aus-nahmen stellen allein Fachbereichsleiter, Mitglieder der Schulkonferenz etc. dar, die gegebenenfalls eine Vermittlungsfunktion zwischen Kollegium und Schulleitung einnehmen, aber keinerlei Weisungsbefugnis gegenüber ihren Kollegen haben. Doch ist dieser „Mittelbau“ nicht immer klar definiert und nach oben wie unten klar abge-grenzt, nämlich dann, wenn fließende Grenzen zwischen den hierarchischen Ebenen in dem Konstrukt einer so genannten „kollegialen Schulleitung“ zum Ausdruck kommen. Die Autorität des „schmalen Mittelbaus“ nährt sich aus fachlicher Kompe-tenz oder Verantwortlichkeit, hierarchisch-funktionale Verfügungsrechte hat er nicht gegenüber dem „Normallehrer“. Aus dieser formalen Struktur ergibt sich die

Vorstel-30 lung einer Parität unter Kollegen, die von manchen als konstitutives Merkmal kolle-gialer Beziehungen beansprucht wird. Untermauert wird diese Betrachtungsweise dadurch, dass fast das gesamte Kollegium den Beamtenstatus hat, Differenzen im Einkommen sind daher gering.

In Anlehnung an Lortie (1972) findet die Parität zwischen Lehrern ihre theoretische Rahmung im oben bereits erwähnten Autonomie-Paritäts-Muster, mit dem vor allem formale Aspekte des Lehrerstatus’ beleuchtet werden können. Auf der informellen Seite sind hingegen ganz andere Realien zu verzeichnen. So ist die Rede vom My-thos der Gleichheit: Natürlich gebe es zwischen Lehrern Unterschiede in Bezug auf ihre Kompetenzen, ihre spezifische Rolle innerhalb des Kollegiums, ihre Ressourcen und auch im Hinblick auf ihr Prestige. Gruppenbildung sei Normalität und über die Differenzen in der Professionalität einzelner Lehrer wisse auch jeder Bescheid (vgl.

Krainz-Dürr 1999: 228 f, Steiner-Löffler 1997:31). Pragmatisch gesehen sind die Beziehungen unter Lehrern also durchaus durch erhebliche Disparitäten gekenn-zeichnet. Gleichzeitig ist aber die Paritätsnorm wirkmächtig, etwa dann, wenn die Differenzen öffentlich werden oder gar eine formale Rahmung erhalten (sollen). Vor allem im Zuge von Schulentwicklungsprozessen, wenn einzelne Kollegen einen ei-genen Status als Team oder Arbeitsgruppe erhalten, wird das Paritätsmuster auch formal in Frage gestellt. Schulentwicklung bricht also formale Gleichheit potentiell auf und fördert Ungleichheit, und zwar produktiv im Sinne von Arbeitsgruppen, in denen Spezialisten ihre etablierte Arbeitsform nutzen, um zu entsprechenden Ergeb-nissen zu kommen. Der Rest des Kollegiums verhält sich dann aber zuweilen skep-tisch oder ablehnend gegenüber den exponierten Akteuren (vgl. Krainz-Dürr 1999:

229). Offenbar liegt es unter spezifischen Umständen im Interesse dieser Kollegen, die Manifestation von Disparitäten in formelle Strukturen zu verhindern. Altrich-ter/Eder haben in diesem Zusammenhang herausgefunden, man könne zwar nicht unbedingt davon ausgehen, dass das Autonomie-Paritäts-Muster eine Innovationsbar-riere sei. Dies könne vor allem dann geschehen, wenn in einem Kollegium die Präg-nanz des Autonomie-Paritäts-Musters überdurchschnittlich stark erkennbar sei (Alt-richter/Eder 2004: 219). Schröck (2009) hat diesen Sachverhalt mit einer empiri-schen Studie untermauert. Er untersuchte die Handlungspraxis schulischer Steuer-gruppen. Diese Gruppen seien in Sachen Schulentwicklung die zentralen Akteure, etwa 40 Prozent aller Lehrer der Sekundarstufe seien im Schuljahr 2004/05 in

Steu-31 ergruppen tätig gewesen. Dies zeige, dass einerseits jene Gruppen eine immense Be-deutung für die Schulentwicklung hätten, andererseits aber zu beobachten sei, dass sie alltäglich unaufgeklärten Widersprüchen ausgesetzt seien, deren immanente Lo-gik nicht hinreichend erforscht sei. Vor diesem Hintergrund geht er der Frage nach, (a) wie sich Steuergruppen in schulischen Strukturen verorten und (b) welche Orien-tierungen ihre Handlungspraxis bestimmen.5 Die Arbeit von Steuergruppen führe häufig in ein Dilemma, da jene Gruppe zwischen dem Misstrauen des Kollegiums (man könnte sich absondern und hierarchisch über dem Kollegium verorten und als Agent der Schulleitung Macht auf das Kollegium auszuüben versuchen) und dem Argwohn der Schulleitung (man agiere zugunsten des Kollegiums und verweigere der Schulleitung die Gefolgschaft) laviere und letztlich in eine Zwickmühle gerate:

„Damit stellt sich für die Steuergruppen dieses Dilemma als eines der Akzeptanz dar, das durch die Hierarchieproblematik erzeugt wird und deshalb (…) als Hierar-chiedilemma bezeichnet wird. (Schröck 2007: 164) Von dieser Analyse ausgehend gelangt Schröck zu der Schlussfolgerung, dass jenes von Lortie formulierte Autono-mie-Paritäts-Muster „als Erklärungsmuster für Hierarchiedilemmata von Steuer-gruppen herangezogen werden [kann]“. (ebda.:167). Das Misstrauen des Kollegiums resultiere nämlich aus dem (vermeintlichen oder tatsächlichen) Ansinnen der Steuer-gruppen, Einfluss auf das unterrichtliche Geschehen auszuüben, was die Unabhän-gigkeit des einzelnen Lehrers wie auch die Gleichheit der Lehrer untereinander in Frage stelle (ebda.: 166 f). So kommt Schröck in seinen weiteren Überlegungen zu dem Schluss, dass die Steuergruppen keinesfalls ein neutrales Gremium darstellen, sondern selbst schon Teil der Reform seien, die innerhalb der Schule allen beteiligten Akteuren erst vermittelt werden muss, weil jene Gruppe grundsätzlich nicht auf eine allseits akzeptierte Verortung im hierarchischen Gefüge einer Schule verweisen kön-ne (vgl. ebda.: 164).

„Damit fehlt ein formaler Rahmen für die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Sache; das Kon-strukt ‚Schulentwicklung’ – verbunden mit äußerst komplexen Ansprüchen – wird für die

5 Die Fragestellung allein lässt schon erkennen, dass der einzelne Lehrer in dieser Studie nicht der Untersuchungsgegenstand ist, sondern immer die gesamte Steuerungsgruppe. Diese Entscheidung ist auf die dokumentarische Methode zurückzuführen, nach der von der Annahme auszugehen ist, dass sich soziale Praxis immer im konkreten sozialen Kontext bzw. Setting konstituiert, demzufolge dies auch der Ort sei, an dem die Praxis empirisch zu untersuchen sei. Konsequenter Weise erfolgte die Datenerhebung mit Hilfe des Gruppendiskussionsverfahrens. Trotz der „kollektivistischen“ Perspekti-ve auf den Akteur Lehrer gelangt der Autor zu erhellenden Ergebnissen, die hier berücksichtigt wer-den sollen.

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pen somit nicht fassbar. Dies führt letztlich zu einer Verschärfung des strukturellen Konfliktfeldes.“

(ebda.:164)

Wenn man nun von Schröcks Ergebnissen ausgeht, dann wird offenbar schon die Gründung einer Steuerungsgruppe als Teil einer Reform bezeichnet. Und so wird deutlich, wie eng innerhalb der Schule die Aktionsräume für Veränderungen gesteckt sind, wie geringfügig eine Veränderung sein kann, damit die Reformer an die institu-tionellen Grenzen stoßen, wo doch in der Sache noch gar nichts sich verändert hat.

Schröck hat also mit seiner Studie gezeigt, wo die Schwierigkeiten der Akteure lie-gen, die ihr Terrain gegen die Reformer verteidilie-gen, weil das Kollegium offenbar meint, es müsse das Muster der Parität und damit seinen Status verteidigen. So wird deutlich, dass das Verlangen, die Parität zwischen den Kollegen solle erhalten blei-ben, einem reformerischen Bemühen im Wege stehen könne.6 Zu ähnlich wider-sprüchlichen Ergebnissen kommt auch Esslinger in einer quantitativen Studie. Sie stellte bspw. fest, dass etwa 70 Prozent von insgesamt 400 befragten Realschulleh-rern bezüglich kollegialer Zusammenarbeit eine positive Einstellung äußerten, doch zugleich sähen 55 % aller Lehrer in genau jenem Falle eine Entwertung ihrer Arbeit (vgl. Esslinger 2002: 205 ff). Auch hier wieder kann man also zu der Schlussfolge-rung gelangen, dass Kooperation zwischen Lehrern immer dann an ihre Grenzen kommt, wenn das eigene professionelle Selbstverständnis bzw. die eigene hierarchi-sche Position in Frage zu stellen ist (vgl. Schönig 2003). Umgekehrt formuliert be-deutet das: Weist man einzelnen Lehrern eines Kollegiums Reformaufgaben zu, so muss das Paritätsmuster aufgebrochen werden, damit jene Reformer erfolgreich ar-beiten können. Lehrer in der Rolle als Reformer ihrer Schule sind damit selbst schon Gegenstand der Reform. Die Kollegen müssen sich in ihrem Selbstverständnis und in ihrem Verhältnis zueinander neu bestimmen. Mit dieser Perspektive auf den Reform-prozess wird aber – ähnlich wie in Bezug auf die Autonomiedebatte – die Pädagogik selbst dethematisiert. Auf der Agenda stehen pädagogische Entwicklungsaufgaben,

6 Einerseits untersucht Schröck die Strukturen, innerhalb derer Steuerungsgruppen agieren. Anderer-seits wird dabei auf der Grundlage von Lortie bloß theoretisch erörtert, nicht aber empirisch beleuch-tet, warum die anderen Kollegen, die an der Arbeit der Steuergruppen nicht teilgenommen haben, hemmend auf die Steuergruppen einwirkten. Unbeabsichtigter Weise wird also durch Schröcks Studie deutlich, was also des Pudels Kern ist - wie bedeutsam es nämlich sein kann, die individuellen Deu-tungsmuster der Kollegen zu untersuchen, um das Handeln derjenigen besser zu verstehen, die mit ihrer Blockadehaltung die offenkundig wirkmächtigen Akteure im Reformprozess darstellen (vgl.

Böhmann/Hoffmann 1999).

33 doch bevor diese Aufgaben in Angriff genommen werden, schiebt sich vor diese das Problem eines beruflich bedingten Verhaltensmusters, mit dem die Bearbeitung der Reformaufgabe behindert oder gar blockiert wird. Es sind aus Schröcks Perspektive also vor allem die Lehrer selbst, die einer Reform im Wege stehen. Das ist die eine Lesart der Forschungsergebnisse.

Diese Lesart ist aber an eine implizite Voraussetzung gebunden: Man kann nur dann von einem Dilemma – also einem unauflösbaren Widerspruch ausgehen – wenn Lehrer nicht dazu in der Lage wären, allen Hemmnissen zum Trotz und im Interesse pädagogischer Reformarbeit eine höhere Vernunft walten zu lassen. Sie müssten zu einem bedeutenden Anteil des Gesamtkollegiums bornierte Charaktere sein, die unreflektiert und unfähig zur Distanzierung von sich selbst auf ihre Position insistieren würden, und zwar in einer Art, mit der sie ein Konstitutivum ihrer Profes-sionalität in Frage stellen würden: als Pädagogen sich zu einer besseren Pädagogik zu verpflichten. Geht man aber genau von dieser Unvernunft und Borniertheit aus, die implizit mit Schröcks Analyse unterstellt wird, dann ist diese erklärungsbedürf-tig.

Denn eine andere Lesart könnte sein, das Verhalten der Lehrer als ein Interes-sen- und Statuskonflikt zwischen den Kollegen der Steuerungsgruppen einerseits und den „Normalkollegen“ andererseits zu deuten. Das wäre dann ein Konflikt zwischen machtlosen Reformern und machtvollen Verteidigern der Routine. Machtlos sind die Reformer, weil sie den Rest des Kollegiums von der Richtigkeit eines Wandels nur diskursiv überzeugen können, diese aber den Diskurs ablehnen, weil sie mit ihm den Paritätsverlust befürchten. Und machtvoll sind die Verteidiger der bestehenden Rou-tine, weil sie wissen, dass eine Reform, die keine Insellösung sein soll, auf ihre Un-terstützung angewiesen ist. So ist Überzeugungsarbeit zu leisten, es sind Aushand-lungsprozesse erforderlich, Koalitionen zu bilden und Kompromisse zu schließen.

Oder man begegnet einander tolerant und versteht Reformen als vielgestaltige Maß-nahmen, die einen Pluralismus innerhalb des Kollegiums repräsentieren. Reformen einer Schule, durch Lehrer initiiert, entwickelt und in die Tat umgesetzt, können demnach nicht verstanden werden als eine technokratische Maßnahme, die allein aufgrund einer ihr unterstellten Rationalität bei allen Beteiligten Akzeptanz erfährt und zur Umsetzung gebracht wird. Deshalb ist die Schlussfolgerung, es bestehe

zwi-34 schen den Mitgliedern einer Steuerungsgruppe (den Progressiven) und den „Normal-kollegen“ (den Konservativen) ein Dilemma, kaum nachvollziehbar, wo es doch tat-sächlich um Konflikte zwischen verschiedenen Fraktionen geht, die sich mit dem Paritätsmuster verschärfen, die aber nicht deshalb als unlösbarer dargestellt werden können, weil sie unter erschwerten Voraussetzungen gelöst werden müssten. Mit Schröcks Analyse wird ein Bild von Lehrern vermittelt, mit dem ihr Verhalten als Regression bewertet und zugleich entschuldigt wird. Als Regression wird es darge-stellt, indem Lehrer als bornierte Akteure dargestellt werden, die nur innerhalb ihres Paritätsmusters konstruktiv handeln können und deshalb zu Einsicht und höherer Vernunft im Interesse der Sache der Pädagogik nicht in der Lage sind. Entschuldigt wird ihr Verhalten damit, dass der „Normalkollege“, der nicht in der Steuerungs-gruppe mitarbeitet, auf dieses Muster verpflichtet wird. Das von Schröck konstatierte Hierarchiedilemma erfordert aus kritischer Perspektive genauere Aufklärung, weil mit dem Paritätsmuster und dem daraus resultierenden Hierarchiedilemma nicht er-klärt werden kann, warum Lehrer als dem Anspruch nach professionelle Pädagogen sich mit ihrem Verhalten gegen pädagogische Interessen stellen, also gegen das, was im Kern ihr professionelles Selbstverständnis ist oder zumindest sein müsste. Dass sie das Interesse sozialer Parität derart in den Vordergrund stellen, ist an die Voraus-setzung einer Fragmentierung ihrer professionellen Identität gebunden. Darüber auf-zuklären, ob man von einem derartigen Bild der Lehrer implizit ausgehen darf, wird in dieser Studie zu klären sein.