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9 DISKUSSION

9.4 Moderatorvariable Temperament des Kindes

Ausgehend von der Temperamentstheorie Rothbarts und der Emotionsentwicklungs-theorie Sroufes (vgl. Kap. 4.2) wurde angenommen, dass die bereits sehr früh vorhandenen Fähigkeiten zum positiven und negativen Affektausdruck eng mit der kognitiven Entwicklung verbunden sind. Ein Blick auf die Forschungsliteratur zeigte jedoch, dass es nur wenige Studien gibt, die die frühkindlichen Temperamentsmerkmale „positive Emotionalität“

und „negative Emotionalität / Irritierbarkeit“ über Verhaltensbeobachtungen in standardi-sierten Situationen und nicht in der Mutter-Kind-Interaktion oder über Fragebögen im Mutterurteil erfassten. Verhaltensbeobachtungen in standardisierten Situationen haben jedoch den Vorteil, dass sie nicht mit mütterlichen Merkmalen konfundiert sind, sondern unverzerrte und valide Messungen darstellen (vgl. Kap. 4.2; Pauli-Pott, 2001, S. 167). Weiterhin gibt es unter den Verhaltensbeobachtungsstudien kaum solche, die diese Temperamentsmerkmale bereits vor dem sechsten Lebensmonat untersuchten. Die vorliegende Studie leistet somit einen Beitrag dazu, diese Forschungslücken zu füllen.

Zudem zeigt sich die Ergebnislage für die wenigen vorliegenden empirischen Forschungsarbeiten als äußerst heterogen. So wurden bei gesunden und zeitgerecht geborenen Kindern für beide Temperamentsmerkmale sowohl keine signifikanten

Zusammen-hänge mit dem späteren kognitiven Entwicklungsstand berichtet (z.B. Robinson & Acevedo, 2001; Halpern et al., 2001), als auch signifikant positive Zusammenhänge gefunden (z.B.

Olson et al. 1984; Robinson & Acevedo, 2001).

Auf dem Hintergrund dieser heterogenen Befundlage wurde auch in der vorliegenden Studie danach gefragt, ob die Temperamentsmerkmale positive und negative Emotionalität zur Vorhersage der kognitiven Entwicklung beitragen können. Es zeigte sich, dass die Temperamentsmerkmale allein keine bedeutsamen Prädiktoren darstellten, aber im Zusammenhang mit den mütterlichen Interaktionsvariablen durchaus kognitive Entwicklungs-unterschiede im frühen Kindesalter erklären konnten. Insbesondere das frühkindliche positive Temperament moderierte in statistisch bedeutsamer Weise den Zusammenhang zwischen den mütterlichen Verhaltensmerkmalen und dem 30-monatigen kognitiven Entwicklungsstand.

Nun stellt sich jedoch die Frage, weshalb die vor dem sechsten Lebensmonat erhobenen Temperamentsmerkmale allein keine Vorhersage leisten konnten. Im Literaturteil wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich für spätere Erhebungszeitpunkte und für andere Stichproben (heterogenere Stichproben, Stichproben mit Frühgeborenen, etc.) durchaus bedeutsame Zusammenhänge mit der kognitiven Entwicklung des Kindes finden ließen (vgl.

Kap. 4.2). Möglicherweise kommt hier zum Tragen, worauf Spangler und Zimmermann (1999, S. 183) hinwiesen: Dass sich nämlich Zusammenhänge zwischen Temperaments-merkmalen und kognitiven Fähigkeiten erst bei solchen Aufgaben zeigen, die das Kind deutlich überfordern. Das heißt, in Situationen, in denen es seine emotionalen Reaktionen regulieren muss, um zu einer Lösung zu gelangen. In der vorliegenden Studie wurden die frühkindlichen Temperamentsmerkmale zwar in einer für das Baby neuen Situation erhoben, trotzdem stellte der Bayley-Test keine Situation dar, in der die Säuglinge deutlich gestresst oder überfordert worden wären. Auf Situationen, die das Kind erschreckt oder deutlich gestresst hätten, wurde einerseits aus ethischen Gründen verzichtet und andererseits, um die Teilnahmebereitschaft der Mütter an der Studie nicht zu gefährden.

Die Ergebnisse zeigen, dass das Temperamentsmerkmal positive Emotionalität eine wichtige Moderatorvariable im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen mütterlichem Interaktionsverhalten und dem kognitiven Entwicklungsstand darstellt.

So prognostizierte die mütterliche Variabilität (4 Monate) nur bei den Säuglingen einen höheren kognitiven Entwicklungsstand, die im Alter von vier Monaten selten positive Emotionen zeigten. Bei Säuglingen, die häufig positiv gestimmt waren, ging

abwechslungsreiches Verhalten der Mutter im Säuglingsalter mit einem niedrigeren kognitiven Entwicklungsstand im Alter von 30 Monaten einher. Der Interaktionseffekt erreichte allein eine Varianzaufklärung von 16%!

Wie ist dieser Befund zu erklären? Möglicherweise trägt gerade bei selten positiv gestimmten Kindern ein abwechslungsreiches Verhalten der Mutter dazu bei, die Aufmerksamkeit aufrechterhalten zu können, wodurch erst Lernerfahrungen möglich werden.

Dagegen ist unter einer positiven Affektlage ein abwechslungsreiches Verhalten der Mutter nicht notwendig, um die Aufmerksamkeit aufrechterhalten zu können. Die vorliegenden Ergebnisse sprechen dafür, dass eine hohe mütterliche Variabilität sich bei positiv gestimmten Kindern sogar als nachteilig erweist. Vorstellbar wäre, dass bei den häufig positiv gestimmten Kindern ein sehr abwechslungsreiches Verhalten der Mutter dazu führt, dass der Säugling seine Aufmerksamkeit nicht mehr gut steuern kann, was sich wiederum negativ auf die Lernleistung auswirken könnte. Für letzteres sprechen auch jene Befunde, die zeigen, dass unter einer neutralen Affektlage die Lerngeschwindigkeit höher ist als unter negativen oder positiven Affekten (z.B. Rose, Futterweit & Jankowski, 1999).

Auch von der mütterlichen Reaktivität (12 Monate) profitierten nur die im Säuglingsalter selten positiv gestimmten Kinder. Dies verdeutlicht nochmals, dass Kinder, die hinsichtlich des frühkindlichen Temperamentsmerkmals positive Emotionalität günstiger eingeschätzt wurden, sich kognitiv nicht per se vorteilhafter entwickeln, sondern dass es auf die Passung zwischen mütterlichem Verhalten und kindlichem Temperament ankommt.

Auch das Temperamentsmerkmal negative Emotionalität / Irritierbarkeit moderierte den Zusammenhang zwischen mütterlichem Interaktionsverhalten und dem kognitiven Entwicklungsstand.

So profitierten die selten negativ gestimmten Säuglinge tendenziell in höherem Maße von der mütterlichen Reaktivität (4 Monate) als die häufig negativ gestimmten Säuglinge.

Dabei ist die viermonatige mütterliche Reaktivität sowohl bei den selten als auch bei den häufig negativ gestimmten Säuglingen positiv mit dem späteren kognitiven Entwicklungs-stand verknüpft. Ein vergleichbares Ergebnis konnte bisher in der Forschungsliteratur nicht gefunden werden. Möglicherweise machen die selten negativ gestimmten Säuglinge positivere Interaktionserfahrungen (und damit verknüpft auch positivere Lernerfahrungen) mit ihren Müttern als die häufig negativ gestimmten Säuglinge. Zu dieser Annahme führt der Befund, dass die viermonatige negative Emotionalität / Irritierbarkeit des Säuglings negativ mit der mütterlichen Reaktivität (4 und 8 Monate) assoziiert ist.

Das heißt, je weniger negativ / irritierbar sich der Säugling im Alter von vier Monaten zeigte, desto reaktiver verhielt sich die Mutter im Alter von vier und acht Monaten.

Weiterhin zeigten sich für beide Temperamentsmerkmale (tendenziell) signifikante Interaktionseffekte mit dem später erhobenen mütterlichen Steuerungsverhalten. Dabei profitierten insbesondere die Kinder von einem einfühlsamen und auf die Emotionen des Kindes Rücksicht nehmenden mütterlichen Steuerungsverhalten, die hinsichtlich ihrer frühkindlichen Temperamentsmerkmale als selten positiv im Emotionsausdruck oder aber als häufig negativ im Emotionsausdruck eingeschätzt worden waren. Einschränkend muss hier jedoch darauf hingewiesen werden, dass es sich bei diesen beiden Interaktionseffekten auch um methodische Artefakte handeln könnte, denn die Varianzaufklärungsbeiträge sind sehr hoch und liegen jeweils über 50%. Für diese Vermutung spricht, dass der Prädiktor mütterliche Steuerung zeitgleich mit dem Kriterium erhoben wurde, was höhere Zusammen-hänge begünstigt. Außerdem zeigten sich auf bivariater Ebene keine ZusammenZusammen-hänge zwischen den frühkindlichen Temperamentsmerkmalen und dem Steuerungsverhalten der Mutter im Alter von 30 Monaten. Zukünftige Forschung wird hier zu klären haben, ob die gefundenen Zusammenhänge auch dann noch bestehen bleiben, wenn das mütterliche Steuerungsverhalten hinsichtlich seiner Relevanz für später erhobene kognitive Entwicklungsindizes untersucht wird.

Abschließend wurde für die zwei signifikanten Interaktionseffekte (Temperamentsmerkmal positive Emotionalität und viermonatige mütterliche Variabilität bzw. 30-monatige mütterliche Steuerung) geprüft, ob sie den Verlauf der kognitiven Entwicklung prognostizieren können. Unter Berücksichtigung der vorhergehenden kognitiven Entwicklungsindizes zeigte sich der Interaktionseffekt „Baby positive Emotionalität x mütterliche Variabilität (4 Monate)“ weiterhin für die kognitive Entwicklung bedeutsam. Allerdings wird dieses Ergebnis, wie bereits ausgeführt wurde (vgl. Kap. 9.1), durch die geringe Prognostizität des viermonatigen kognitiven Entwicklungsparameters begünstigt. Der Interaktionseffekt „Baby positive Emotionalität x mütterliche Steuerung (30 Monate)“ leistete dagegen unter Berücksichtigung der vorhergehenden kognitiven Entwicklungsindizes keinen zusätzlichen signifikanten Beitrag zur Varianzaufklärung des 30-monatigen kognitiven Entwicklungsstandes.