6. Diskussion
6.1. Material und Methode
6.1.1. Untersuchungsgut
Die vorliegende Studie präsentiert die Fortsetzung einer vorangegangenen Studie, die zur Qualitätssicherung der durchgeführten Wurzelkanal-behandlungen in der Abteilung für Zahnerhaltung in den Jahren 1990 und 1991 durchgeführt wurde.
Bei dieser Arbeit werden Wurzelkanalbehandlungen untersucht, die vom Januar 1998 bis Dezember 2001 in der Abteilung für Zahnerhaltung zustande gekommen sind. Der Beobachtungszeitraum beträgt hier also vier Jahre. Dies bedeutet, dass die Untersuchungen der Wurzelkanalbehandlungen um zwei Jahre verlängert wurden, was eine größere Anzahl an behandelten Zähnen und eine Erweiterung der Datenbank mit sich bringt.
Das Ziel der Durchführung dieser ähnlichen Studie ist eine interne Qualitätssicherung der Abteilung. Die konservierenden Behandlungen der Abteilung bilden einen Bereich, in dem der größte Teil der Tätigkeiten von Studenten in unterschiedlichen Ausbildungsgraden durchgeführt wird. Weiterhin behandeln aber auch approbierte Zahnärzte und Fachspezialisten, die zusätzlich intensiv bei den Studentenbehandlungen als Betreuer der Studentenkurse mit integriert sind. Es kann also behauptet werden, dass das Ergebnis und die Erfolgswahrscheinlichkeit der von den Studenten behandelten Zähne auch durch die Kompetenz und die Qualität der Betreuung der Aufsichtsperson - sei es ein approbierter Zahnarzt oder ein Fachspezialist der Abteilung - mit beeinflusst wird. Aus diesem Grund ist es sinnvoll und interessant, in regelmäßigen Abständen zur Qualitätssicherung der unterschiedlichen Behandlungsabläufe Studien mit ähnlichen Schwerpunkten durchzuführen.
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Der bleibende Zahn wird in der vorliegenden Studie als die kleinste Untersuchungseinheit betrachtet. Ausgeschlossen von der Studie sind Milchzähne. Da Milchzähne physiologisch im Laufe der Zeit verloren gehen, würden diese bei der Bestimmung der Überlebenswahrscheinlichkeiten Probleme bereiten und zu unrealistischen Ergebnissen führen. Außerdem ist das Prinzip der Milchzahn-Endodontie generell ein Anderes. Alle übrigen Zähne sind für die Beurteilung geeignet. Falls bei einem Patienten mehrere Zähne behandelt werden, wird jeder Zahn einzeln betrachtet. Revisionen, die in dem Beobachtungszeitraum der Studie an einem bestimmten Zahn durchgeführt wurden, sind als ein eigener Fall bewertet.
Weitere Ein- bzw. Ausschlusskriterien werden nicht festgelegt, so dass auch Zähne mit komplizierten Wurzelverhältnissen und komplizierter Wurzelanatomie, wie zum Beispiel starken Krümmungen der Wurzeln, Obliterationen oder apikalen Stopps, sowie Weisheitszähnen und Revisionen im Nachuntersuchungsgut enthalten sind. Damit enthält diese Arbeit einen nicht unerheblichen Anteil von Zähnen, die in anderen Studien aufgrund definierter Ausschlusskriterien gar nicht erst mit einbezogen werden [Heling und Tamshe 1970, Barbakow et al. 1981, Löst et al. 1995].
6.1.2. Datenerhebung
Die Datenerhebung bei der vorliegenden retrospektiven Studie erfolgt lediglich anhand der vorhandenen Patientenkarten und des Röntgenbuchs der Abteilung für Zahnerhaltung der Philipps-Universität Marburg. Diese befinden sich je nach Datum der letzten Behandlung bei den aktuellen Akten direkt in der Abteilung oder im Archiv.
Anhand der vorhandenen Röntgenbilder wird bei jedem Patienten die Auswertung bezogen auf den apikalen Zustand des Zahnes, die Länge der Wurzelfüllung und die Qualität der Kondensation durchgeführt. Bei jedem Patienten ist eine Röntgenkontrollaufnahme vorhanden, die nach dem
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Abschluss der Wurzelkanalbehandlung gemacht wird. Es handelt sich zum größten Teil um digitale Röntgenbilder.
In der weiteren Auswertung werden keine erneuten Röntgenbilder benötigt. Hier werden im Gegensatz zu einer vorhandenen Studie von Sjögren et al. keine weiteren Differenzierungen bezüglich einer möglicherweise bestehenden parodontalen Läsion untersucht [Sjögren et al. 1990].
Daten wie das Geschlecht, das Geburtsdatum und das Alter des Patienten zum Zeitpunkt der Wurzelfüllung werden lediglich zur Analyse des Patientenklientels erhoben.
Der Zahntyp dient zur Aufschlüsselung der untersuchten Zahngruppen.
Außerdem wird dieser Faktor bei einer nachfolgenden Fehleranalyse der von den Spezialisten durchgeführten Behandlungen als Einflussparameter herangezogen.
Zur Bestimmung des prätherapeutischen Zustands des zu behandelnden Zahnes werden folgende Daten erhoben:
- Der Vitalitätszustand des Zahnes anhand von Kälteproben - Die Beschwerdesymptomatik
- Der periapikale Zustand (PRI-Grad)
- Eine Revision oder eine initiative Behandlung
Die Daten Länge und Kondensation werden anhand der vorliegenden Röntgenbilder erhoben und sind für die Beurteilung der Gesamtqualität einer Wurzelkanalbehandlung von Bedeutung.
Bestimmte Parameter wie das Füllmaterial, die Aufbereitungstechnik und die medikamentöse Spülung während der Kanalaufbereitung werden in der vorliegenden Studie nicht gesondert untersucht. Da diese Daten während des gesamten Untersuchungszeitraums einheitlich und gleichbleibend sind, findet keine weitere Auswertung diesbezüglich statt.
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Im Rahmen der Studie werden zwei unterschiedliche Materialien als medikamentöse Einlage für die Wurzelkanalbehandlungen verwendet. Dies wird ebenfalls in der Studie berücksichtigt.
6.1.3. Wahl der kleinsten Untersuchungseinheit
In der vorliegenden Arbeit wird der Zahn als die kleinste Untersuchungseinheit definiert. Sie stimmt mit der Untersuchungseinheit einiger vergleichbarer Studien überein. [Damaschke et al. 2003, Stoll et al. 2005]. Diese Einteilung erscheint gegenüber der von anderen Autoren [Kerekes und Tronstad 1979, Sjögren et al. 1990, Hoskinson et al. 2002] gewählten Unterteilung nach
‘Wurzelkanälen’ sinnvoller, da ein möglicher Misserfolg nicht immer sicher einer Wurzel bzw. einem Kanal zugeordnet werden kann. Außerdem kann auch ein Misserfolg an nur einer Wurzel im schlimmsten Fall zum Verlust des ganzen Zahnes führen.
Das Vorhandensein eines hohen Anteils erfolgreich behandelter mehrwurzeliger Zähne kann möglicherweise zu einer positiven Beeinflussung der Ergebnisse führen, wenn die Wurzel als kleinste Einheit für eine Studie gewählt wird [Löst et al. 1995].
Mit 1260 Wurzelkanalbehandlungen liegt die Anzahl der untersuchten Zähne in der vorliegenden Studie jedoch deutlich über der einiger anderer Arbeiten (siehe Tabelle 21).
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Autor Jahr Anzahl Untersuchungs-
einheit Untersuchungs- zeitraum Kerekes
und Tronstad
1979 501 Wurzel 3-5 Jahre
Sjögren et al. 1990 849 Wurzel 8-10 Jahre
Rocke et al. 1997 485 Zahn 10 Jahre
Fritz und Kerschbaum
1999 847 Zahn 9 Jahre
Peak et al. 2001 406 Zahn <3 Jahre
>3 Jahre Hoskinson et al. 2002 489 Wurzel 4-5 Jahre
Cheung 2002 566 Zahn 74 Monate
Damaschke et al.
2003 190 Zahn 10 Jahre
Stoll et al. 2005 914 Zahn 10 Jahre
vorliegende Studie
2010 1260 Zahn 10 Jahre
Tab 21: Anzahl der untersuchten Zähne in der Literatur
6.1.4. Definition von Erfolg und Misserfolg
Bei der vorliegenden Untersuchung werden die Kriterien für Erfolg und Misserfolg einer Wurzelkanalbehandlung vor Beginn der Studie ausschließlich nach Aktenlage folgendermaßen festgelegt:
- Als Erfolg im Sinne der Überlebensstudie werden alle Wurzelfüllungen aus dem Zeitraum 1998-2001 gewertet, die sich zum Zeitpunkt der zuletzt vorhandenen Befunderhebung noch in ihrer ursprünglichen Form in situ befanden.
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- Als Misserfolg wird jegliche Intervention an der jeweiligen Wurzelfüllung (ganz oder teilweise Revision) bzw. am Zahn (Hemisektion, Wurzelspitzenresektion, Extraktion) gewertet.
Da in der internationalen Literatur der Erfolg einer Wurzelkanalbehandlung grundsätzlich unterschiedlich definiert ist, sollten die Ergebnisse der vorliegenden Studie interpretiert und mit den verschiedenen Ergebnissen anderer Arbeiten kritisch verglichen werden. Der Erfolg einer Wurzelkanalbehandlung kann sowohl im endodontischen Sinne [Hellwig et al.
1982, Sjögren et al. 1990, Löst et al. 1995], als auch im Sinne einer Überlebensstudie [Rocke et al. 1997] betrachtet werden und es bestehen gravierende Unterschiede zwischen den beiden Methoden. Die gewählten Kriterien für Erfolg und Misserfolg im Sinne dieser Überlebensstudie sind im Vergleich zu einigen anderen Arbeiten, die den Behandlungserfolg als solchen analysieren [Sjögren et al. 1990, Peak 1994, Friedman et al. 1995]
verhältnismäßig weit gefasst. Das wichtigste Erfolgskriterium bei der vorliegenden Studie ist der Bestand des wurzelkanalbehandelten Zahnes zum Zeitpunkt der Untersuchung, ohne auf die eventuell vorhandenen subjektiven Beschwerden des Zahnes, den röntgenologischen Zustand der apikalen Region oder parodontale Probleme zu achten. Solange sich der Zahn zum Untersuchungszeitpunkt in seiner ursprünglichen Form in situ befindet, gilt die Behandlung auch als erfolgreich. In einer klassischen Nachuntersuchung zur Evaluation z.B. einer bestimmten Behandlungsmethode, wäre eine Wurzelfüllung, welche Beschwerden bereitet, als Misserfolg klassifiziert worden [Peak 1994]. Dies erklärt den positiven Einfluss auf die Erfolgszahlen der vorliegenden Studie im Vergleich zu anderen Arbeiten.
Einen positiven Einfluss auf die Ergebnisse hat auch die Tatsache, dass zum Zeitpunkt der Untersuchung die periapikale Region röntgenologisch nicht mit dem Ausgangsbefund verglichen wird. Dadurch werden mögliche Veränderungen der periapikalen Region zum Negativen nicht erfasst, solange sie klinisch stumm verlaufen. Andere Studien berichten von schlechteren
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Erfolgsergebnissen, da bei diesen Arbeiten ein röntgenologischer Vergleich vorgenommen wird [Hellwig et al. 1982, Löst et al. 1995, Friedman et al. 1995].
Ein negativer Einfluss auf die Ergebnisse kommt zustande, da in dieser Studie nicht unterschieden wird, aus welchem Grund eine Extraktion erfolgt. Die Extraktion eines wurzelkanalbehandelten Zahnes kann nicht nur endodontische Ursachen haben, sondern auch aus parodontalen oder traumatologischen Gründen erfolgen.
Einige Studien führen die Gruppe ‘unvollständige Heilung’ bzw. ‘teilweiser Erfolg’ auf [Peak 1994, Löst et al. 1995, Friedman et al. 1995]. Im Hinblick darauf, dass besonders aus Sicht der Patienten ein vollständiger Erfolg angestrebt werden sollte, wird auf die Kategorie ‘teilweise erfolgreich’ völlig verzichtet.
6.1.5. Statistik
In vielen kontrollierten klinischen Studien wird die Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen anhand der Zeit bis zum Auftreten eines bestimmten Ereignisses beurteilt. Dabei kann es sich um ein positives, ein neutrales oder ein negatives Ereignis handeln. Ganz unabhängig von der Wertung des Ereignisses wird in der Medizin allgemein von Überlebenszeitanalyse gesprochen. Das charakteristische dieser Überlebenszeitanalysen ist, dass die Zeitvariable nicht zu einem festen Zeitpunkt erhoben werden kann. Das heißt, dass es zu Beginn einer Studie unbekannt ist, wann das Ereignis eintritt. Darüber hinaus muss am Ende des Beobachtungszeitraums das Ereignis nicht eingetreten sein. Es wird dann von einer zensierten Beobachtungszeit gesprochen. Zensierung kann auch dadurch entstehen, dass die Untersuchungseinheit in der Beobachtung verloren geht. Eine Zensierung ist auch durch das Eintreten eines konkurrierenden Risikos möglich [Ziegler et al. 2007].
Simuliert man diese Methode, wird bei der vorliegenden Studie die Wirksamkeit verschiedener Faktoren auf den Erfolg einer Wurzelkanalbehandlung anhand
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der Zeit bis zum Auftreten eines Ereignisses (Misserfolg) oder einer Zensierung (Erfolg) beobachtet. Eine Zensierung kann aber auch dadurch entstehen, dass keine Folgeuntersuchungen stattfinden (da der Patient nicht mehr erscheint) oder dass der Zahn aus einem anderen Grund extrahiert wird (was bei der vorliegenden Studie nicht gesondert untersucht wird). Im Rahmen dieser Überlebenszeitstudie werden Patienten in einem bestimmten Zeitraum (1998-2001) also nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt rekrutiert und über einen bestimmten Zeitraum hinaus mindestens nachbeobachtet (Zeit der Datenerhebung). Aufgrund der kürzeren Nachbeobachtungszeit hat die zuletzt rekrutierte Person eine geringere Wahrscheinlichkeit, dass bei ihr das Ereignis eintritt. Da bei der Methode nach Kaplan-Meier keine festen Intervalle vorausgesetzt werden, bietet sie sich für derartige Untersuchungen an. Stoll et al. berichten 1999, dass bei zahnmedizinischen Studien die initiale Verlustrate in der Regel sehr klein sei. Besonders bei zensierten Daten sei die Aussagekraft über einen kurzen Zeitraum gering, wodurch sich Überlebensuntersuchungen besonders für lange Nachuntersuchungszeiträume eignen. Eine große Anzahl früh auftretender zensierter Daten führe zu einem hohen Standardfehler der Langzeitüberlebensergebnisse, sowie einer Unterschätzung der Überlebenswahrscheinlichkeiten [Davies 1987].
Bei der gewählten Methode werden für jedes Ereignis (Verlust der Wurzelfüllung) die entsprechenden Überlebenswahrscheinlichkeiten berechnet [Kaplan und Meier 1958]. Für den Gesamtbeobachtungszeitraum werden dabei die einzelnen Überlebenswahrscheinlichkeiten zu sogenannten kumulativen Überlebenswahrscheinlichkeiten zusammengefasst.
Über die Kaplan-Meier Kurve hinaus werden weitere statistische Verfahren benötigt, mit denen es möglich ist, formale Tests in zwei Gruppen durchzuführen. Hierzu eignet sich der Log-Rank-Test. Besonders in Verbindung mit einer großen Menge zensierter Daten ist dieser Test sehr aussagekräftig.
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