Teil I: Philosophische Grundzüge der Leib-Seele-Diskussion

2 Historischer Abriss

2.9 Leibniz

Seine Monadologie ist eine kühne Synthese von Philosophie und Wissenschaft. Sie entstand als Resultat seiner kritischen Auseinandersetzung mit Descartes, Spinoza, den Okkasionalisten und seiner eigenen Arbeit im Bereich der Logik, Mathematik und Physik. In Anknüpfung an Euklid, der unter monas einen Punkt im geometrischen Raum verstand, meint Leibniz mit Monade eine ausdehnungslose unteilbare individuelle Einheit, die jedem von uns als res cogitans unmittelbar gegenwärtig ist: das eigene Bewusstsein. Die unendliche Fülle dieser Monaden bildet die Substanz des Universums. Jede Monade spiegelt mehr oder minder deutlich das gesamte Universum aus ihrer punktuellen Perspektive, und das gesamte Universum hat primär subjektiv-geistige Natur, die jede Monade auf ihre Weise nach außen projiziert und als intersubjektive Körperwelt wahrnimmt.

Jede Monade ist „fensterlos“, d. h. ohne kausalen Kontakt zu anderen Monaden. Aber alle Monaden sind durch den ursprünglichen Schöpfungsakt in „prästabilierter Harmonie“ synchronisiert. In der Außenprojektion unserer inneren Wahrnehmung erscheint jeder Körper aus unendlich vielen Monaden zusammengesetzt. Im menschlichen und tierischen Körper bestimmt jeweils eine oberste Monade die individuelle Perspektive, und jeder Körper ist eine unendliche Hierarchie von immer feineren Organen, Organellen, Mikroorganellen usw., die jeweils über ihre oberste Monade eine zunehmend dunkle, beschränkte Perspektive nach außen projizieren. Dieser Abstieg lebender Mikroorganismen geht unendlich weiter und unterscheidet gottgeschaffenes Leben von menschengeschaffenen Maschinen. Daher ist Leibniz Panpsychist wie Spinoza, aber kein Pantheist; Schöpfer und Schöpfung sind deutlich verschieden. Und Spinozas einzige Substanz ist bei Leibniz unendlich atomisiert.

Aber wie steht es mit der cartesianischen Spaltung? Die atomisierte res cogitans ist gewiss. Dem heutigen Leser stellt sich die Frage, welchen Realitätsgrad die res extensa für Leibniz hatte. Ist jeder physische Körper an sich aus unendlichen vielen punktuellen Monaden zusammengesetzt, oder erscheint er nur so? So weit ich Leibniz verstehe, behauptet er nirgends das erste, nur das zweite. Und mir scheint, das hängt mit einem der beiden „Labyrinthe“ zusammen, die Leibniz mehrfach als Grundmotive seiner Arbeit nennt: das Labyrinth des mathematischen Kontinuums und das Labyrinth der menschlichen Freiheit. Leibniz identifiziert ähnlich wie Descartes Physik mit Geometrie, und ein geometrisches Kontinuum, z. B. eine Strecke, ist unendlich teilbar, ohne dass wir je auf einen Punkt, d. h. eine Strecke der Länge 0 stoßen. Denn würden wir je auf einen Punkt stoßen, so ergäbe ihre Addition nie eine Strecke der Länge > 0 . Dies gilt buchstäblich für

jede Art von Zahlen, mit denen man „Punkte“ auf der Strecke markiert, nicht nur für die reellen Zahlen, die die Physiker gewöhnlich verwenden, sondern sogar für die infinitesimalen Zahlen, die die Mathematiker erst seit ungefähr 1960 einigermaßen verstehen.57 Kurz gesagt, vom Kontinuum einer Strecke zum Punkt auf dieser Strecke führt ein bis heute rätselhafter Gedankensprung über alle denkbaren mathematischen Verfeinerungen des Zahlbegriffes hinweg. Dieser Sprung hat Leibniz, der zeitgleich mit Newton die Differential- und Integralrechnung begründete, intensiv beschäftigt und ihn, wenn ich es richtig sehe, zur Auffassung geführt, dass die absolut unteilbare ausdehnungslose Monade an sich res cogitans ist und nur durch Außenprojektion als Teil der res extensa erscheint, aber dort nicht ist.

Wichtig zum Verständnis der Monade ist Leibnizens Idee einer universellen logisch-ontologischen Idealsprache, die er zweihundert Jahre vor Beginn der modernen Logik konzipierte. In dieser utopisch gebliebenen Sprache ist jede Monade durch die unendliche Konjunktion ihrer essentiellen Grundprädikate vollständig und eindeutig bestimmt. Und da Gott nichts Überflüssiges erschafft und nichts unnötig verdoppelt, unterscheiden sich verschiedene Monaden in mindestens einem Prädikat. Jede Monade hat ihr einzigartiges Schicksal, ihren besonderen Zweck in der besten aller möglichen Welten; jede entwickelt sich rein intern aus ihrem unendlichen idealsprachlichen Begriff, den nur Gott vollständig kennt. Für ihn sind alle Wahrheiten notwendig, denn er überblickt die möglichen Kombinationen der unendlich vielen Grundprädikate, daher auch alle kombinatorisch möglichen Monaden und Welten, und er konnte nur die bestmögliche Welt erschaffen.

Dies führt ins zweite „Labyrinth“ der menschlichen Freiheit. Aus Gottes Perspektive gibt es sie nicht. Aber der Mensch durchschaut nur einen winzigen Teil der göttlichen Kombinatorik, und in seinem eigenen Doppelperspektive ist er zutiefst paradox frei und unfrei: Subjektiv, von innen als res cogitans handelt er stets final, auf das gegenwärtig Beste ausgerichtet; objektiv, von außen als res extensa, verhält sich sein Körper stets kausal im Sinn der Physik. An diesem Paradox hat sich seit Leibniz bis heute nichts geändert; subjektiv handeln wir selbst, objektiv sind wir Automaten :58

„Wenn im Organischen nichts anderes als Maschine ist, d. h. bloße [nackte] Materie,

57 Nämlich seit der Nonstandard Analysis von A. Robinson.

58 Zitiert nach Dennett 2007, S.16.

die Verschiedenheiten des Orts und Gestalt hat, dann kann nichts anderes daraus abgeleitet und erklärt werden als der Mechanismus, d. h. genau die gerade genannten Verschiedenheiten. Denn aus irgendeiner als nackt betrachteten Sache kann nichts abgeleitet und erklärt werden, außer den Verschiedenheiten ihrer konstitutiven Attribute. Daher können wir auch leicht urteilen, dass weder in einer Mühle noch in einer Uhr, als nackt betrachtet, ein Prinzip entdeckt werden kann, das wahrnimmt, was in ihm geschieht. Und es liegt nichts daran, ob das, was in der Maschine ist, feste oder flüssige [Körper] sind oder aus beiden zusammengesetzte. Ferner wissen wir, dass zwischen groben und feinen Körpern kein wesentlicher Unterschied besteht, außer in bezug auf ihre Größe. Daraus folgt, dass falls man nicht begrifflich erfassen kann, auf welche Weise in irgendeiner groben Maschine, die aus flüssigen oder festen Körpern zusammengesetzt ist, die Wahrnehmung entsteht, man ebenso nicht begreifen kann, auf welche Weise in einer feineren Maschine Wahrnehmung entstehen kann, denn wenn auch unsere Sinne feiner wären, wären es die Dinge auf gleiche Weise, ebenso, wenn wir eine grobe Maschine wahrnehmen würden, wie wir es gerade tun.“

Geändert hat sich nur dies: Leibniz versteht die Korrelation

- subjektiv finales, vernünftiges Handeln im Sinn des persönlichen - mehr oder minder sublimierten - Glück-Schmerz-Prinzips

- objektiv kausales, blindes Verhalten im Sinn der unpersönlichen Physik

als prästabilierte Harmonie und notwendige göttliche Fügung, während uns diese Gewissheit seit Darwin gründlich abhanden gekommen ist.

In document Das Leib-Seele-Problem in der Motologie (Page 64-67)