Teil 3: Empirische Analyse
6 Der Untersuchungsraum: Sachsen-Anhalt
6.1 Kurzbeschreibung des Landes und seiner politischen
Die Territorialgeschichte Sachsen-Anhalts ist sehr kurz, die Kultur- und Wirt-schaftsgeschichte des Gebiets hingegen traditionsreich und alt.150 Als Bun-desland – und damit territorialgeschichtlich – entstand Sachsen-Anhalt aus der ehemaligen Provinz Sachsen und dem ehemaligen Herzogtum bzw.
Land Anhalt 1946 auf Anordnung der sowjetischen Besatzungsmacht. 1952 wurde es im Zuge der Zentralisierungbestrebungen der DDR bereits wieder aufgelöst und ging im wesentlichen in den Bezirken Halle und Magdeburg auf. 1990 wurde es neugegründet, um am 3. Oktober 1990 – gemeinsam mit den Ländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Thüringen und Berlin-Ost – der Bundesrepublik Deutschland beizutreten.
150 Die folgenden Ausführungen stützen sich im wesentlichen auf Tullner (1994) und (1996).
Karte 1: Sachsen-Anhalt
Sachsen-Anhalt, mit einer Fläche von 20.446 km², gehört zu den mittelgroßen deutschen Flächenländern wie Hessen oder Sachsen und ist damit das acht-größte Flächenland, gemessen an der Bevölkerung ist es das neuntacht-größte.151 Von der Besiedlung her gehört es zu den am dünnsten besiedelten Räumen Deutschlands (136 E/km²) und liegt sowohl weit unter dem Bundesdurch-schnitt (228 E/km²) als auch unter dem Mittel der neuen Bundesländer (144 E/km²). In diesem Zusammenhang zeigt sich aber auch ein deutliches Süd-Nord-Gefälle: Im Norden zählt der Landkreis Altmark mit 54 E/km² zu den am dünnsten besiedelten Regionen Deutschlands, nach Süden, wo die industriellen Schwerpunkte des Landes liegen, steigt die Bevölkerungsdichte in den Landkreisen bis auf 235 E/km² (Kreis Bitterfeld) an, in den Kernstädten Halle und Magdeburg liegt sie sogar über dem Bundesdurchschnitt und ist deutlich höher als in den entsprechenden westdeutschen Städten gleichen Typs. Allerdings liegt für die besiedelten Verdichtungsräume der beiden Städte wegen des nur schwachen Umlandes keine Bevölkerungskonzentration vor, wie sie für westdeutsche Agglomerationen üblich ist.152 Kennzeichnend ist vielmehr – nicht nur für Sachsen-Anhalt, sondern für alle ostdeutschen Bundesländer – das Fehlen von Ballungsräumen (vgl. Tabelle 4). Der seit Anfang der 90er Jahre in Gang gekommene Suburbanisationsprozeß dürfte allerdings langfristig dazu führen, daß sich die Dichte in Kernstädten und Umlandkreisen verändert, allerdings ohne daß sich das Bevölkerungspotential erhöhen wird.153
151 Alle bevölkerungsbezogenen Angaben in diesem Abschnitt entnommen aus: lfd. Jahr-gänge „Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland“.
152 Verdichtungsräume West: 507 E/km²; Ost: 353 E/km² (1992). Vgl. Bundesforschungsan-stalt für Länderkunde und Raumordnung (1995: 14).
153 Vgl. Franz (1995: 7ff) und Nord/LB (1998).
Tabelle 4: Anzahl der Kreise nach Regionstypen des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung nach Bundesländern
Land/Region Typ 1 Typ 2 Typ 3 Typ 4 Typ 5 Typ 6 Typ 7
Sachsen-Anhalt 0 0 7 9 0 6 2
Brandenburg 0 11 0 4 0 0 3
Mecklenburg-Vorpommern 0 0 0 3 0 0 15
Sachsen 0 18 5 0 6 0 0
Thüringen 0 0 0 13 1 9 0
Neue Länder 0 29 12 29 7 15 20
Alte Länder 81 40 56 54 30 51 15
Typ 1: Hochverdichtete Agglomerationsräume (Oberzentrum >100 000 Einwohner und Umland-Dichte > 300 E/km2), Typ 2: Agglomerationsräume mit herausragenden Zentren (Oberzentrum > 100 000 E und Umland-Dichte <300 E/km2, Typ 3: Verstädterte Räume höherer Dichte (Dichte > 200 E/km2), Typ 4: Verstädterte Räume mittlerer Dichte mit großen Oberzentren (Dichte 100-200 E/km2 und Oberzentrum >100 000 E), Typ 5: Ver-städterte Räume mittlerer Dichte ohne große Oberzentren (Dichte 150-200 E/km2 und ohne Oberzentrum > 100 000E), Typ 6: Ländliche Räume höherer Dichte (Dichte >100 E/km2), Typ 7: Ländliche Räume geringerer Dichte (Dichte < 100 E/km2).
Quelle: Rosenfeld et al. (2001: 179).
Wirtschaftsgeschichtlich ist die Entwicklung besonders seit ca. 1860 bedeut-sam. Ab dieser Zeit schloß die Region an den Industrialisierungsprozeß auf, was maßgeblich mit der industriellen Verarbeitung von Zuckerrüben zusam-menhing. Durch die Braunkohleindustrie entstand neben der Chemie- auch die Maschinenbau- und Kaliindustrie, die seither das Profil der Industrie-region prägen. Die Umweltverschmutzung der auch als „Chemie-Dreieck“
bekannten Region zwischen Halle, Bitterfeld und Merseburg war zu DDR-Zeiten enorm und verlieh der Gegend ein äußerst problematisches Image.
Die Hälfte der Chemieproduktion und ca. zehn Prozent des gesamten Indus-trieproduktionswerts der DDR wurden in dieser Region erbracht (vgl. For-schungsschwerpunkt Marktprozeß und Unternehmensentwicklung 1999: 13).
Nach der Öffnung der Märkte 1990 erwies sich, daß die Produktionsanlagen den westlichen Standards nicht standhalten konnten, was zu einer Deindu-strialisierung der Region geführt hat. Heute fällt die Industriedichte, d.h. die Zahl der Industriebeschäftigten im Bergbau und Verarbeitenden Gewerbe154
154 Nur Betriebe mit 20 und mehr Beschäftigten.
je 1.000 Einwohner, in Sachsen-Anhalt mit nur 50 Beschäftigten je 1.000 Ein-wohner lediglich knapp halb so groß aus wie in Westdeutschland (vgl. Crow, Junkernheinrich & Skopp 1997: 43).
Zu DDR-Zeiten wurde die Wirtschaftsstruktur des heutigen Sachsen-Anhalt klar von drei Bereichen dominiert: der Chemischen Industrie im Raum Halle, dem Schwermaschinenbau im Magdeburger Raum sowie der Kupfergewin-nung im Mansfelder Land. Auf der im November 1958 abgehaltenen Che-miekonferenz wurden das Chemieprogramm der DDR sowie die Vernetzung der DDR-Chemie mit dem „Rat der Gegenseitigen Wirtschaftshilfe“ (RGW) beschlossen. Dies führte zum rücksichtslosen Ausbau der Chemischen Indu-strie mit katastrophalen Folgen für die Umwelt und gipfelte darin, daß Bitter-feld zu einem der verschmutztesten Orte der Welt wurde. Die Magdeburger Region, ursprünglich ein Landwirtschaftszentrum von weltweiter Bedeutung, wurde als Standort für den Schwermaschinenbau profiliert. Das „Schwerma-schinenkombinat Ernst Thälmann“ (SKET) wurde zum größten seiner Art.
Das Mansfelder Land war vom Kupfer- und Kaliabbau geprägt und mit über 50.000 Mitarbeitern das größte Kombinat der DDR überhaupt. Die Hinterlas-senschaft der DDR für Sachsen-Anhalt ist vor allem gekennzeichnet durch Umweltschäden größten Ausmaßes sowie durch eine Wirtschafts- und Be-schäftigtenstruktur, die den Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft in die soziale Marktwirtschaft besonders erschwert hat. In Kapitel 6.3 werde ich auf die heutige Wirtschaftsstruktur und den erreichten ökonomischen Entwicklungsstand eingehen, in Kapitel 6.4 werde ich die Entwicklung des Arbeitsmarkts nachzeichnen. Zuvor jedoch werde ich die politische Entwick-lung anhand der Ergebnisse der drei bislang abgehaltenen Landtagswahlen präsentieren.
Die erste sachsen-anhaltische Landtagswahl vom 14.Oktober 1990 führte im Ergebnis zu bemerkenswert hohen Anteilen für die CDU - wie überall in Ost-deutschland.155 Mit knapp 40 % lag sie weit vor den anderen Parteien (vgl.
Tabelle 5). Die SPD wurde zwar zweitstärkste Kraft im Land, konnte jedoch
155 Ausführlich dazu vgl. Crow im Druck.
nur ein Viertel der Stimmen auf sich vereinen. Ein weiteres unerwartetes Er-gebnis war das Abschneiden der Freien Demokraten, die drittstärkste Kraft im Land wurden. Ihr mit über 12,4 % ungewöhnlich hoher Anteil wird allge-mein durch den sogenannten Genscher-Effekt156 erklärt. Dieser wird beson-ders in Halle, der Geburtsstadt des damaligen Parteivorsitzenden und Au-ßenministers, deutlich, wo es den Liberalen fast gelang, stärkste politische Kraft zu werden. Knapp hinter den Liberalen wurde die PDS mit landesweit 12,1 % viertstärkste Partei. Mit 5,3 % schaffte es das Bündnis 90 nur knapp in den Magdeburger Landtag. Der Anteil der Nicht-Wähler lag bei etwas mehr als einem Drittel. Im Ergebnis der ersten Landtagswahl bildeten CDU und FDP eine Koalition. Der Regierung stand zunächst Gerd Gies (CDU) als Mi-nisterpräsident vor.
Tabelle 5: Wahlergebnisse bei Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt - (Angaben in Prozent) -
CDU SPD FDP B‘90/
Grüne PDS DVU
LTW 1990 39,0 26,0 13,5 5,3 12,0 -
LTW 1994 34,4 34,0 3,6 5,1 19,9 -
LTW 1998 22,0 35,9 4,2 3,2 19,6 12,9
Quelle: Statistisches Landesamt Sachsen-Anhalt
Im Ergebnis der Landtagswahl von 1994 wurde die CDU zwar wieder stärk-ste Fraktion (34,4 %); ihr Vorsprung vor der SPD (34,0 %) war jedoch mit 0,4 Prozentpunkten denkbar knapp (vgl. Tabelle 5). Drittstärkste Kraft wurde die PDS mit einem Fünftel aller Stimmen. Bündnis 90/Die Grünen gelang wieder der Einzug ins Landesparlament, allerdings nur äußerst knapp (5,1 %). Mit 3,6 % der Stimmen verpaßten die Liberalen klar den Wiedereinzug in den Landtag und erlitten nach dem zweistelligen Ergebnis von 1990 herbe Stim-menverluste. Rückläufig war ebenfalls die Wahlbeteiligung, die 1994 bei ins-gesamt 55,8 % lag. Reinhard Höppner (SPD) nutzte die „Koalitionsarithemik“
zur Bildung einer von der PDS tolerierten rot-grünen Minderheitsregierung
156 Die größte Stadt Sachsen-Anhalts, Halle, ist die Geburtsstadt des damaligen Parteivorsit-zenden der FDP und Außenministers Genscher.
(„Magdeburger Modell“) und entschied sich damit gegen die Rolle des „klei-nen“ Koalitionspartners in einer Großen Koalition.
Die dritte Landtagswahl in Sachsen-Anhalt fand als letzte Landtagswahl vor der Bundestagswahl 1998 statt. Sie ist neben anderem durch eine um 15 Prozentpunkte höhere Wahlbeteiligung gekennzeichnet, die mit über 70 % der Wählermobilisierung von Bundestagswahlen entsprach157. Die deutlich höhere Wahlbeteiligung führte unter anderem dazu, daß absolute Stimmen-zuwächse im Verhältnis weniger wogen. Am Beispiel der FDP ist dies am deutlichsten und – hypothetisch – besonders folgenreich zu erkennen: Abso-lut konnten die Freien Demokraten ihre Stimmen um knapp die Hälfte stei-gern, prozentual schlug sich das aber nur in einem Zugewinn von 0,6 Pro-zentpunkten nieder, womit der Wiedereinzug in das sachsen-anhaltische Landesparlament verfehlt wurde (vgl. Tabelle 5). Auch die Sozialdemokraten, die knapp 36 % der Stimmen erringen konnten und erstmals stärkste Frak-tion wurden, gewannen absolut mehr als ein Drittel an Stimmen hinzu. Ihr relativer Zugewinn lag jedoch nur bei 1,8 Prozentpunkten. Scheinbar paradox die Situation der PDS: sie gewann absolut knapp 70.000 Stimmen dazu, büßte aber mit 0,3 Prozentpunkten leicht ein. Die große Verliererin war die CDU. Mit einem erdrutschartigen Stimmenverlust von mehr als zwölf Pro-zentpunkten158 mußte sie den größten Verlust bei einer Landtagswahl seit Anfang159 der fünfziger Jahre hinnehmen. Die Christdemokraten erreichten 22 Prozent der Stimmen und wurde damit nur knapp vor der PDS zweitstärkste politische Kraft im Land. Die Bündnisgrünen büßten ca. zwei Prozentpunkte ihrer Stimmen ein160 und scheiterten damit erstmals in Sachsen-Anhalt an der Fünf-Prozent-Klausel. Mit knapp 13 % erzielte die DVU das beste Landtags-wahlergebnis einer rechtsradikalen Partei in der Nachkriegszeit.161 Auch 1998
157 Vgl. Infratest dimap (1998: 15).
158 Gemessen an den absoluten Stimmen der Vorwahl sogar über 15 Prozentpunkte.
159 Vgl. Infratest dimap (1998: 15).
160 Gemessen an den absoluten Stimmen der Vorwahl waren es 16 Prozentpunkte.
161 Zur Rolle der DVU in Sachsen-Anhalt vgl. Holtmann (1999).
kam es im Ergebnis der Landtagswahl zur Bildung einer von der PDS tole-rierten SPD-Minderheitsregierung unter Reinhard Höppner.
Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die CDU ihren zuerst hohen Stimmenanteil nicht verteidigen konnte und in Sachsen-Anhalt – entgegen dem Trend in den übrigen neuen Ländern – sehr hohe Verluste hinnehmen mußte. Anders die Entwicklung bei der SPD, die auf niedrigem Niveau ein-stieg und danach ihren Stimmenanteil ausbauen und halten konnte. Für die PDS gilt, daß sie nach einem vergleichsweise niedrigen Einstand zulegen und sich konsolidieren konnte. Die Marginalisierung von FDP und Bündnis-grünen liegt im Trend der neuen Länder. Besondere Beachtung verdient die Entwicklung der Wahlbeteiligung. Bei der zweiten Landtagswahl rückläufig, stieg sie bei der dritten Landtagswahl – auch wiederum entgegen den Trends in den übrigen neuen Ländern – deutlich an. Ob die politischen Entwicklun-gen Sachsen-Anhalts, namentlich der Regierungswechsel 1994, zu Verände-rungen bei der Ausgestaltung und Implementation der Gemeinschaftsaufga-be auf der LandeseGemeinschaftsaufga-bene führten, werde ich im nächsten Abschnitt eruieren.
6.2 Die sachsen-anhaltische Förderstrategie der