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Konkretes Beispiel

Im Dokument Ideologien der Ungleichwertigkeit (Seite 178-182)

Im folgenden Beispiel kann nachvollzogen werden, wie viel Anteil jeder Einzelne als Mitglied der Gesellschaft sowohl an der Hilfe als auch am Scheitern des Einzelnen haben und wie ein interdisziplinäres und interkulturelles Beratungsnetzwerk hier Abhilfe schaffen kann.

Ein junger Mann, im Folgenden Ahmet genannt, Anfang zwanzig und Sohn einer alleinerziehenden Mutter, traf in der U-Bahn auf einen Coach von 180°-Wende, der ihn flüchtig kannte. Der Coach fühlte sich für den Jugendlichen aus seinem Stadtbe-zirk zuständig und erkundigte sich nach seinem Wohlergehen. Ahmet war frustriert und sehr deprimiert. Im Gespräch kamen pauschale negative Äußerungen über die Gesamtgesellschaft zum Vorschein. So wiederholte er das Narrativ des «Kampfs der Kulturen» immer wieder: «Sie wollen gar nicht, dass wir irgendeinen Beruf bekom-men! Sie wollen gar nicht, dass wir es schaffen.» Dass er in so einem Zustand einen Coach antraf, der zufälligerweise aus demselben Kulturkreis stammte und noch recht-zeitig auf seine Sorgen und Bedürfnisse eingehen konnte, war die beste Möglichkeit,

9 Vgl. Berrissoun (2014): 399f.

10 Vgl. JubiGo e.V. (2014): 6

Erfolgreiche Jugendsozialarbeit im interdisziplinären und interkulturellen Team – Die 180°-Wende

ihm einen Halt in der Gesellschaft zu ermöglichen. Es wurde das Netzwerk aktiviert und das 180°-Wende-Team nahm sich vor, ihm auf vielfältige Weise zu helfen.

Zunächst luden wir ihn zu uns ein und interessierten uns für seine aktuelle Situ-ation und seinen Lebenslauf. Der junge Mann hatte eine zweijährige Odyssee hinter sich: Nach zahlreichen Bewerbungen und drei absolvierten Praktika, die aber nie zu einer Anstellung führten, versuchte er sein Glück letztendlich bei der Marine. Dort wurde er – weit weg von Familie und Freunden – Opfer von Mobbing durch seine Mitsoldat/innen. Seinen Gebetsteppich, den seine Mutter ihm mitgegeben hatte und der eher symbolische als religiöse Bedeutung für ihn hatte, fand er in Abständen immer wieder im Mülleimer. Er wurde als «Kameltreiber» und «Terrorist» beschimpft und konnte sich gegen diese Diskriminierung nicht wehren. Von Dienstaufsichtsbe-schwerden oder Anti-Mobbing-Stellen innerhalb öffentlicher Strukturen hatte der Betroffene keine Kenntnis und konnte dadurch auch seine Diskriminierungserfah-rungen nicht verarbeiten. Nach einer langen Zeit der Unschlüssigkeit und des Grü-belns entschied er sich, seinen Wehrdienst abzubrechen. Seine Fahrt nach Hause war vom Gefühl des Scheiterns begleitet.

Auf dem Rückweg traf es ihn aber noch härter: Auf einem Bahnhof wurde er von Polizeibeamt/innen kontrolliert. Sein Feldmesser wurde nicht richtig verschlossen in seiner Tasche vorgefunden. Das brachte ihm eine hohe Geldstrafe ein. Zuhause traf er auf seine Mutter, die über diese Vorkommnisse traurig war. Der Frust, den er in sich trug, und die freie Zeit, die er jetzt hatte, brachten ihn in Kreise von Sympathisant/

innen der radikalen Szene. Die erste Stufe auf dem Weg zur Radikalisierung war schon beschritten.

Durch unsere Arbeit konnten wir ihm wieder Halt geben. Er wurde in Beratungs-gruppen eingeladen und lernte andere junge Leute mit ähnlichen Problemen kennen.

Die Erkenntnis, dass man nicht alleine mit solchen Erfahrungen dasteht, ist für viele junge Menschen entlastend. Ältere Coaches halfen ihm u.a. bei der weiteren Berufs-wahl. So wurden seine Berufserfahrungen, die er bisher gesammelt hatte, in eine ansehnliche und ausführliche Bewerbung gepackt. Seine Gedanken und Vorurteile wurden mit ihm ausführlich diskutiert. Schließlich wurde er dabei unterstützt, sein Abitur nachzumachen und gleichzeitig eine technische Ausbildung zu absolvieren.

Inzwischen hat er sich wieder stabilisiert: Er hat neuen Mut gefasst und engagiert sich neben seiner Ausbildung auch für andere junge Leute im Netzwerk. Die 180°-Wende ist bei diesem jungen Mann im positiven Sinne gelungen. Voller Motivation startete er im August in das neue Schuljahr und wird weiterhin bei unserer Initiative eine Anlaufstelle für seine Sorgen und Nöte haben.

Dieses Beispiel ist eines unter vielen anderen, und es konnte hier – wie auch bei anderen – zu verschiedenen Anliegen die Expertise der Teammitglieder genutzt wer-den. In Bezug auf die Verbesserung der schulischen und beruflichen Situation wurde ein Coach in die Beratung einbezogen, der sich auf dieses Thema spezialisiert hat. Bei Radikalisierungstendenzen und der sich anbahnenden Nähe zu radikalen religiösen Gruppen brachte sich ein Coach mit fundiertem theologischem Wissen in den Aus-tausch ein. Er verdeutlichte ihm in aller Ausführlichkeit die Notwendigkeit, sich von

solchen falschen Gedanken bewusst zu distanzieren. Psychologische Beratung und Unterstützung ist das Fundament aller eingehenden Fälle in der Beratungspraxis.

Es konnte bisher vielen jungen Menschen geholfen werden, allein im Jahre 2015 waren es 465 Fälle in Nordrhein-Westfalen, die von 180°-Wende erfolgreich begleitet wurden. Es bedarf – wie bei 180°-Wende praktiziert – des aktiven Hinschauens und Helfenwollens, der Zusammenarbeit von Menschen unterschiedlichen Alters, unter-schiedlicher Herkünfte und Sprachen, unterunter-schiedlicher kultureller oder religiöser Prägungen sowie unterschiedlicher Professionalisierungsgrade, damit die Gesell-schaft, in der wir leben, von den jungen Menschen, die die Zukunft gestalten werden, erfolgreich getragen werden kann.

LITERATUR

Berrissoun, Mimoun (2014): Extremismusprävention im Frühstadium. Initiative 180-Grad-Wende als innovativer Lösungsansatz und Modelprojekt. In: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, August 2014, 7, 3: 389-401. Wiesbaden.

JubiGo e.V. (2014) (Hrsg.): 180-Grad-Wende -Aktivitätenbericht 2014, 1. Jahrgang. Köln.

JubiGo e.V. (2012) (Hrsg.): Projektkonzept 180-Grad-Wende (unveröffentlicht).

Ideologien der Ungleichwertigkeit

KAPITEL V

Ideologien der Ungleichwertigkeit

FRIEDEMANN BRINGT, BIANCA KLOSE UND MICHAEL TRUBE

Gemeinwesenarbeit und

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